27. Geisterhafte Töne
POV: Kuno
Ein Klumpen bohrt sich in meinen Bauch und ich räuspere mich. Was soll ich denn jetzt sagen?
„Also Anella, darf ich vorstellen. Das sind... also meine Familie... André, Tessa und Ilan." Ich deute auf den Grabstein vor uns. Er sieht noch genauso aus wie damals. Nur ein bisschen verwilderter.
Mein schlechtes Gewissen schwillt an und drückt sich bleischwer auf meine Brust.
In der Mitte erkenne ich vertrocknete Blumen. Hat Ilma diese hierher gebracht?
„Mutter, Vater... Ilan... das ist Anella." Ich schlucke und merke wie es in meinem Bauch merkwürdig anfängt zu kribbeln. Diesmal aber aus dem Grund, dass Anella direkt neben mir steht und tatsächlich mit mir zusammen ist. Immer noch ein Umstand, den ich einfach nicht fassen kann.
„Ach ja und Georg mein Großvater." Ich schweife mit meiner Hand auf das Grab daneben. Wie sie wohl reagieren würden, wenn sie Anella in echt kennenlernten?
Ich will tief durchatmen, um den Knoten in meiner Brust zu lockern, doch es klappt nicht, sodass ich mit kratziger Stimme fortfahre. „Ich hätte sie euch schon viel früher vorstellen sollen... wir sind jetzt zusammen..." Ich merke, wie mir das Blut ins Gesicht schießt, obwohl es doch gerade noch so blass war, als wäre ich selber ein Gespenst.
Mein Blick fällt stolz auf ihr Gesicht. Sie lächelt und drückt meine Hand. „Es ist mir eine Ehre euch endlich... also auch mal kennenzulernen", murmelt sie und knetet mit ihren Füßen verlegen in der Erde herum.
Gott ist sie süß. Ich könnte schreien.
Stattdessen räuspere ich mich, um meine Stimme wiederzufinden. „Wir hätten... ich hätte schon viel früher kommen sollen, ich weiß. Es... es tut mir leid. Mehr, als ihr euch vorstellen könnt. Ich wollte nie... Es war nie weil... Verdammt, ich..."
Ich schlucke diesen dicken Kloß in meinem Hals hinunter. Wie soll es gehen so eine Entschuldigung auszusprechen? Für das, was ich getan habe, gibt es doch gar keine Worte, die dazu in der Lage wären.
„Ilan, ich hoffe.... ich hoffe, du..." Ich schaffe es nicht den Satz auszusprechen. Ihn darum zu bitten mir zu verzeihen. Das wäre zu viel verlangt. Genau wie bei meinen Eltern.
„Ich liebe euch, das wollte ich euch nur sagen." Zum Ende hin bricht meine Stimme und klingt unnatürlich kratzend. Als hätte man meinen Hals mit Kreide eingerieben und Stacheldraht hineingesteckt, welcher sich darin verkeilt.
Anella schmiegt sich zärtlich an meine Seite und ich spüre, wie mir ganz flau wird. Zugleich aber auch, wie die Trauer über mich hereinbricht und jegliche Kraft aus meinen Beinen zieht, sodass wir beide schließlich kniend auf dem Boden landen.
Ich merke, wie meine Augen zu brennen, beginnen doch blinzele es schnell weg. Ich habe mir vorgenommen wenigstens dieses eine Mal stark zu bleiben.
Anella streckt ihre Hand aus und tanzt mit ihren Fingern durch die vertrockneten Blumen, welche den Flur des Grabes zieren. Ihre Stimme folgt ihren Bewegungen in flüsternden Worten. Eine Symphonie, welche das Hier und die außerweltlichen Sphären vereint.
Ich merke, wie ich eine Gänsehaut bekomme, doch dieses Mal sogar aus Wohlbefinden. Überall, wo Anellas Gesang erklingt, ist mein Zuhause, das habe ich inzwischen tief verinnerlicht.
