Kapitel 26
„Guten Morgen", sagt Ella und fuchtelt mit der Hand vor meinem Gesicht herum. Ich gähne und strecke mich. Montagmorgen. Heute beginnt meine vierte Schulwoche hier.
„Morgen", nuschele ich.
Ich habe den Wecker verschlafen, Ella musste mich aus dem Bett holen. Da wir aber sowieso erst eine Stunde später als sonst Schule haben, weil wir nur alle zwei Wochen Ethik und Religionen haben, macht es zum Glück nicht so viel aus, dass wir uns zu sehr beeilen müssten. Ach ja, Ethik und Religionen: Miss Green hat meinen Aufsatz mit einem sehr gut kommentiert. Was bei ihr echt eine Glanzleistung ist, wie mir Ella versichert hat.
Ich schaue auf das Brötchen auf meinem Teller. Der Esssaal ist schon wieder so gut wie leer. An unserem Tisch sitzen nur Ella und ich.
„Hab keinen Hunger", sage ich und schiebe den Teller weg.
„Aber du musst was essen", sagt Ella, „Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit am Tag."
„Aber ich habe Bauchweh", murmele ich, was auch wirklich stimmt. Aber nicht etwa wegen Magenproblemen, sondern weil ich ganz einfach meine Tage haben. Wie ich den Zyklus, die Menstruation, doch hasse!
Aber diesmal ist es gut. So habe ich wenigstens eine halbwegs vernünftige Ausrede.
„Pfff, das kann jeder sagen", meint Ella.
Um sie zu beruhigen esse ich das Brötchen dann doch. Dann stehe ich auf.
„Wir haben noch eine Stunde Zeit", sagt Ella mit einem Blick auf die Uhr.
„Wie wärs mit Schlafen?", frage ich hoffnungsvoll.
Ella schüttelt energisch den Kopf.
„Dann bist du nachher nur noch müder."
Widerwillig stimme ich ihr zu.
„Was willst du dann machen?", frage ich.
Ella schaut mich, von einem Fuss auf den anderen tretend, unbehaglich an. „Also, naja, wenn es dir nichts ausmacht... ich würde mich gerne mit Mike treffen", gibt sie zu.
„Sagst du ihm endlich zu?", frage ich grinsend. Es geht zwar noch zwei Wochen bis zum Ball aber ich glaube nicht, dass sie noch allzu lange mit der Zusage warten wird, da sie Angst hat, dass Mike sonst eine andere fragt.
Ella nickt und errötet.
„Na dann, viel Spass", wünsche ich ihr und meine es auch ehrlich.
Ella nickt dankbar und eilt dann aus dem Saal. Ich gehe zur Theke, bringe den Teller zurück und gehe dann nach draussen. Was könnte ich machen?
Ich beschliesse, Jake zu suchen. Ich glaube, wir, Jake und ich, könnten richtig gute Freunde werden.
Auf dem Weg zum Schlafgebäude denke ich über gestern Nachmittag nach.
Ella hat mich und Nerdy in den Wald gezerrt. Dort hat sie drei Dämonen, alles von der schwächeren Sorte, wie sie betonte, aufgespürt. Zwei waren Erdler und einer war ein Windreiter. Der hat sich am meisten gewehrt und sogar gebissen. Ich schaue auf die kleinen Zahnabdrücke an meinem Finger. Auf jeden dieser Dämonen hat sie ein Pulver, Silberpulver, wie sie mir erklärte, gestreut. Die Dämonen sind bei der Berührung mit dem Pulver einfach verpufft. Als ich Ella fragte, wo sie seien, meinte sie, die Dämonen würden in der Hölle schmoren. Mit anderen Worten: Sie sind tot. Aber das war nicht einmal das schrecklichste. Das schrecklichste war, dass ich bei dem Gedanken nicht Abscheu oder Trauer empfand, sondern auf eine Art und Weise sogar Genugtuung fühlte.
Ich stosse die Tür von dem Gebäude auf, in dem die Schlafzimmer sind. Dann bleibe ich ratlos stehen.
Ich habe keine Ahnung, wo Jake's Zimmer ist. Ich will gerade losgehen, um zu suchen, als mir eine Stimme ins Ohr raunt: „Kann ich Ihnen behilflich sein, Mylady?"
