26. Ungebetenes Erbe
Sobald wir den Raum seiner Großmutter verlassen haben, kann Kuno seine Emotionen nicht länger zurückhalten und sackt mitten im Gang zusammen. All diese Themen scheinen ihm wortwörtlich den Boden unter den Füßen wegzureißen.
Ich setze mich zu ihm und halte ihn fest in meinen Armen. In letzter Zeit scheint wirklich so einiges bei ihm hochzukommen und das in recht kurzen Abständen. Ich hoffe, dass er bald mal wieder zum Durchatmen kommt.
Ich habe das Gefühl, dass ihm gerade alles, was er die Jahre zuvor in sich vergraben hatte überwältigt, genau wie die Dinge, die bedrohlich vor uns liegen und kann nichts weiter tun, als für ihn da zu sein, soweit es mir möglich ist.
Keiner der Ärzte stoppt, als sie an uns vorbeilaufen. Vermutlich gehören Nervenzusammenbrüche und trauernde Menschen zu ihrem täglich Brot.
„Es tut mir leid, Anella", keucht er und versucht nach Atem zu ringen. „Das braucht es nicht", flüstere ich und krabbele auf seinen Schoß. Mir egal, was die anderen darüber denken.
Kuno blinzelt. Tränen verfangen sich glitzernd in seinen Wimpern und reflektieren das Licht, wie die funkelnden Sterne am Nachthimmel. Seine Augen sind so dunkel. So wunderschön.
„Anella..." Er presst seine Lippen zusammen und weicht meinem Blick aus, ehe er weiterspricht. „Es... tut mir aber leid. Dass du dich immer mit so einem emotionalen Wrack wie mir abgeben musst. Ich kann wohl nichts anderes, als die Menschen mit mir in den Abgrund ziehen."
Sein Kiefer ist angespannt und ich sehe, wie sich die negativen Gefühle schon wieder gegen ihn selbst richten, was mir ganz und gar nicht gefällt. Hasst er sich etwa dafür?
„Kuno, das stimmt doch gar nicht." Ich umfasse mit beiden Händen sein Gesicht und drehe es so, dass er mich wieder ansehen muss.
„Du bist nicht schuld an dem ganzen. Wieso denkst du das immer wieder?" Er verspannt sich. „Weil ich es eben doch bin. Auf irgendeine Weise ist es immer so."
„Weißt du noch, wie du zu mir gesagt hast, dass du aufhören willst dir das immer einzureden?"
Er verzieht schmollend das Gesicht und erinnert mich jetzt irgendwie an einen bockigen Jungen. Kuno trägt so verdammt viele Seiten in sich und es wird höchste Zeit, dass er sie alle miteinander vereint und nicht mehr voneinander abspaltet, sodass er mit ihnen weiterwachsen kann. So ist es zumindest das, was ich empfinde.
„Ich habe sie weggestoßen... Ich habe einfach alle ausgeschlossen. Mein Leben lang."
Ein verbitterter Ausdruck mischt sich mit der Trauer darüber in sein Gesicht. „Du hattest deine Gründe. Und all das hatte seine Berechtigung. Manchmal können wir eben nicht ‚perfekt' handeln."
Er schluckt und hebt jetzt auch eine Hand, um gedankenverloren an einer Haarsträhne von mir zu spielen.
„Alle Gefühle, die wir haben dürfen sein und wenn wir manchmal nur auf eine bestimmte Weise handeln können, um uns beispielsweise zu schützen, oder nicht wissen anders damit umzugehen, dann ist das eben so. Ich denke, wir sollten das nicht verurteilen."
Anstatt zu antworten, senkt Kuno sein Gesicht nun so, dass unsere beiden Stirne aneinanderlegen, ehe er seine Lider hebt und mir direkt in die Augen sieht.
„Für mich war immer klar, dass ich das Grundstück meiner Eltern nie wieder betreten werde. Wieso mussten sie es ausgerechnet mir vererben?"
Ich erwidere seinen Blick, ohne etwas zu sagen. Stattdessen beobachte ich, wie es in seinem Kopf arbeitet.
„Möchtest du, dass wir mal vorbeifahren?" Kunos Augen weiten sich erschrocken und plötzlich erinnert er mich an einen vereisten Schraubstock, welcher fest mit der Erde verbunden wurde und sich jetzt keinen Millimeter mehr bewegt.