Ein Feenzauber, welcher die Ebenen durchdringt und alles miteinander verbindet und so vieles mehr.
Fasziniert verfolge ich, wie winzige Wasserpartikel sich aus der Umgebung schwebend um die Pflanze sammeln. Wie sich die welken Blätter langsam wieder mit Leben volltanken und die erschlafften Blütenköpfchen sich millimeterweise aufrichten.
Im Hintergrund stimmt sich ein Vogel in Anellas Gesang und selbst die lilanen Köpfe der Glockenblume scheinen zu dieser Melodie erregt zu zittern, als würden sie sich dieser anschließen wollen, welche sie wie Wellen reinster Energie durchströmt.
Anella hilft mir sie in die Erde neben die anderen Blumen zu setzen und ich lausche dabei wie in Trance ihrer zauberhaften Stimme. Es sind Worte, welche ich nicht kenne. Fast wie Muster, die sie in Form von Klängen in die Atmosphäre malt.
Sie schmiegen sich um mein Herz wie eine Kosmos-übergreifende Umarmung. Nun verlassen mich doch noch die Tränen, jedoch fühlt es sich ganz anders an als Schwäche.
Sie fließen aus meinen Augen und gefühlt auch aus meiner verkrusteten Organ-Lache in der Brust, welche sich viel zu viele Jahre unter dem harten Panzer aus Schmerz und so vielem mehr verbarrikadiert hat.
Sie alle fallen wie Blutstropfen auf den Boden. Zumindest ist dies das Bild, welches sich in meinem Inneren abspielt.
„Sing mit", fordert sie sanft auf. In ihrer Stimme ist etwas, was dazu verleitet genau das zu tun, was sie verlangt, ohne weiter darüber nachzudenken. Es gibt keinen Grund sich dem zu widersetzen. Ich will nur noch ihr sein. Ganz und gar. Mit ihr... alle Ebenen durchdringen. Sie lieben, auf alle erdenklichen Wege und ihr meine vollkommene Hingebung schenken, denn diese ist besonders ihr bestimmt.
Alles fällt für diesen einen Moment von mir ab. All der Schmerz, die Wut, die Angst, der Kummer und die Sorgen.
Alles, was sich sonst auf meine Lunge presst und mir das Atmen erschwert fließt nun aus mir hinaus. Nie hätte ich für möglich gehalten, dass es einmal dazu kommen sollte, dass ich selber summe. Erst recht nicht vor Anella und ihrer bezaubernden Stimme, neben welcher meine sich anhören muss wie eine kratzig verzerrte Geige mit Stimmbruch und Halsschmerzen.
Plötzlich verlassen mich jedoch alle Unsicherheiten und demzufolge sogar ein paar flüsternd dunkle Töne, von denen ich nicht wusste, dass sie sich in mir verstecken.
Sie sind leise... tief... schmiegen sich an ihre sanften Klänge und fühlen sich in meinem Rachen an, wie ein splitternder Fels, das Knacken von Feuer und zugleich so heimelig, wie ein laues Nachtgewitter in der Ferne... Ich weiß gar nicht, wo diese überhaupt herkommen, oder weshalb sie ausgerechnet dieses Gefühl mit sich bringen.
Sie werden getragen durch Anella. In Kombination mit ihrer Stimme klingt es einfach...
... einfach vollkommen. Dazu in der Lage jeden Gletscher aufzubrechen und anschließend zum Schmelzen zu bringen.
Wir beide gemeinsam schwingen wie eine vollkommene Symphonie und plötzlich weiß ich was Anella damals damit meinte, dass ich sie spielen soll. Wir spielen und tragen uns gegenseitig und zugleich weiß ich, dass dieser Augenblick hier einmalig ist.
Er wird sich auf ewig in mein Herz meißeln, genau wie dieses Gefühl meiner Familie, die sich uns auf geisterhafte Weise anschließen. Das helle, erfreute Kinderlachen von Ilan, welches noch Stunden danach in meinen Zellen nachhallt.
