Kapitel 6 - Aelia (ElsasInspiration)
Ich will ganz ehrlich sein, ich hatte etwas anderes erwartet. Als Boss einer Geister bekämpfenden Geheimorganisation hatte ich mir irgendwie, ich weiß nicht, einen alten, bärtigen Mann vorgestellt, vom Leben gezeichnet, mit Narben auf Körper und Seele. Ich stellte mir vor, wie er mich schon erwarten würde, hinter einem großen Schreibtisch sitzend, scheinbar in ein Buch vertieft doch in Wirklichkeit hatte er meine Anwesenheit schon als ich noch mehrere Meter, ach was, Kilometer entfernt gewesen war, gespürt. In seiner tiefen Manteltasche würde er ein Messer versteckt haben, um sich im Notfall vor Gefahren verteidigen zu können und sein Blick, mit dem er einen musterte, wäre genauso scharf und durchdringend wie die Klinge seiner Waffe. Na gut, ganz so detailgetreu hätte er ja nicht sein müssen, aber ich hatte irgendwie trotzdem jemand anderen erwartet, jemand... seriösen. Und erfahrenen.Aber das Mädchen, zu dem Clyde und sein Bruder mich gebracht hatten, war vermutlich sogar noch etwas jünger als ich. Und kaum dass Clyde die Tür zu dem Raum, in dem sie sich befand, öffnete, sprang sie von dem alten Tisch auf dem sie gesessen hatte, auf, stürmte auf ihn zu und warf sich ihm um den Hals.
„Clyyydeee", rief sie fröhlich, zog den Namen unnötig lang. „Da bist du ja! Wo zum Teufel warst du, ich hab mich SO UNGLAUBLICH gelangweilt."Ich stand einen Moment lang etwas blöd daneben. Als würde ich nicht zur Szene gehören.Dann drückte Clyde sie von sich.
„Ich war draußen, das weißt du doch", sagte er, zwar leicht genervt doch irgendwie auch ... liebevoll.
„Und ich hab jemanden mitgebracht."Sie sah neben ihn, sie sah mich an. Sichtlich verwirrt.„Wer ...?", setzte sie an, da fiel Clyde ihr ins Wort und wandte sich an mich.
„Mara, das ist Aelia, sie leitet unsere Organisation." Jetzt drehte er sich wieder zu ihr. „Aelia, das ist Mara. Ein Geist hat sie angegriffen und versucht, Kontrolle über ihren Körper zu erlangen und jetzt ... na ja, ist der Geist immer noch da."Urplötzlich wurden Aelias blaugrüne Augen ernst. Von einer Sekunde auf die nächste schien ein komplett anderer Mensch vor mir zu stehen. Sie musterte mich von Kopf bis Fuß, sah mir dann lange in die Augen.
„Willst du sagen ... zwei Seelen in einem Körper... so jemand ist mir noch nie begegnet in all dieser Zeit." Sie sprach mehr mit sich selbst als mit sonst jemanden. Es war, als würde sie mit ihren großen, jungen Augen alles in mir erkennen und aufnehmen, ich konnte nichts vor ihr verstecken. Das fühlte sich schrecklich an. Als könnte ich mit einem Mal nicht mehr atmen. Als nähme sie mir alles, sogar die Luft, die ich zum Leben brauchte. Am liebsten hätte ich mich irgendwo versteckt, irgendwo verkrochen, wäre vor ihr weggerannt. Dafür war ich allerdings zu vernünftig, ich wusste, ich konnte mich dem hier nicht entziehen indem ich verschwand.Stattdessen also wandte ich meinen Blick ab.
„Hallo", murmelte ich. Aelia runzelte zunächst die Stirn, was mir Angst machte. Es gab mir das Gefühl, sie sei sich nicht sicher, ob ich nicht doch eine Gefahr, ein Hindernis wäre. Es gab mir das Gefühl, sie könne mich jederzeit anspringen und ohne mit der Wimper zu zucken mein Genick brechen.Doch das tat sie nicht. Stattdessen lachte sie.
„Hallo!" Sie streckte mir ihre Hand entgegen und legte grinsend den Kopf schief.