„Schon gut. Alles zu seiner Zeit." Diese Worte scheinen ihn nicht gänzlich zu beruhigen. Er starrt mich nur weiterhin entsetzt an. Blass wie ein Gespenst.
„Warst du eigentlich schonmal bei ihrem Grab?" Diese Frage beschäftigt mich schon länger, doch ich habe mich nie getraut diese auszusprechen. Woher ich jetzt plötzlich den Mut nehme, weiß ich auch nicht.
Seine Augen sind zu Stein verharrt. Bohren sich in meine. Kalt, hart und undurchdringlich. Ebenso sein Atem und alles, was ihn ausmacht.
War das jetzt doch etwas zu viel?
Eine ganze Weile vergeht, in der er mich einfach nur anstarrt, ohne es wirklich zu tun. Sein Blick ist leer.
Oh nein.
Ich höre Schritte, die über den Boden laufen wie das Ticken einer Uhr. Sie kommen und gehen. Stimmen wehen an uns vorüber wie die ziehenden Wolken am Himmel.
„Nein."
Kuno klingt kühl. Unnahbar. Ein bisschen wie früher, als er sich hinter seiner Schutzmauer versteckt hat und alle von sich stieß, so wie er eben selber zugegeben hatte.
„Was meinst du damit?"
Kunos Haltung verspannt sich noch weiter. Er sieht aus wie ein wütender und zugleich gepeinigter Panther, der nicht weiß, ob er jetzt knurren, oder sich beschämt in eine Ecke verkrümeln soll.
Sofort tut es mir leid, dass ich ihn danach gefragt habe. Er hätte es mir schon erzählt, wenn er so weit ist.
„Dass ich verdammt nochmal nach ihrer Beerdigung nicht mehr bei ihrem Grab war, okay!"
Er rappelt sich auf. Sein Atem geht schnell und anscheinend weiß er nicht, wo er sich hindrehen soll. Im Gang stehen Menschen verteilt und starren ihn an, was es wohl nicht gerade besser macht.
Er formt seine Augen zu Schlitzen, während er wütend von einem Bein auf das andere wechselt, als wäre er bedrängt und würde nicht wissen, ob er stehen, oder gehen soll, bis er schließlich den Gang Richtung Ausgang stürmt.
Es tut mir so leid. Ich wollte nicht, dass er sich so fühlt.
Ich folge ihm mit zitternden Beinen. Als ich draußen ankomme, schweift mein Blick sofort zu seinem Auto. Es steht noch da, doch von Kuno ist weit und breit keine Spur. Ein beunruhigendes Gefühl breitet sich in mir aus. Wo ist er hin?
Ich merke, wie mein Atem sich beschleunigt und sich das Gefühl in mir breitmacht, dass ich es nicht schaffe. Dass ich nicht für ihn da sein kann, so wie er es braucht. Was, wenn ihm meine Anwesenheit gar nicht so guttut und er sich viel besser seiner Vergangenheit stellen könnte, wenn ich ihm nicht reinpfusche?
Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals. Es fällt mir so schwer es abzuschätzen. Zu wissen, wann es richtig ist etwas zu sagen und wann nicht. Ich wollte nicht, dass Kuno sich so fühlt.
Bedrängt.
Eine Träne drückt sich aus meinen Augen und ich muss mich zusammenreißen nicht laut zu schluchzen.
„Ich bin hier", ertönt es plötzlich hinter mir, sodass ich mich erschrocken umdrehe. Sein Blick ist immer noch kalt, doch als er meine Tränen bemerkt, weiten sich seine Augen und er ist in wenigen Schritten bei mir.
„Es tut mir leid", sagen wir beide gleichzeitig und stocken, um den jeweils anderen überrascht anzusehen.
Anstatt noch etwas zu sagen, zieht er mich einfach in seine Arme. Mir liegt so viel auf der Zunge, doch ich halte mich zurück es auszusprechen.
Wieso war er nie mehr bei ihrem Grab?
Kuno scheint meinen nachdenklichen Blick zu bemerken, denn ich spüre, wie sein Körper sich wieder anspannt.
„Ich bin ein Feigling. Ein verdammter Egoist und habe die Bezeichnung Sohn und Bruder nicht verdient." Seine Lippen sind fest aufeinandergepresst während sein Blick sich hinter mich auf die Häuser richtet.
„Ich konnte nicht..." Er unterbricht sich und wirkt nur noch kälter. Nach einer Weile lege ich mein Ohr an seine Brust und lausche seinem stetigen Herzschlag. Eines der schönsten Geräusche der Welt, von dem ich einmal befürchtete, dass ich es nie wieder hören werde.