***
„Ganz schön riesig." Anella sieht auf dem Flughafen mit großen Augen hin und her, als wüsste sie nicht in welche Richtung sie zuerst flüchten soll. Wie ein scheues Reh auf dem Präsentierteller. Ich greife nach ihrer Hand und ziehe sie nahe an mich heran.
„Hier entlang. Folgen Sie mir einfach Mademoiselle." Sie schmunzelt und sieht mir wieder so in die Augen. Genau wie gestern auf dem Konzert unserer Freunde, zu welchem wir gegangen sind, um uns von ihnen zu verabschieden.
Garret ist tatsächlich auch mitgekommen, was mich ziemlich gefreut hat. Sein Blick war die ganze Zeit auf Simo gerichtet. Zumindest immer dann, wenn er dachte, ich würde es nicht bemerken.
Jim war natürlich auch da und hat sich ziemlich gefreut mich zu sehen, worüber ich ziemlich überrascht war. Ich mag ihn irgendwie. Und ja, ich kann das jetzt sogar einfach so zugeben. Ich weiß, das ist neu.
Überall wo er ist bringt er seine ganz eigene, kräftige Energie in die Gruppe, die einfach angenehm ist. Genau wie bei Simo. Irgendwie kann ich mir vorstellen, dass die beiden sich mit Demari sehr gut verstehen würden.
Als die Musik begonnen hat, haben Anella und ich die ganze Zeit fest umschlungen getanzt. Es hätte mich ja stören können, dass es ausgerechnet ein Lied war, welches Nilo für uns gesungen hat, aber in diesem Moment war mir alles egal.
Das Einzige was zählte, war Anella in meinen Armen. Ihr warmer Atem auf meiner Haut und das Gefühl mit ihr verbunden zu sein. Seit dem Besuch auf dem Friedhof haben sich eine tiefe Stille und Frieden über uns gelegt.
Anella hatte es vorhin ganz gut beschrieben. Sie meinte es fühlt sich an, als seinen wir in eine helle, tröstliche Nebelwolke getaucht, worin ich ihr vollkommen zustimmen kann.
Vivien und Nick schienen ähnlich vertieft, auch wenn es natürlich genauso einige Momente gab, in denen Anella und sie sich lachend und sogar weinend in den Armen hingen.
Simo hat die ganze Zeit über mit seinem strahlenden Gesicht in den Raum geleuchtet, als sei er eine funkelnde Discokugel. Anella würde sagen ihre Sonne. So hat sie ihn zumindest einmal bezeichnet, was mir damals nicht so gefallen hat, da ich noch nicht ganz wusste, wie sie das meint, aber inzwischen ist es mir klar.
Er hat dieses Lachen, welches ich auch manchmal gerne haben würde, aber ich weiß, dass dem nicht so ist. Ich kann das nicht, selbst, wenn ich es versuchen würde.
Meine Mimik ist tendenziell ernst, doch das stört mich nicht mehr. Auf jeden Fall so lange Anella kein Problem damit hat.
Sie grinst mich freudig an und hüpft dann leichtfüßig, wie ein kleiner Floh an mir hoch, um mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange zu hauchen, ohne, dass wir beide uns dabei verrenken müssen. Mir wird ganz heiß bei dieser Geste.
Ich könnte immer wieder von Neuem hyperventilieren, wenn ich diese Küsse von ihr bekomme. Es ist einfach nicht normal und so zuckersüß, dass ich jedes Mal sterbe und zugleich wieder neu zum Leben erwache.
Ich merke erst, dass ich wie versteinert stehengeblieben bin, als Anella innehält und sich zu mir umdreht. „Kommst du dann?"
Ich schlucke. Ihre Augen... So wunderschön... Jetzt geht es mit ihr nach Irland.
... Zu ihrem Vater....