„Ich bin, wie Clyde schon sagte, Aelia. Freut mich, dich kennenzulernen!"Und mit einem Mal war sie wieder das Mädchen von vorhin. Freundlich. Überdreht. Kindisch.Ich nahm ihre Hand.„Und ich bin Mara", sagte ich und lächelte zurück.
„Mara", wiederholte sie, probierte den Klang des Namens auf ihrer Zunge aus und nickte. „Ein schöner Name für einen besonderen Menschen. Weißt du, dass du ein unendlich besonderer Mensch bist, Mara?"Ich sagte nichts, denn kaum, dass sie eine Sekunde auf meine Antwort gewartet hatte, fuhr sie auch schon fort:
„Ich bin noch nie in meinem ganzen Leben jemandem begegnet, der den Angriff eines Geistes auf den eigenen Körper überlebt hat, oder anders, du bist denke ich, die erste, die jemals zwei Seelen besessen hat."Ich wollte erst widersprechen und einwenden, dass man kaum davon reden könnte, dass ich beide Seelen „besitzen" würde. Denn das tat ich mit Sicherheit nicht. Elerias Seele gehörte mir nicht und ich konnte sie auch nicht kontrollieren. Aber es war schier unmöglich, sie in ihrem Redeschwall zu stoppen.
„Und das bedeutet, du musst mir absolut ALLES erzählen, vom Anfang bis zum Ende, jedes Detail. Und überhaupt", sie drehte sich mit einem Mal wieder zu Clyde, ihre Augen verengt zu Schlitzen, ihre Stimme schneidend,
„Warum wurde sie erst jetzt zu mir gebracht?"
„Das war ...", setzte Clyde an, doch auch er hatte keine Chance.„Jetzt hör mir mal gut zu, Freundchen", zischte sie, deutete mit ihrem Finger auf Clyde, kam immer näher und schob ihn so mit jedem Wort weiter zurück und enger gegen die Wand hinter ihm.
„Hier unten leben Menschen. 47 Menschen, für die ich die Verantwortung trage. Und wenn jemand in unser Zuhause gebracht wird, muss man das SOFORT bei mir melden, BESONDERS, wenn dieser jemand sich unter bestimmten Umständen als Bedrohung für meine Schützlinge herausstellen könnte. Also wag es nicht, mich so unschuldig mit deinen dunklen Rehaugen anzusehen, wir wissen beide, das hier ist nicht das erste mal, das dir so etwas passiert. Aber, ich schwöre, wenn sich das noch einmal wiederholt, wenn du noch ein einziges Mal das Leben eines oder aller meiner Leute riskierst mit deinen Aktionen", sie machte eine kurze Pause, in der sie ihn einfach nur anstarrte, feindselig, vollkommen ernst, und als sie weitersprach, waren ihre Worte kalt wie der Tod,
„Dann fliegst du raus."Das ließ sie einen Moment in der Luft zwischen ihnen hängen. Dann trat sie von ihm zurück. „Verstanden, Clyde?"Clyde sah nicht verärgert oder peinlich berührt aus. Er sah wie jemand aus, der sich so eine Zurechtweisung schon sehr oft hatte anhören müssen. Es machte ihm nichts aus.
„Ja", sagte er nur.„Gut", meinte sie und erst jetzt schien sie den kleinen Balduin zu bemerken, der immer noch fröhlich lächelnd im Türrahmen stand. Augenblicklich lächelte auch sie wieder.
„Balduuiin!!", rief sie, hob den kleinen hoch (ja, irgendwo da in ihren dünnen Armen schienen sich also Muskeln zu verstecken), und drückte ihn fest an sich. „Ich hab dich ewig nicht gesehen, wie lange ist es her? Drei Tage?"
„Viel zu lange!", rief Balduin.„Wie recht du hast! Aber weißt du was, in der Zeit hab ich ein Bild für dich gemalt!"Balduin strahlte.
„Wirklich?"
„Ja! Willst du es dir ansehen?"
„Jaaa!"
Die beiden rannten zu ihrem Schreibtisch und ich stand wieder da wie bestellt und nicht abgeholt und fragte mich, wer von den beiden das Kind war.Clyde stellte sich neben mich und grinste.
„Tja Kleines, das ist Aelia, unser Boss."
„Sie ist ...", ich suchte nach dem richtigen Wort, doch konnte es nicht finden. Also sagte ich einfach: „... anders als ich sie mir vorgestellt hatte."Clyde lachte.
