- 8.4 - Das Stadion
Ein lautes Klopfen ließ Conny aus ihren Gedanken aufschrecken. Nachdem sie gerade mit ihren Eltern telefoniert hatte, fühlte sie sich noch schuldiger, die beiden anlügen zu müssen. Die Gewissensbisse nagten an ihr. Sie schluckte schwer und machte sich auf den Weg zur Tür.
"Entschuldige, dass ich dich so spät nochmal stören muss, aber ich wollte dir noch etwas geben." Fröhlich hielt Liam ihr zwei Briefumschläge entgegen. Verwirrt sah sie ihn an, nahm die Briefe jedoch an sich.
"Der eine Brief ist von Merkurij, einem deiner Kommilitonen", er lächelte sie aufmunternd an, "und in dem anderen Umschlag sind alle Dokumente für Maya, also Ausweis, Versicherungskarten und so." Sie nickte nur stumm.
"Außerdem wollte ich dir noch ein paar wichtige Hinweise geben, damit der ganze Plan auch in Zukunft funktioniert. Zuallererst ist es wichtig zu wissen, dass die Hologramme nur 57 Stunden halten, wie dir sicher schon bewusst ist. Du solltest deine Uhr daher immer wieder rechtzeitig aufladen. Zudem darfst du nicht vergessen, dein Hologramm immer dann auszuschalten, wenn du als du auftrittst, also zum Beispiel, wenn du mit Kommilitonen telefonierst oder dann in eurer Wohnung."
"Verstanden", entgegnete sie und schloss die Tür vor seiner Nase. Sie konnte sich jetzt einfach nicht mit ihm unterhalten, als wäre nichts passiert. Conny lehnte sich von innen gegen die Tür und sank zu Boden. Einzelne Tränen liefen ihr über die Wange, dann begann sie zu schluchzen.
Plötzlich hörte sie einen lauten Rumms, dicht gefolgt von einem zarten Klopfen. Conny vermutete, dass sich Liam auch gegen die Tür gelehnt hatte.
"Ich weiß, wie du dich fühlst. Es ist nicht immer leicht, die belügen zu müssen, die man liebt. Die Wahrheit kann unsere geliebten Menschen nicht immer beschützen. Die Realität ist am Ende auch nur eine Zusammensetzung von verschiedenen Sinneseindrücken, die Wahrheit kann wehtun. Sehr." Die Stimme von Liam hörte sie nur gedämpft durch die Tür hindurch.
Sie schaffte es einfach nicht, zu reagieren und vernahm kurze Zeit später aus dem Flur, dass Liam stöhnend aufstand. Sie vermutete, dass er jetzt gehen wollte, doch er äußerte sich noch ein letztes Mal: "Ich weiß, du willst jetzt nicht mit mir reden, aber wenn du soweit bist, bin ich da und höre dir zu."
Ω
Nervös zupfte sich Conny ihr oranges Sommerkleid zurecht. Gleich würde sie Isaac als Maya gegenübertreten. Sie hoffte so sehr, dass sie sich nicht verriet, denn sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie dann tun sollte.
"Mach dir keine Sorgen, das wird schon werden. Luna und ich stärken dir doch auch den Rücken, der Rotschopf wird schon nicht merken, dass du es bist", aufmunternd lächelte Laya ihr entgegen. "Außerdem hat mir Shawn erzählt, dass er zur Zeit sowieso nicht ganz auf der Höhe ist, seit das mit ... naja, du weißt mit wem passiert ist." Laya scrollte kurz auf ihrem Handy: "Wo wir gerade dabei sind, schau mal, was mir Shawn geschickt hat."
Voller Schadenfreude streckte sie Conny ihr Handy entgegen, auf dem ein Bild von Luc zu sehen war - Mit einem blauen Auge. Da musste sogar Conny lachen, obwohl sie Gewalt sonst nicht gut hieß, aber wie Luc auf dem Foto aussah war einfach göttlich. Man konnte genau sehen, dass er versuchte zu verhindern, dass Shawn ihn fotografierte, doch er war offensichtlich gescheitert. Man konnte allerdings auch in seinen Augen erkennen, dass er verletzt war.