Ob er vertrauenswürdig ist? Ich werde es zuvor herausfinden. Irgendwie erhascht mich dabei immer noch ein mulmiges Gefühl. Was, wenn es schiefgeht? Wenn er sie zum Beispiel an die Wächter verrät? Oder wenn Aden dann will, dass Anella in seiner Nähe bleibt, nachdem er erfahren hat, dass er eine Tochter hat?
Dann werde ich es auf jeden Fall auch. Ich werde überall hingehen, wo sie ist, das ist ihr auch klar. Hoffentlich.
Ob sie es denn auch so sieht? Ob sie das weiß, meine ich?
Ich atme tief durch und versuche dann meine Schultern zu lockern, die sich durch die Gedanken, der möglichen Gefahren und was noch alles damit einhergehen könnte angespannt haben.
***
„Bist du aufgeregt?", frage ich sie unnötigerweise. Ich sehe wie sie tief durchatmet und sich dann betont lässig in ihren Sitz am Fenster sinken lässt, ehe sie unschuldig zu mir hinaufsieht.
„Nein", behauptet sie und straft ihre Worte zur selben Zeit mit ihren zappelnden Zehen Lügen.
Ich schmunzele und bücke mich leicht nach unten, um meine Hand nach diesen ausstrecken zu können. Als ich sie erwische, stoppt Anella sofort in ihrer Bewegung und sieht mich ertappt und leicht atemlos an.
„Okay, vielleicht ein bisschen...", gesteht sie schließlich und starrt wie angewurzelt auf ihre Füße in meiner Hand. Zu gerne würde ich sie so zu mir herumdrehen, dass sie auf meinem Schoß liegen und ich sie ein wenig massieren kann. Leider ist das jedoch erst erlaubt, sobald sich das Flugzeug in der Luft befindet und wir nicht mehr angeschnallt sein müssen.
Erstaunlicherweise sind Anellas Fußsohlen so gut wie nie dreckig. Zumindest nicht mit Dingen, die sie dort nicht haben will. Als würden diese einfach an ihrer Haut abperlen, wie die Wassertropfen auf einem Blatt. Bei Erde sieht das Ganze dann schon wieder anders aus. Vermutlich, weil Anella dieser positiver gestimmt ist. Schon wieder muss ich schmunzeln.
„Ich weiß noch nicht einmal genau, worüber ich am meisten aufgeregt bin. Ob es daran liegt, dass wir meinen Vater suchen und... also wir ihn kennenlernen werden..." Sie schluckt.
„Oder darüber, dass wir uns nach Irland begeben und nicht wissen, wie sicher es dort ist und was auf uns zukommt... Vielleicht ist es aber auch deshalb, weil ich keine Ahnung habe, was Tyrian, Demari und die anderen gerade machen und ob es ihnen gutgeht..."
Wieder holt sie Luft und verfängt sich dabei mit ihren Augen in meinen. „Oder, dass das hier unsere erste Reise ist, die wir beide zusammen machen..." Sie greift mit ihren zarten, doch erstaunlich kräftigen Fingern nach meiner Hand und hält sich an dieser fest, als wäre ich ihr rettender Anker.
„Vielleicht ist es aber auch, weil wir gleich nicht mehr auf der Erde sein werden, sondern in der Luft. Ich bin ja noch nie geflogen. Es muss einfach traumhaft sein." Ihre Augen sind riesig und strahlen beinahe so hell wie der Morgenstern, welcher uns beim Aufstehen begleitet hat.
Ja, es wird sehr hoch.
Ich bin froh, nicht direkt am Fenster zu sitzen. Ich habe Fliegen schon immer nicht besonders gemocht. Zumindest bis jetzt. Anella an meiner Seite zu haben ist das jedoch alles Wert.
Nach den Ansagen der Stewardess beginnt sich das Flugzeug plötzlich zu bewegen. Anellas Füße haben sich schon längst wieder in den Tanzzustand begeben, während ihre Augen wie gebannt nach draußen sehen.
Als es dann so weit ist und sich beim Abheben dieses Fahrstuhlgefühl im Magen bemerkbar macht, klebt ihr Gesicht beinahe an der Scheibe.