„Das kann ich mir denken. Das ist so ziemlich der erste Eindruck den sie auf jeden macht. Aber ich kann dir versichern, von jetzt an wirst du nur noch verwirrter und überraschter von ihr sein."Ich musste lächeln und sah den beiden dabei zu, wie sie sich über ein Bild auf Aelias Schreibtisch beugten und begeistert mit einem Stift kleine Details hinzufügten.
„Du ... ich meine, ihr scheint sie sehr gut zu kennen", sagte ich und überraschte mich selber damit.Von der Seite nahm ich war, wie Clyde eine Augenbraue hob.
„Balduin und ich kennen sie schon so ziemlich unser ganzes Leben, ja, stimmt", sagte er.„Heißt das, ihr habt schon immer hier unten gelebt?"
„Nicht immer", sagte er knapp. Irgendwie wusste ich, dass er mir indirekt ein Zeichen gab, nicht weiter nach zu fragen. Auch wenn ich sagen muss, es fiel mir schwer, ich wusste nicht genau warum. Aber ich wollte unbedingt mehr über ihn wissen. Ich ...
„Ach nein, wie niedlich."Ich drehte mich auf der Stelle um, sah überall umher, auch wenn das genausodämlich wie sinnlos war. Ich wusste, woher die Stimme kam und vor allem, wem sie gehörte.
„Was ist los?", fragte Clyde. Ich sah ihn an, sah in seine dunklen Augen, die mir aus irgendeinem Grund so viel Zuversicht schenkten. Vermutlich, weil ich das Gefühl hatte, schon so oft von ihm gerettet worden zu sein. Aber etwas hielt mich davon zurück, ihm zu sagen, was gerade geschehen war.
„Richtig. Denn vergiss nicht, Kleine, du bist eine Gefahr für die Menschen hier."Die Worte von Aelia hallten noch in mir wieder. BESONDERS, wenn dieser jemand sich unter bestimmten Umständen als Bedrohung für meine Schützlinge herausstellen könnte.Natürlich war mir klar, dass ich ungewöhnlich und vielleicht auch gefährlich war, doch das zu hören tat mir trotzdem etwas weh.Und ich konnte erahnen, wie Aelia reagieren würde, sobald ich erzählte, dass der Geist in mir mit einem Mal wieder mit mir sprach.
„Du musst ihr nichts sagen. Ich meine, du hast immer noch die Kontrolle über deinen Körper, oder nicht?"
„Mara?", fragte Clyde, etwas ernster, etwas besorgter.„Es ist nichts!", winkte ich lächelnd ab.
„Ich dachte nur ich hätte jemanden kommen gehört."Clyde drehte sich um und sah auf den Korridor, von dem wir gekommen waren. Und tatsächlich lief just in diesem Moment jemand dort entlang. Er drehte sich wieder zu mir.
„Hier leben viele Menschen, da brauchst du dich nicht bei jedem, der einmal vorbeiläuft so erschrecken, Kleines", sagte er amüsiert grinsend.
„Du bist hier sicher."„Genau, du bist sicher, Kleines. Todsicher."
„Maraa! Clyyydee!", rief auf einmal Aelia und ich sah überrascht auf. Sie lächelte glücklich, war immer noch das kleine, sorglose Kind. „Balduin hat mich daran erinnert, dass heute mein Geburtstag ist! Das müssen wir feiern!"Clyde verdrehte die Augen, aber er lächelte. Ich versuchte mir vorzustellen wie alt Aelia wohl war, ich schätzte sie auf jeden Fall jünger als mich ein.
„Außerdem musst du mir nun wirklich deine Geschichte erzählen, Mara, also los!" Sie sprang fröhlich jubelnd auf uns zu und zog uns auf den Korridor. Dabei sang sie:
„Vier, vier, vier, vierhuuundert-vierundvierzig, vier, vier, vier, vierhuuundert-vierundvierzig ~ "Ich lächelte und sah Balduin an, der hinter uns herkam und ebenfalls mit ihr sang.
„Ihr mögt wohl die Zahl vier?", fragte ich.Alle drei lachten. Aelia sah mich an.„Aber nein. Das ist mein Alter. Ich werde heute genau Vierhundert vierundvierzig Jahre alt."
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