"Was ist denn das?" Sie hatten Isaac gar nicht kommen hören und sahen nun in sein gekränktes Gesicht. Schnell zog Laya das Handy weg und steckte es zurück in ihre Tasche.
"Das solltest du eigentlich nicht sehen", murmelte Laya als Entschuldigung zu ihm rüber. "Jetzt habe ich es aber gesehen. Wer war das?", leicht wütend sah er sie jetzt an.
"Ich nicht, wirklich. Ich wäre ja gar nicht im Stande zu so etwas, Luc ist doch viel stärker als ich", gab sie ihm nur zur Antwort, "Und ich glaube auch einfach, dass Shawn dich nur beschützen wollte, er meinte, Luc habe sich nicht einmal gewehrt." Schulterzuckend tat sie das Gesprächsthema nun ab, doch Isaac war damit noch nicht ganz fertig und stieß laut die Luft aus.
Auf einmal drehte er sich zu Conny und wurde schlagartig freundlicher. "Hey", sagte schüchtern und hielt ihr die Hand hin, "Ich bin übrigens Isaac, und du?"
"Maya." Sie gab ihm daraufhin die Hand, um sie zu schütteln. Vorsichtig lächelte sie ihn an und hoffte, dass er ihre Aufregung nicht bemerkte.
"Laya und Maya... So so. Woher kennt ihr euch, wenn ich fragen darf?" Isaac zeigte zwischen Laya und Conny hin und her.
"Ähm, wir sind Cousinen...", sagte Conny ohne zu überlegen und hoffte einfach, dass er nicht weiter nachfragen würde. Sie wurde von Laya unterbrochen: "Ja genau und da sie hier bald studiert, habe ich ihr vorgeschlagen mit Luna zusammen zu ziehen, da sie ja auch eine momentan Wohnung sucht..."
Damit hatte sie sie gerade mächtig aus dem Schlamassel gezogen.
"Wo ist sie eigentlich?", lenkte sie die Gruppe vom Thema ab.
Schulterzuckend sah Isaac sich um, um daraufhin sein Handy aus seiner Hosentasche zu ziehen. "Ich schreibe ihr mal." Nach einer kurzen Pause erklärte er: "Sie müsste gleich da sein" und schob sein Mobilgerät wieder in die Gesäßtasche zurück.
Kurze Zeit später bewegte sich eine in schwarz gekleidete mit Kapuze verhüllte Person auf die Gruppe zu. Erst als sie sich ein paar Meter vor ihnen befand, erkannten sie, dass es sich um Luna handelte.
"Ah, da bist du ja", hörte Conny Isaac sagen, "Aber wieso hast du bei der Hitze eine Jacke an?"
Daraufhin krempelte sie einen Ärmel ihrer Jacke hoch und offenbarte ihre Markierungen. Connys Augen wurden groß. Sie waren wieder frisch! Sie wollte einfach nach dem Arm ihrer Freundin greifen und sie fragen, was sie gemacht hatte oder ob etwas passiert war, doch sie konnte nicht. Sie war nicht Conny, nicht für Isaac. Sie musste handeln, so wie es Maya tun würde, also starrte sie nur betroffen auf den Arm der Dunkelhaarigen.
"Wegen dem hier", sie zeigte dabei auf ihren Arm. "Und weil vielleicht Hinrichtungen von Begabten stattfinden, Isaac", sagte sie mit einem leicht gereizten Unterton und wandte sich Conny zu. Nun konnte Conny auch die dunklen Ringe, die sich unter ihren Augen abzeichneten, erkennen.
"Du bist dann Maya richtig? Ich bin Luna, schön dich kennenzulernen", sagte sie dann langsam und hielt ihr vorsichtig die Hand hin. Conny ergriff sie und nickte vorsichtig lächelnd. Wie sollte sie sie nur darauf ansprechen? Anscheinend ging es ihr noch immer nicht wirklich gut und das machte Conny Sorgen.
Eine riesige Karawane unterbrach jedoch ihre Gespräche und zog ihre Aufmerksamkeit darauf. Die gesamte Gruppe schaute sich verwirrt um. Was passierte hier?