Ich klammere mich noch fester an ihn. Zu beängstigend ist die Erinnerung an diese eine Nacht in der sich so vieles veränderte.
„Du wirst immer der Bruder und ihr Sohn sein, egal, was du tust."
Ich höre ein leises Schlucken und spüre dann, wie er seine Hand auf meinen Rücken legt und zärtlich meine Wirbelsäule entlang tanzt.
„Ich liebe dich", haucht er nach einer Weile in mein Haar und verursacht damit, dass die Schmetterlinge in meinem Bauch wieder aufstäuben.
„Das kann ich nur zurückgeben, jähzorniger Schlingelkopf." Ich kann ihn durch die Luft regelrecht schmunzeln hören.
„Was soll das denn heißen? Ich bin doch nicht jähzornig." Er tut gespielt beleidigt, sodass ich kichern muss.
Kuno löst sich ein Stückchen von mir, um mir ins Gesicht sehen zu können. „Lachst du mich gerade etwa aus, Waldmädchen?" In seinen Augen blitzt es gefährlich. Ich weite die meinen. „Würde ich nie tun." In diesem Zusammenhang meine ich diese Worte sogar ernst.
Er schmälert misstrauisch seine dunklen Zirkone. „Und dann bezeichnest du mich auch noch als Schlingelkopf. Was soll das denn bitte sein?"
Ich zucke die Schultern und muss mir ein Schmunzeln unterdrücken „Gibt es noch irgendwelche Bezeichnungen, die du auf Lager hast?"
„Weiß nicht." Ich knete mit meinen Zehen auf dem Boden herum und starre nachdenklich auf seine Brust. „Außer vielleicht, dass du ziemliche Stimmungsschwankungen hast. Wärst du eine Frau hätte ich schon längst den Verdacht geschöpft, dass du schwanger bist."
Kuno entweicht ein belustigtes Schnaufen.
„Ne, jetzt mal in echt. Ich habe gehört, dass auch Männer so etwas Ähnliches wie eine Periode haben. Nur halt nicht sichtbar." Ich blicke ihm vorsichtig ins Gesicht und sehe, wie er skeptisch eine Braue anhebt.
„Was soll das denn heißen. Willst du damit etwa andeuten, ich wirke, als hätte ich meine Tage?" Ich schmunzele ihn an, woraufhin das tiefe Funkeln in seinen Augen nur noch stärker wird und er seinen Mund seitlich an mein Ohr senkt.
„Apropos. Wusstest du, dass bei Frauen, wenn sie ihre Periode haben die Libido fast so hoch ist, wie bei ihrem Eisprung? Das bedeutet, sehr viel Lust auf..."
Er lässt es unausgesprochen und streift stattdessen mit seinem Finger seitlich über meinen Hals. Spucke sammelt sich in meinem Mund und ich befördere sie geräuschvoll hinunter. Wieso weiß Kuno sowas?
„Und du meinst also, ich habe Stimmungsschwankungen? Dann müsste mein Zyklus sich ja in Dauerschleife aufgehängt haben und durchgehend Party betreiben. Immerhin sagtest du ja einmal, dass dieser Zustand bei mir fortwährend vorhanden ist."
Ich schlucke erneut, als er mir diese Worte mit seinem ganz bestimmten Nuance ins Ohr raunt. Seine tiefe, verruchte Stimme bildet eine Gänsehaut auf meinen Armen. Aber eine der zutiefst erregenden Sorte.
Ich zwinge mich zu einer möglichst lockeren Tonlage, als ich antworte. „Das ergibt auch Sinn. Bei Männern soll ja der Zyklus hormonell betrachtet jeden Tag in abgeschwächter Form stattfinden." Nun verziehen sich seine Mundwinkel zu einem Schmunzeln.
„So? Jeden Tag? Und wann soll die Ausschüttung von Testosteron am stärksten sein?" Ich grinse und streife mit meinem Finger über seine Bauchmuskeln, welche sich durch das Hemd deutlich abzeichnen. Froh darüber, dass er wieder lächeln kann.
„Es baut sich über die Nacht auf, also morgens." Er sieht mich interessiert an. „Das erklärt so einiges." In seine Iriden tritt ein dunkles Lodern, als er sich wohl an den heutigen erinnert und ich merke, wie ich leicht rot werde.