Vor Schreck zucke ich zusammen und drehe mich wütend um. Jake krümmt sich vor Lachen.
„Ich fand es nicht witzig. Ich habe mich fast zu Tode erschreckt", bemerke ich wütend, was Jake nur noch mehr zum Lachen bringt. Dann richtet er sich auf und wischt sich über die Augen.
„Wollen wir zur Schule gehen?", fragt er, nach dem er sich wieder beruhigt hat.
„Ja klar. Aber um dann nicht zu früh da zu sein müssten wir ganz schön langsam gehen", erwidere ich und grinse ein wenig.
„Tut mir leid. Ich wollte dich nicht so erschrecken", meint Jake, als wir schon durch den Wald gehen. Allerdings kann ich seine Entschuldigung nicht wirklich ernst nehmen, da er immer noch Lachtränen in den Augen hat.
„Schon in Ordnung", sage ich und knuffe ihn in die Seite. Jake weicht flink zur Seite aus.
Er grinst, als er mein gespielt beleidigtes Gesicht sieht und fragt dann: „Wo ist eigentlich Ella?"
„Sie wollte Mike nicht länger warten lassen", antworte ich ihm.
„Hat mich schon gewundert, dass es so lange dauert. Mike hat mich auch schon gefragt, weshalb das so dauert. Normalerweise geht es nicht so lange."
„Normalerweise?"
„Ja. Das geht bei denen schon seit Jahren so. also genauer gesagt seit... etwa neunhunderttausend Jahren", sagt Jake.
„Du übertreibst", sage ich, „Und die beiden sind nie zusammengekommen?"
Jake schüttelt den Kopf. „Nicht richtig. Irgendetwas ist immer dazwischengekommen. Manchmal haben sie sich Jahre lang ignoriert. Das längste war, glaube ich, an die hundertfünfzig Jahre. Keine lange Zeit, aber trotzdem sind sie in den beinahe Millionen Jahren nie zusammengekommen."
„Keine lange Zeit?", frage ich sprachlos.
„Wir messen die Zeit anders als die Sterblichen. Wenn du nicht sterben kannst und ewig lebst, dann bedeutet für dich ein Tag irgendwann nichts mehr. Wirst schon noch sehen."
„Bin ich wirklich unsterblich? Irgendwie kann ich das nicht glauben... ich kann zwar nicht behaupten, ich sei damit aufgewachsen, mit dem Sterben meine ich, aber trotzdem..."
Jake starrt einen Moment in die Ferne. „Es tut mir ehrlich leid für dich. Bist du deswegen so ausgerastet am ersten Abend, als Mike dich nach deinem Alter gefragt hat? Ella hat es mir erzählt."
„Was? Ich bin gar nicht ausgerastet! Ich..." Von was spricht Jake?
„Ella hat mir erzählt, du seist weggelaufen", sagt Jake.
„Ich... Nein! Am ersten Abend... ich weiss doch auch nicht", sage ich und stapfe frustriert mit dem Fuss auf.
Jake sieht alarmiert aus. „Was weisst du nicht?", fragt er scharf.
„Keine Ahnung. Ich... der Abend...mein erster Abend hier... ich kann mich nicht erinnern. Ich sehe alles so verschwommen. Ich weiss, dass es ihn gab, aber ich habe keine Ahnung, was da passiert ist. Und... ich habe bisher gar nie darüber nachgedacht... ich erinnere mich nicht", sage ich.
„Du kannst dich an nichts erinnern?", fragt Jake nach.
Ich schüttele den Kopf. „Also nicht detailliert. Aber ich bin auf jeden Fall nicht ausgetickt!"
Jake schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Diese Scheissdämonen. Sie haben deine Erinnerung... manipuliert."
„Ach ja, und woher willst du das denn wissen?", frage ich kalt.
Jake zuckt zusammen. „Ja, wer soll es denn sonst gewesen sein?"
„Vielleicht wurde ich ja gar nicht manipuliert, sondern ihr versucht mir etwas einzureden, um mich auf eure Seite zu ziehen. Und sowieso, wie könnten die Dämonen mich manipulieren? Und wieso sollten sie?" Ich weiss nicht, woher die Worte kommen. Sie sind einfach plötzlich da. Nicht mit Absicht, nein. Es ist so, als würde ich die Worte selbst auch erst hören, sobald ich sie ausspreche.