Sie fuhren eindeutig in die Richtung des Cardiff Arms Parks. Gab es etwa eine weitere Hinrichtung? Diesmal jedoch war etwas anders als sonst. Mehrere Transporter fuhren die Straßen entlang und Regierungsmitarbeiter*innen ließen über deren Lautsprecher immer die gleiche Durchsage verlauten: "Finden Sie sich jetzt im Millennium Stadium ein."
Die Neugier trieb die Freundesgruppe an. Conny ließ ihren Blick durch die Menschenmenge schweifen. Dabei sah sie in ängstliche, verwirrte, neugierige, aber auch ausdruckslose Gesichter, achtete aber darauf, ihre Freunde nicht aus den Augen zu verlieren.
Nachdem sie einige Minuten gelaufen waren, kamen sie schließlich am Stadion an und stellten sich in die Schlange, die sich vor ihnen gebildet hatte.
"Was zum Teufel ist hier los?", zischte Laya genervt zu den anderen hinüber. Doch als Antwort bekam sie nur Schulterzucken und ahnungslose Gesichter.
Die ältere Frau, die vor ihnen stand, drehte sich nun um: "Honey, die kontrollieren dort vorne die Ausweise, ihr solltet eure schon einmal bereithalten."
'Ausweise. Verdammt, die kontrollieren die Ausweise', Conny sah zwischen Laya und Luna hin und her. Was sollten sie nur tun? Ihr Puls raste.
Sie rückten immer näher an den Kontrollpunkt. Ihr erster Instinkt war flüchten, aber sie kamen nicht aus der Reihe heraus. Links und rechts von ihnen standen Regierungsmitarbeiter*innen und schoben jede Person zurück, die es versuchte.
Als erstes war Laya an der Reihe. Vorbildlich hielt sie der Frau, die die Ausweise kontrollierte, ihren vor die Nase, bekam dann ein schwarzes Armband umgelegt und wurde dazu aufgefordert weiterzugehen.
Danach wurde Conny aufgerufen. Etwas nervös trat sie auf die Kontrolleurin zu. "Ausweis", knurrte diese ihr zu, weil sie nicht gleich reagiert hatte. Zitternd schob Conny ihren falschen Ausweis zu ihr hinüber. Nach einem kurzen Blick darauf, band die Frau ihr ein weißes Armband um und ließ Conny in das Stadion.
Beim Zurückschauen bemerkte sie, dass Luna wie ein erschrockenes Reh rückwärts ging und dabei gegen Isaac stieß. Beschützend legte er seine Hände auf ihre Schultern und schob sie behutsam nach vorne: "Entschuldigen Sie, meine Freundin hier ist etwas schüchtern." Er lächelte die Frau an. Diese nickte nur und sah dann die Ausweise der beiden an und legte ihnen ebenfalls Armbänder um.
Isaac nahm Luna an die Hand und zog sie zu Maya und Laya: "Wir sollten uns jetzt echt Plätze suchen, wenn wir schonmal hier sind. Vielleicht wird es ja ein gutes Spiel." Conny schätzte es sehr, dass er versuchte, die Stimmung zu lockern. Sie nickte zustimmend und sie schoben sich weiter durch die Menge, bis sie tatsächlich noch eine freie Reihe fanden, in der sich die vier nebeneinander setzen konnten.
Plötzlich stupste Laya sie an und deutete auf Connys Armband: "Weiß?"
"Maya ist Zivilistin."
Nach und nach füllten sich die letzten leeren Plätze, Platzordner*innen teilten Getränke wie Wasser oder Sekt aus. Das laute Murmeln der Menge verstummte, als ein Hologrammfeld in der Mitte des Feldes auftauchte. Das Hologramm des Premierministers trat vor: "Meine lieben Mitmenschen, ich bin höchst erfreut, dass sie heute und hier so zahlreich erschienen sind. Leider ist der Grund dieses Events ein sehr erschreckender, denn wiederholt haben sich Begabte gegen die Regierung und ihre Mitbürger*innen aufgelehnt. Als Folge dieser schrecklichen Taten hat die britische Regierung festgelegt, dass ab dem heutigen Tage jede*r Begabte, der/die sich gegen auflehnt öffentlich hingerichtet wird."