Ich würde sie am liebsten hier und jetzt auf der Stelle vernaschen.
Herrjeh, wieso muss sie immer so verdammt süß und heiß zugleich sein. Diese Mischung ist halt echt nicht gesund. Ich merke erst, dass ich meine Finger an den Sitz gekrallt habe, als Anella sich zu mir umdreht und ihre Hand behutsam auf meine legt.
„Keine Angst, hier im Flugzeug wird uns sicher nichts passieren."
Glaubt sie etwa, es ist wegen der Höhe? Schön wär's... Okay, vielleicht ein bisschen. Ich gebe es ja zu, aber besonders ist es diese gefährliche Mischung aus Gefahr, Faszination und Anellas überdimensionaler Anziehungskraft.
„Ich weiß", keuche ich beinahe und fokussiere mich darauf, bei Verstand zu bleiben. Das hier ist absolut nicht der richtige Moment um diesen zu verlieren.
Sie lächelt und malt weiterhin kleine Kreise auf meinen Handrücken, was mich tatsächlich ein wenig beruhigt.
„Sieh nur, wie wundervoll. Wir fliegen über den Wolken", haucht sie euphorisch und ihre großen Augen hängen dabei fast durchgehend in diesen versunken, welche schnell unter uns entlangziehen. Man merkt, wie auch ihre Gedanken in ihr vorbeiziehen, da sie vor Aufregung kaum etwas sagt.
Nach einer Weile merke ich jedoch, dass Anellas Aufmerksamkeit getrübt wird. Wie ihr Blick zwar immer wieder fasziniert aus dem Fenster schweift, doch zugleich irgendetwas in ihrer Körperspannung nicht stimmt.
Sie fasst sich mehrmals an die Stirn und schließt teilweise sogar die Augen. Besorgt rücke ich näher und streife ihr zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Alles okay?"
„Ja, mir ist nur ein bisschen schwindelig, das ist alles." Ihre Stimme klingt unglaublich schwach und ich merke, wie in mir sofort alle Alarmglocken zu schrillen beginnen. Was hat sie?
Angespannt inspiziere ich ihre Gesichtsfarbe. „Hast du Kopfschmerzen?" Sie nickt und zuckt dann leicht zusammen. Verdammt, was kann es sein? Hat sie etwas Falsches gegessen? Aber wie sollte sie dazu kommen?
Wachsam lasse ich meinen Blick durch die Umgebung und unauffällig über die Passagiere schweifen. Keiner sieht zu uns, oder?
So viele Menschen und Anella kann nicht weg.
Ich drehe mich wieder zu ihr um und sehe ihr besorgt ins Gesicht. „Hier, trinke das." Ich reiche ihr eine Flasche Wasser und sie nimmt ein paar Schlucke davon, doch es scheint nicht wirklich zu helfen.
„Seit wann fühlst du diesen Schwindel?"
„Ich weiß nicht... Vielleicht seitdem wir in der Luft sind?" Sie starrt wieder nachdenklich nach draußen, ehe sie ihren Kopf ermattet an meine Schulter sinken lässt. Sie ist unglaublich blass.
Das Herz in meiner Brust schlägt vor Verzweiflung. Wie kann ich ihr helfen? Bitte, ich muss wissen, was sie hat!
„Ich glaube es sind die Höhenstrahlungen", flüstert sie und blinzelt dann müde.
Strahlungen?
Stimmt, Tyrian erwähnte ja auch so etwas, dass sie diese Schwingungen in der Luft sehr intensiv wahrnehmen. Anscheinend können Feen einige davon nicht sonderlich gut vertragen.
„Was kann ich tun?"
Anella lächelt schwach. „Du bist da, das ist alles, was ich brauche."
Mein Herz setzt einen Schlag aus, ehe es in doppelter Geschwindigkeit fortfährt.