„Das brauche ich ja gar nicht, du gehörst ja sowieso zu uns", schnaubt Jake und wird zunehmend wütend.
„Du weisst das ja so gut, hm? So wie du immer alles weisst", sage ich tonlos. Es fühlt sich nicht so an, als würde ich sprechen. Ganz und gar nicht. Eher so, also würde jemand anders die Worte in meinem Mund formen. Als wäre ich nicht ich sondern jemand anders. Als wäre ich nicht in meinem eigenen Körper. Scheisse, was ist das?
„Was meinst du damit?"
„Dass man dir nicht trauen kann. Glaubst du ernsthaft, dass das mit Lia ein Unfall war? Oder verdrängst du einfach die Erinnerung an das, was wirklich passiert ist? Der Grund, warum sie weg ist, bist ja wohl du!" Was ist bloss in mich gefahren? Weshalb sage ich solche Sachen? Was ist los?
Jake starrt mich an, für einen kurzen Augenblick weicht der Zorn einem Ausdruck der Verletzlichkeit, aber nicht lange genug, um sicher zu sein, dass ich mich nicht täusche.
„Weisst du was? Ich glaube, mein erster Eindruck von dir war gar nicht so daneben. Nur dass er ein wenig zu harmlos war", sagt Jake, dreht sich um und stapft zur Schule.
Wenn es nicht so ernst gewesen wäre hätte es lustig ausgesehen.
Ich sinke zu Boden. Was habe ich getan? Warum habe ich das gesagt? Und wer, zum Teufel, ist Lia? Was ist passiert? Ach scheisse! Was habe ich da bloss wieder angestellt!
Ein Tropfen landet auf meinem Kopf. Ein zweiter platscht auf meine linke Hand. Dann kommt ein dritter, ein vierter... das passt ja. Selbst das Wetter scheint schlechte Laune zu haben. Wieder einmal.
Ich stehe auf. Was soll ich tun? Ich kann jetzt nicht einfach so in die Schule marschieren und so tun, als wäre nichts gewesen! Und ausserdem habe ich ja auch bis zum Unterrichtsbeginn genug Zeit. Aber nein...danach... ich kann jetzt nicht einfach so in die Schule. Ich schwänze. Mein Entschluss steht fest. Aber wohin soll ich gehen? Bei schönem Wetter könnte ich ja was unternehmen, aber so...
Ich gehe zurück ins Internatsgebäude und schleiche mich leise auf mein Zimmer. Dort angekommen lasse ich mich aufs Bett fallen. Da erst wird mir bewusst, dass ich nicht allein bin. Auf dem anderen Bett sitzt Ti.
„Sind wir auch wieder mal zugegen?", frage ich. Den Respekt versuche ich zu verbergen. Den Respekt davor, was er ist.
Ti starrt mich lange nur an. Schliesslich sagt er: „Ach, komm, hör auf mit dem Quatsch."
„Was für einen Quatsch?", frage ich genervt.
„Ich weiss, dass sie dir diese ganze Scheisse erzählt haben."
„Dass du ein Menschenmörder bist? Allerdings", erwidere ich.
„Sie sind nicht besser."
„Das heisst: wir sind nicht besser, nicht sie. Und ich will keine Lügen mehr hören, also, lass mich bitte in Ruhe."
„Ja, klar. Ihr. Du gehörst für sie ja schon regelrecht zur Familie", sagt Ti spöttisch und stockt dann.
Diese kleine Pause genügt mir, um ihn anzufahren: „Hast du keine Schule? Du verpasst noch alles."
Ti lacht spöttisch. „Ich bin schon seit Jahren hier. Glaubst du ernsthaft, es gibt etwas, das ich nicht schon weiss?"
„Ja. Zum Beispiel Mal: Wie man menschlich sein kann."
„Ich bin aber kein Mensch", sagt Ti und steht auf.
„Ja klar, Dämon", sage ich, so kühl wie nur irgend möglich.
Ti faucht und entblösst dabei zwei spitze Eckzähne. „Hör auf, uns so zu nennen. Sonst..."
„Sonst was? Werde ich ein neuer Name auf einer Liste mit unzähligen Ermordeten?"
„Zeig Respekt. Du kannst nichts gegen mich tun. Und ausserdem könnte ich dir nie etwas antun", sagt Ti, aber das letzte ist so leise, dass es auch nur eine Einbildung sein könnte. Was es ziemlich sicher auch ist. Denn weshalb sollte er sowas sagen?