Ein Raunen zog sich durch das Stadion. Einige jubelten dem Premierminister zu, während andere laut begannen zu protestieren. Nur die Begabten saßen alle ruhig auf ihren Sitzen und starrten mit einem leeren Blick auf das Feld hinunter. Luna krallte ihre Hände in ihre Beine, während Laya die Luft anhielt.
Die Proteste schienen den Premierminister allerdings nicht weiter zu stören, denn er fuhr mit seiner Rede fort: "Um unseren Worten Taten folgen zu lassen, wird hier und jetzt die erste Hinrichtung stattfinden. Ich danke Ihnen." Mit diesen Worten trat er aus dem sichtbaren Hologrammbereich, in dem sich zeitgleich ein anderer Mann hineinbewegte. Der Bull Smasher. Ein breites Grinsen zierte sein Gesicht. Augenblicklich Luna zog scharf die Luft ein und stieß dann einen leisen Fluch aus.
Schließlich brachten sie einen Gefangenen in das Bild. Geschockt blickte sie ihn an. Ihre Beine begannen zu zittern und ihr Herz rutschte ihr in die Hose.
"Nein, das ist falsch, er ist unschuldig, er ...", der Kloß in ihrem Hals wurde immer größer.
"Maya, geht es dir gut?", Laya sah sie besorgt an. Conny vermochte es nur, ihren Kopf zu schütteln, denn sobald sie auch nur ein Wort sagen würde, würde sie anfangen zu weinen und das wollte sie hier unbedingt vermeiden.
"Der Verurteilte Louis Marshall hat sich wiederholt gegen die Regierung aufgelehnt und dann jegliche Kooperation verweigert. Somit wird er zum Tode verurteilt", überlegen sah der Bull Smasher auf ihn hinab. "Noch irgendwelche letzten Worte, Marshall?" Seine rauchige Stimme ließ Conny einen Schauer über den Rücken fahren.
Marshall richtete sich kerzengerade auf, sah den Bull Smasher an und sagte: "Ja, ich würde gerne etwas sagen." Dann drehte er sich zur Menge um. "Diese Worte würde ich gerne an meine Tochter richten."
Conny schnappte nach Luft und bemerkte im selben Moment, dass sie diese zuvor angehalten hatte. Besorgt sah Isaac zu ihr herüber, doch sie ignorierte ihn und rutschte in ihrem Sitz weiter nach vorne. Augenscheinlich waren folgende Worte an sie gerichtet.
"Maya", er räusperte sich und Conny wurde klar: Er meinte definitiv sie. "Erinnerst du dich noch daran, als wir an unserem Stammplatz im Park gesessen haben und den Kindern beim Versteckenspielen zugeschaut haben? Wie eines der Kinder sich so sehr im Kreis gedreht hatte, dass es nach einigen Metern umgekippt war und auf deine Torte gefallen ist?" Erneut machte er eine Pause und sie begann zu weinen, sie konnte die Tränen einfach nicht mehr zurückhalten.
"Maya, ich wünschte, wir hätten ..." Louis konnte seinen Satz nicht beenden, da der Bull Smasher ihm eine Kugel in den Hals gejagt hatte. Sofort drehte sie den Kopf weg von der grausamen Szenerie und bemerkte, dass das auch bei den meisten anderen Personen im Stadion der Fall war.
Conny bemerkte dabei nicht, wie Laya sich erschrocken an ihren Arm klammerte und Luna sich die Kapuze tiefer ins Gesicht zog. Dabei rutschte sie immer weiter in ihren Sitz, während Isaac sich die Hände auf die Augen presste, sodass er das schreckliche Geschehen nicht mit ansehen musste.
"Und nun, lasst uns alle anstoßen auf dieses glorreiche Ereignis!" Der Bull Smasher hob sein Sektglas, welches ihm eben gereicht wurde, in die Höhe und nahm einen großen Schluck. Vereinzelt taten es ihm Leute aus dem Stadion nach. Hämisch verteilte er den Rest seines Glasinhalts über der Leiche und lachte in einem dunklen, gehässigen Ton.
Der Schuss hallte noch immer nach.
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