Ich schlucke und führen dann meine freie Hand in bewussten, langsamen Bewegungen zu ihrem Anschnallgurt, um diesen endlich zu öffnen, da sie selber es wohl in all der Aufregung vergessen hat.
Anella schnappt leise nach Luft. Erst recht, als ich dann ihre Beine greife und meinen Plan von vorhin in die Tat umsetze.
Sie verfolgt stumm meine sanften Bewegungen auf ihrer Haut. Als ich die Füße massiere und ihre weichen Beine entlangfahre. Sie scheint immer noch erschöpft, doch zugleich brennt sich ihr Blick dabei so intensiv in mich, dass ich immer wieder vergesse, wie man nochmal atmet.
„Danke, das tut sehr gut", sagt sie nach einer Weile und legt ihren Kopf gegen das Fenster. Ihr Blick geht nachdenklich nach draußen und ich kann sehen, dass in ihr gerade Gedanken herumgeistern, die ihr etwas zu schaffen machen.
„Woran denkst du?"
Sie sieht kurz zu mir und dann beinahe schon unruhig aus dem Fenster. „An meinen Vater... also... ich frage mich, ob er auch Englisch spricht. Oder vielleicht ja sogar Gälisch. Was, wenn ich ihn nicht verstehe?" Anella betrachtet nervös ihre Füße, die wieder mal die Emotionen von ihr preisgeben, welche sich in ihr verbergen. Ich umgreife sie sofort wieder behutsam mit meinen Händen, um ihr, so hoffe ich damit ein bisschen Halt zu vermitteln.
„Selbst wenn er nur gälisch spricht, ich bin mir sicher wie finden Wege, um mit ihm zu kommunizieren. Mit außergewöhnlichen Kommunikationen kennst du dich doch eigentlich aus." Ich grinse sie an, auch wenn ich innerlich nach wie vor besorgt um sie bin.
Es ist einfach beängstigend sie so blass und ermattet zu sehen.
Zwischendurch werden Essen und Getränke verteilt, aber wir bleiben beide nur beim Wasser, während Anella auf einem Stück Holz herumkaut. Süßholz heißt es, hat sie mir erklärt. Ist anscheinend irgendeine Wurzel, die tatsächlich süß schmeckt. Ähnlich wie Lakritze.
Diese scheint ihr ganz gutzutun. Zum Glück dauert der Flug nicht allzu lange. Die Wolkendecke wird immer dichter und Anellas Aufregung wieder mehr. Das merke ich jetzt nicht nur an ihren Füßen, sondern auch ihren Fingern, welche den Rock ihres Kleides bearbeiten.
Wenn wir gelandet sind, sollten wir als Erstes in die Natur fahren, damit sie sich wieder auftanken kann. Ihre Haare sind unten viel gelockter als sonst. Sie meinte mal, die Bedeutung dafür sei, dass es regnet.
Von hier oben kann man allerdings noch nichts davon erkennen. Erst, als wir die Wolkenschicht nach unten durchdringen, um zu landen, wird uns das Bild unter uns offenbart. Grüne Wiesenflächen, Bäume, Straßen und vereinzelte Häuser. Wir müssen uns hier am Stadtrand befinden. Kurz darauf gelangen wir an den Flughafen und unser Gefährt setzt zum Landen an.
Die Stelle am Fliegen, die ich am wenigsten mag, doch bei Anella anscheinend löst es das pure Gegenteil aus. Zumindest lassen mich das ihre leuchtenden Augen vermuten.
***
Zum Glück habe ich mich um einen internationalen Führerschein gekümmert, sodass ich einfach ein Auto mieten kann und wir somit flexibler sind. Auch wenn ich sagen muss, dass es ziemlich seltsam ist auf der linken Straßenseite zu fahren.
Hinzu kommt, dass viele der Straßenschilder gar nicht auf Englisch, sondern Gälisch angeschrieben sind, doch es geht erstaunlicherweise dennoch ganz gut.