Habe ich mich nicht gerade noch gefragt, wieso Kuno so viel darüber bei uns Frauen weiß? Erst jetzt merke ich, dass ich da andersherum wohl auch nicht ganz unwissend bin. Könnte sein, dass Vivien mir das mal erzählt hat.
„Abends ist eure Testosteronausschüttung tatsächlich am niedrigsten. Da neigt ihr eher zum Kuscheln."
Kunos Grübchen erscheint und ich verfange mich hingerissen in diesem wundervollen Abbild meines bezaubernden K...
„Kuscheln." Er zieht mich wieder dich an sich heran. „Das klingt gut."
„Äh... nicht jetzt Kuno."
„Mmm."
Er vergräbt sein Gesicht tief in meinem Haar und atmet kräftig ein, das spüre ich genau. Meine ganze Haut beginnt durch diese Intensität unserer eigentlich harmlosen Umarmung zu kribbeln.
Mein Blick gleitet zurück zum Krankenhaus und ich merke, wie sich etwas in meinem Bauch wieder verknotet.
„Wieso..." Ich stoppe mich, bevor dieser Satz vollkommen meine Lippen verlässt.
Ich wollte ihn doch nicht mehr bedrängen!
„Was?" Er sieht mich an und hat wahrscheinlich an meiner Tonlage erkannt, dass meine Gedanken wieder zu anderen Themen schweben.
Sein Lächeln verblasst, genau wie seine Atmung.
„Lass uns Kuscheln gehen. Im Auto."
Ich muss schlucken. Was meint er jetzt damit?
Ist das eine Ablenkung für ihn? Ich knete an meiner Kleidung herum, so wie die Füße den Boden, während mein Blick hinab zu meinen Zehen wandert.
„Bist du dir sicher?"
„Ob ich mit dir kuscheln will? Das will ich immer."
Mein Mundwinkel zuckt, doch nur so halb. „Ich meine..." Ich beiße mir auf die Lippe.
„Ach..." Ich atme tief durch und drehe mich dann weg, damit er meinen Gesichtsausdruck nicht sieht.
„Was ist?"
„Nichts. Ich ähm... denke nur nach."
Er kommt zu mir herumgelaufen und es ist klar, dass er nicht lockerlassen wird, also gebe ich mich schließlich geschlagen.
„Es ist nur... Wieso konntest du nicht?", spreche ich endlich die Frage aus, welche mir so sehr auf dem Herzen lastet und deren Satz Kuno vorhin begonnen hatte, ohne ihn zu beenden.
Er verspannt sich augenblicklich, doch diesmal scheint er mehr Herr seiner Sinne zu sein. Allerdings weiß man bei ihm nie.
Wieso war er nie bei seiner Familie?
Er sieht betreten zu Boden. Seine Schultern angezogen, wie ein schuldig geschundenes Wesen.
Momente vergehen. Augenblicke des Schweigens, die über uns hinwegziehen und sich zugleich bleischwer auf uns niederlegen.
Ich trete einen Schritt auf ihn zu und bringe ihn somit dazu mich anzusehen. Seine Augen sind gespeist von Trauer und Bedauern, aber zugleich auch Wut. Unglaublicher Zorn auf sich selbst.
„Ich habe mich geschämt."
Anstatt etwas darauf zu sagen, sehe ich ihm einfach nur in die Augen. Eine ganze Weile folgt Schweigen, bis ich ihm dann doch eine Frage stelle.
„Tust du es immer noch?"
Kunos Kiefer spannt sich an. „Oh ja. Ich weiß nicht, wie ich ihnen je wieder unter die Augen treten soll. Nach all der Zeit, die ich sie aus meinem Herzen verbannt habe."
„Aber doch nur, weil sie so ein großer Teil deines Herzens sind. Sie wissen das und ich bin mir sicher sie würden es auch verstehen."
Kunos Fäuste krampfen sich zusammen und ich greife nach seiner geschienten, damit sie sich wieder lockert.
„Sie würden sich immer freuen, wenn du kommst, ganz egal, wann. Ich bin mir sicher du wirst immer ihr kleiner Kuku bleiben, egal, was du im Leben auch anstellst."
Ich lächele vorsichtig und merke, wie er bei diesem Namen kurz zusammenzuckt.