„Und ob ich das kann", entgegne ich wütend, „Du bist hier nicht der Chef. Du bist hier an einem Friedensort. Du darfst mir nichts tun."
Ti zieht eine Augenbraue hoch, lächelt und mach eine Handbewegung. Gegen meinen Willen stehe ich auf und gehe zu seinem Schreibtisch. Ich merke, wie ich die Hand hebe und die oberste Schublade öffne. Dort liegt ein Messer.
„Ich darf dir nichts machen. Aber wenn du dir selbst was antust..." ich höre das Grinsen in Ti's Stimme, ohne dass ich ihn ansehen muss. Gegen meinen Willen hebe ich das Messer auf und halte es gegen meine Kehle.
Nein. Ich will das nicht! Ich wehre mich und erstaunlicherweise gibt der Druck auf meiner Kehle nach.
Ich lasse das Messer sinken und drehe mich um. Ti sieht zufrieden aus.
„Also?", fragt er lässig.
„Du weiss, dass ich nicht sterben kann. Was willst du, Dämon?", frage ich, wobei mir das letzte Wort gegen meinen Willen über die Lippen rutscht.
Ti funkelt mich zornig an.
„Dämonen. So heissen die Höllenkreaturen, als die wir in der Bibel beschrieben sind. Einfach lächerlich", zischt Ti.
„Ich habe bis jetzt noch nicht viel Gutes von euch gehört", gebe ich zurück.
„Du bist auch nicht von uns unterrichtet worden. Du bist von parteiischen Möchtegern-keine-Ahnung-was aufgeklärt worden. Schon klar, haben die nur negative Aspekte benutzen", meint Ti verächtlich.
„So? Was ist denn mit dem Krieg? Soll das kein Rachefeldzug sein?", frage ich skeptisch.
„Jetzt fang doch nicht gleich mit schwierigen Themen an", sagt Ti kopfschüttelnd und setzt sich wieder hin.
„Was ist daran denn schwierig?"
„Der Krieg hat noch eine andere Geschichte. Lillia's Geschichichte. Nur sie, Adam und Eva wissen, was damals vorgefallen war. Doch Lillia ist gefangen und Adam und Eva sprechen nicht mit uns."
„Und du bist der Boss von eurer kleinen Gruppe, oder wie?", frage ich und kann einen leichten Spott in der Stimme nicht unterdrücken.
„Wenn du es so nennen willst, ja. Also besser gesagt bin ich einfach Lillia's Stellvertreter."
„Und der hat die Erlaubnis, den Krieg neu zu entfachen?", frage ich.
„Wann begreifst du es endlich? Der Krieg ist nicht eine Racheaktion."
„Was denn dann?"
Ti steht erneut auf, geht ein paar Schritte auf mich zu und blickt mich zornig an.
„Du hast dich ganz schön verändert, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Und zwar nicht unbedingt zum Positiven", sagt er verächtlich.
„Ja, ich musste in Einsamkeit schwelgen, da mein Zimmernachbar ja in den Krieg gezogen ist", entgegne ich.
„Woher weisst du... Du kleines Biest." Ti kneift die Augen zusammen.
„Wer hier das Biest ist, ist ja wohl klar", sage ich.
Ti sieht einen Moment aus, als wolle er mich schlagen, wendet sich dann aber ab.
„Vielleicht sollte ich ja doch zur Schule gehen", meint er nach einer langen Pause und verlässt das Zimmer, ehe ich etwas darauf erwidern kann.
Ach Mist. Jetzt habe ich mich heute schon mit zwei Personen gestritten! Na ja, mit Ti bin ich ja noch nie wirklich gut ausgekommen, aber Jake! Was ist bloss in mich gefahren! Und auch bei Ti... in der Nacht in der Höhle... Mist, und ich habe mich nicht mal für die Bücher bedankt.
Ich lege mich auf den Bauch. Was könnte ich jetzt machen? Ich hole mein Bleistift und ein A4 Papier aus der Kommode, dazu noch ein Klemmbrett und beginne zu zeichnen. Um mich zu beruhigen. Um mich abzulenken. Um mir darüber klar zu werden, was ich heute für Mist gemacht habe.
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