Ich habe unsere erste Unterkunft in der Nähe von Killarney gebucht, da es dort mehr unberührte Natur und Wälder gibt, als hier. Zudem ist es von da nicht mehr weit, bis wo Anellas Vater wohnt.
Von Dublin aus brauchen wir bei guten Straßenverhältnissen ungefähr dreieinhalb Stunden, bis zur Unterkunft und sind zugleich auf der anderen Seite von Irland. So groß ist die Insel dann doch nicht.
Es nieselt, in einem wechselnden Sonne-Wolkenspiel leicht vom Himmel und als wir eben an die frische Luft getreten sind, hatte Anella ihr Gesicht sehnlichst den kühlenden Tropfen entgegengestreckt.
Sie wirkt immer noch blass, aber schon ein wenig besser. Wir haben Glück und die Autovermietung ist direkt am Flughafen, sodass wir nicht extra in die Stadt hineinfahren müssen.
Das ist besser, denn so hat Anella schneller die Möglichkeiten in die Natur zu kommen. Sobald sie den ersten erreichbaren Wiesenfleck entdeckt, halte ich an, sodass sie ihre Füße kurz durch die nassen Halme aufladen kann.
Ihre Ehrfurcht und Anmut dabei faszinieren mich immer wieder aufs Neue. Und wieder ist es so, dass ich selber gerne das Gras wäre, auf welchem sie in dieser Weise läuft. Wie eigentlich alles, was sie derartig berührt.
Ein bisschen scheint es ihr zu helfen, doch sie wirkt mir immer noch zu geschwächt für eine längere Autofahrt.
Jetzt noch dreieinhalb Stunden fahren... Mir macht das ja nichts aus, aber Anella schon... wir sollten vielleicht zwischendurch mehrere Pausen in der Natur einlegen.
Vielleicht würde ihr das Meer helfen? Obwohl es ein Umweg von zwanzig und in doppelter Summe sogar vierzig Minuten ist, lenke ich den Wagen Richtung Portmanock. Der am nächsten liegende Strand von hier. Vielleicht wird ihr das Kraft geben.
Anellas Augen fliegen über die Landschaft und sie ist recht schweigsam. Wie es aussieht, versucht sie so viel wie möglich von alldem hier aufzusaugen.
Ich stelle meinen Wagen in die Nähe vom Strand ab und lasse meinen Blick abschätzend zu ihr schweifen. Ihr Kopf ist erschöpft an die Scheibe gelehnt. „Ist dir immer noch schlecht?"
„Ein bisschen", murmelt sie und richtet sich dann mühsam wieder auf. „Aber es geht schon. Dort hinter dem Hügel ist also das Meer?" In ihren Augen funkelt es, wenn ich auch zugleich noch ihre Erschöpfung erkenne.
„Ja, bereit?" Sie schnappt nach Luft und reißt dann mit Schwung ihre Autotür auf. Eine Windböe zerrt an ihren inzwischen ziemlich gelockten Haaren und peitscht sie ihr zugleich ins Gesicht. Sofort erscheint ein Lächeln auf ihren Lippen, während sie tief einatmet.
Der Duft von Meer liegt in der Luft. Salz, Algen und Sand. Im Hintergrund hört man die Möwen rufen und ehe ich's mich versehe, ist Anella schon losgelaufen. Viel schneller, als ich es ihr in ihrem Zustand zugetraut hätte. Vermutlich lässt sie sich wieder ein wenig von dem Wind tragen.
Schnell folge ich ihr hinterher, bis sie abrupt stehen bleibt.
Das Meer.
Es erstreckt sich unter uns zu einer weiten blau-grauen Linie bis zum Horizont. Der Klang der sich brechenden Wellen erfüllt die Luft mit einem Rauschen und ich kann sehen, wie sich diese Töne in Anellas Zellen ergießen, genau wie in meinen.
„Kuno", haucht sie überwältigt, ohne mich anzusehen. Im nächsten Moment hat sie schon wieder ihre Beine in die Hand genommen und ist, wie ein stürmender Wirbelwind barfuß über den Sand gefegt.