„Ich habe mich nie wirklich von ihnen verabschiedet. Damals zur Beerdigung... das war... da war ich nicht richtig da. Nur mein Körper und danach... habe ich sie nie wieder zu mir hereingelassen. Ich habe sie ausgestoßen und nie besucht, mir Bilder von ihnen angesehen, oder gar über sie gesprochen."
„Und doch sind sie immer bei dir, oder nicht?" Kuno schnappt nach Luft und scheint einen Moment zu überlegen. „Ja... ich glaube schon. Manchmal da..."
Er stockt und betrachtet gedankenverloren unsere verschlungenen Hände. „Zu ihrem Todestag, da... manchmal sind sie mir sogar erschienen."
Er schluckt und ich merke, wie sich eine sonderbare Gänsehaut auf meine Arme schleicht. Es ist keine Angst, doch ein Gefühl von etwas Unbegreiflichem. Wie ein leiser Atemhauch aus dem Jenseits. Kuno verspannt sich noch weiter.
„Sie haben nichts gesagt. Waren nur da und haben mich angesehen. Manchmal da... da wusste ich nicht, wohin mit mir. Was überhaupt noch Realität ist und was nicht und erst recht nicht, was sie mir sagen wollten."
Er streift sich mit seiner gesunden Hand über den Arm, als hätte auch er eine Gänsehaut.
„Hast du sie mal gefragt?"
Kuno sieht mich schief von der Seite an. „Wieso bist du so ruhig? Hältst du mich jetzt nicht für vollkommen durchgeknallt?"
Ich lächele. „Oh, durchgeknallt sind wir doch alle irgendwie, oder nicht? Außerdem glaube ich dir. Es gibt mehr, als unsere Augen oft sehen können, das weiß ich nur zu gut."
Kuno atmet tief durch, als hätten diese Worte ihm gerade irgendeine Last von den Schultern genommen.
„Sollen wir sie besuchen? Also ihr Grab, meine ich."
Kunos Augen weiten sich auf die Größe zweier Ballons. Sein Mund öffnet und schließt sich wieder, bis er schließlich ein weiteres Mal Luft holt. Das ist gut. Solange er atmet, ist es ein gutes Zeichen.
„Du meinst...?" Ich nicke und sehe, wie seine eine Faust sich immer wieder schließt und löst.
„Nur, wenn du dich bereit fühlst. Sie werden sich sicher freuen und meistens ist es hinterher gar nicht so schlimm, wie man gedacht hat."
Er presst seine Lippen zusammen. „Wir... wir können..." Er schnappt nach Luft und beginnt dann ein bisschen auf- und abzulaufen, ehe er schließlich stumm einen Entschluss fasst, stürmisch nach meiner Hand greift und mich einfach hinter sich her zu dem Auto zieht.
Das ist so typisch Kuno.
„Es ist sowieso schon lange überfällig, dass ich dich meinen Eltern und meinem Bruder vorstelle", erklärt er, drückt mich auf den Beifahrersitz, wo er mich auch sogleich anschnallt, ohne, dass ich Zeit habe es selber zu tun. Ich lasse ihn einfach gewähren.
Vielleicht braucht er das ja gerade? Das Gefühl, alles in der Hand zu haben? Zumindest lassen mich das seine Finger vermuten, mit denen er im Auto auch sogleich wieder nach meinen greift.
„Sollen wir ihnen ein paar Glockenblumen vorbeibringen? Vielleicht läuten sie ihnen eine leichte Melodie in die anderen Sphären?"
In Kunos Augen funkelt etwas auf.
POV: Kuno
Eine Dreiviertelstunde später befinden wir uns tatsächlich vor dem, von mir tief gefürchteten Friedhof etwas außerhalb der Stadt. Er ist mir schon oft im Traum erschienen.
Oftmals wurde ich dort dann lebendig vergraben. Aus Strafe, weil ich meine Familie so lange nicht besucht habe. Wer mich allerdings vergraben hat, kann ich nicht sagen. Mittlerweile glaube ich ja, ich war es selber.
Mein Herz pocht so intensiv, dass ich schon Angst habe es könnte bis ins Jenseits zu hören sein. Ob meine Eltern wirklich noch als Geister existieren? Und Ilan?
Ein Gänsehautschauder ergreift mich und ich ziehe Anella noch dichter zu mir heran. Ich will nicht, dass sie sich alleine fühlt...
... und... okay, wenn ich ehrlich bin, habe ich einfach verdammt großen Schiss. Also nicht vor ihren Geistern, sondern davor, dass ich ihnen gleich unter die Augen trete. Also ihrem Grabstein.