Ihr entfährt ein euphorischer Schrei, als die Wellen sich massiv an ihre Beine schmeißen und mit so viel geladener Kraft präsentieren, dass sie wohl gar nicht anders kann, als sich diesem Gefühl hinzugeben.
Ist bei ihr wohl so ähnlich, wie bei dem Gewitter. Ich muss schmunzeln und verfolge nur eine Weile ihr hingebungsvollen Bewegungen und Freudenrufe, während sie beginnt leicht im Wind zu tanzen und Pirouetten zu drehen.
Plötzlich läuft sie tiefer ins Wasser, sodass eine Welle ihr Kleid erwischt und es somit von unten nass an ihrer Haut klebt.
Inzwischen habe ich ebenfalls meine Schuhe ausgezogen und folge ihr so weit ins Meer, dass ich von hinten meine Arme um sie schmiegen kann.
„Hab ich dich", hauche ich ihr von hinten ins Ohr und liebe es, ihren vor Euphorie bebenden Körper zu spüren. Sie legt ihren Kopf in den Nacken, um diesen mir entgegen schmiegen zu können.
„Danke, Kuno", haucht sie leise, doch mit solch einer Intensität, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Da ich nicht weiß, was ich sagen soll, bleibe ich einfach stumm und halte sie fest, bis plötzlich eine große Welle uns zu fassen bekommt und uns samt Kleider in Wasser hüllt.
Anella muss so laut lachen, dass ich sogar davon angesteckt werde. Verdammt ist sie heiß. Ihr nasses Haar klebt ihr an der Wange, und plötzlich taucht sie absichtlich in die Wellen, da es jetzt sowieso schon egal ist. Ich folge ihr.
Wir sollten vielleicht nicht zu weit raus.
Aber wie mir scheint, hat Anella das auch nicht vor. Wir lassen uns von den Wellen herumschubsen und somit alle Anstrengungen des Fluges von uns waschen. Sie kreischt bei jeder größeren Welle in so einer Freude, dass es mir direkt ins Herz schießt.
Wenn ich nicht schon hoffnungslos in sie verliebt wäre, dann wäre das hier der Moment. Oder der vorhin? Eigentlich ständig. Ich verliebe mich jede Minute aufs Neue in sie. Sie ist einfach...
Ich könnte auch schreien, aber wegen ihr.
Der Regen gesellt sich auch noch zu uns und prasselt in windiger Anmut auf uns hinab. Peitscht mit dem Wind an unsere Wangen. Anella wird von einer Welle nach hinten geschubst und landet direkt an mir. Ich schlinge meine Arme um sie.
Durch den nassen Stoff fühle ich ihren Körper auf so schmerzlich anziehende Weise. Besonders, da dieses Kleid regelrecht danach schreit ausgezogen zu werden.
Ich blicke mich um. Es sind erstaunlicherweise keine Menschen zu sehen. Ob wir nackt...? Oh warte, da hinten ist jemand mit Hund. Ich verwerfe den Gedanken von eben sofort wieder. Dafür sollten wir uns vielleicht einen geschützteren Ort suchen.
Meine Lippen finden ihren Nacken, da ich einfach nicht anders kann. Die Kälte des Meeres frisst sich von unten zu uns hinauf, doch zugleich ist mir unglaublich heiß.
Sie seufzt auf eine Weise, welche mich dazu veranlasst sie noch näher zu ziehen. Mein Körper spielt schon wieder verrückt. „Wir sollten zum Auto und uns au... - umziehen", merke ich an, als ich sie zu mir herumdrehe. „Deine Lippen sind schon ganz blau."
Sie beißt sich auf die untere und im nächsten Moment bin ich es, wer sie davon ablöst.
***
Na ihr Lieben, wie geht es euch? Jetzt kommt hier endlich mal wieder ein neues Kapitel und ich freue mich schon darauf, die nächsten zu schreiben.
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