Ich, der sie so lange versucht hat ins eigene Bewusstsein zu begraben und nie wieder hervorzuholen.
Ich, der ihr Erbe mit Füßen tritt. Der eine bloße Enttäuschung für alles darstellt, was sie hinterlassen haben.
Vor allem, bin ich aber auch einfach unglaublich aufgeregt, ihnen nach 13 Jahren wieder gegenüberzutreten und ihnen auch gleich meine Freundin vorzustellen. Das wundervollste Wesen, welches je auf dieser Welt existiert hat.
Dieser Ort hier ist so richtig wie man ihn sich vorstellt. Mit Metallgatter als Eingang, alten Bäumen und unzähligen Grabsteinen. Einem Sammelgrab meiner Familie. Neben ihnen liegt mein Großvater begraben.
Erhängt...
Er meinte zu seinen Lebzeiten ja immer, die Menschen, die sich selbst umbringen, seien auf ewig dazu verdammt als Geister auf der Erde zu wandeln. Keine Ahnung, warum er sich dann trotzdem selber das Leben nahm.
Ich glaube das mit dem Verdammt-sein ehrlich gesagt nicht, auch wenn er mir ein paar Monate darauf tatsächlich als Geist erschien.
Ich mag Friedhöfe einfach nicht. Es kommt mir so vor, als würden die verstorbenen Seelen durch die Gräber von den noch Lebenden festgehalten.
Von daher könnte es ein Platz sein, wo besonders viele Geister auf einem Haufen leben. Zumindest sagen das oft die Geschichten. Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein.
Dennoch kann ich nicht verhindern, dass die eisige Gänsehaut meine Arme einfach nicht mehr verlassen will.
Keine Ahnung, woher ich den Mut nehme, tatsächlich das Gelände zu betreten. Vielleicht weil ich Anella und mir selber beweisen will, dass ich auch mal kein Feigling sein kann?
Oder ist es, weil ich plötzlich dieses Kribbeln auf meinen Armen spüre und diese kalten Schauder auf der Haut, welcher mir sagt, dass es höchste Zeit wird, ihnen Anella vorzustellen und vor allem nach all den Jahren über meinen Schatten zu springen und sie endlich zu besuchen?
Vor dem Gatter halte ich jedoch noch einmal kurz inne. Was, wenn... wenn ich sie sehe? Ich straffe meine Schultern und nach einem tiefen Luftholen gelingt es mir tatsächlich den Ort der Verstorbenen zu betreten.
Ich zwinge mich kontrolliert zu atmen, da ich weiß, dass ich sonst vollkommen durchdrehen würde. So ganz gelingt es mir aber nicht, als wir Schritt für Schritt über die kleinen Wiesenpfade schreiten. Jeder einzelne Schritt hallt in mir nach, wie ein Echo in eine längst vergangene Zeit.
Das feuchte Gras schmiegt sich an unsere nackten Fußsohlen und flüstert uns geheimnisvolle Informationen ein. Zumindest würde Anella das so beschreiben. Für mich fühlt es sich zugleich an wie dürre Finger, welche versuchen nach mir zu haschen.
Das mit dem Barfußlaufen war ihre Idee und ich bereue es, trotz dieser seltsamen Empfindungen nicht. Anellas Hand in meiner zu spüren gibt mir mehr Kraft als es sollte. Woher nehme ich diese nur, wenn Anella mal nicht bei mir sein sollte?
Vor der nächsten Biegung halte ich inne. „Okay, also... dann werde ich dich jetzt meiner Familie vorstellen Anella. Wahrscheinlich kennen sie dich eh schon längst, aber..." Ich schlucke.
Das hört sich jetzt irgendwie komisch an, oder? Irgendwie habe ich ja immer noch Angst, dass ich Anella irgendwann doch nochmal mit diesem seltsamen Verhalten verschrecke.
Ich hole tief Luft und trete dann mit ihr zusammen vor das Grab mit dem großen eingravierten Lebensbaum.
***
~ André Millard * 14. 01. 1979 † 23. 06. 2007 ~
~Tessa Millard * 03. 05. 1982 † 23. 06. 2007~
~ Ilan Millard * 21. 12. 2004 † 10. 06. 2007~
***
So ihr Lieben. Vergangenheit und Zukunft kommen sich immer näher. Was sind eure Gedanken?
Fühlt euch gedrückt, eure See.♥
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