10. Verzweiflung
POV Kuno:
Ich habe den Atem angehalten, während ich irgendwie versuche zu begreifen, was hier gerade vor sich geht.
Dieser Mann, welcher mich betrachtet, als würde er genau wissen, wer ich bin.
Durch seine große Statur, die breiten Schultern und beweglichen Körper wirkt er respekteinflößend. Es sind Muskelregionen von ihm trainiert, welche von einer tiefen, inneren Kraft, Körpergeschick und Wendigkeit berichten.
Er sieht aus wie jemand, der genau weiß, wie man sich in einem Kampf bewegen müsste. Wieso ich jetzt an so etwas denke? Keine Ahnung.
Zugleich wirkt er aber alles andere als Gewalt-geneigt. Im Gegenteil. Er scheint mir eher eine friedvolle Persönlichkeit zu sein, zumindest lassen mich das, unter anderem seine feinen Gesichtszüge vermuten, wenn man das überhaupt daran herauslesen kann.
Seine Haare sind hell und als Zopf nach hinten zusammengefasst, während ihm ein paar lose Strähnen verwegen ins Gesicht fallen.
Da er immer noch am Waldrand stehen geblieben ist, bin es nun ich, welcher einige Schritte auf ihn zu tritt. Dann jedoch halte ich inne, als mir einfällt, wovor Anella mich vor kurzem gewarnt hat. Sie meinte, ich dürfe nichts von ihrer Feennatur wissen, da es sonst welche gibt, die sich auf die Suche nach Menschen wie mir begeben.
Meine Vermutung ist, dass Anella deshalb nicht aufgesucht wird, weil sie selbst ebenfalls eine Fee ist und sie dieses Wissen vielleicht nur vor den Menschen beschützen wollen. Das würde zumindest erklären, weshalb mich dieser Mann gerade so eingehend betrachtet. Als würde er ebenfalls versuchen, einzuschätzen, was in mir vorgeht.
Ob das hier ein Trick ist? Sind hier noch mehr und beobachten, ob ich sofort weiß, dass er kein Mensch ist, sondern... ja... eine Fee? Wollen sie herausfinden, ob ich es weiß? Und was, wenn ich mich irre?
Doch was, wenn er gar nicht meinetwegen da ist? Was, wenn es um Anella geht? Ich merke, wie ich mich innerlich verspanne. Ich werde nicht zulassen, dass ihr irgendetwas geschieht.
Wir sehen uns beide eingehend an und versuchen anscheinend uns gegenseitig zu durchschauen.
Rasch schweift mein Blick in die umliegende Umgebung. Ich horche auf Geräusche, auch wenn mir klar ist, dass ich, falls es sich wirklich um mehrere Feen handelt, keinen Mucks vernehmen würde. Das habe ich inzwischen nur zu gut von Anella gelernt.
Mein Blick schweift hinunter zu seinen Füßen. Barfuß.
Ein Indiz mehr dafür, dass ich mit meiner Vermutung recht habe. Auch sein dünnes, luftiges Flachshemd, welches vorne offen gelassen ist, weist darauf hin, dass er nicht gerne in enger Kleidung steckt. Genau, wie Anella.
Um seinen Hals trägt er zwei Amuletts, welche für einen Moment meinen Blick einfangen. Eines leuchtet dabei wie der Mond und kommt mir irgendwie seltsam bekannt vor.
Seine braune Hose, die ihm bis kurz über die Knie reicht, scheint ebenfalls aus einem eher bequemen Material zu sein. Auf seinem Rücken trägt er einen kleinen Beutel, welcher einem altmodischen Rucksack ähneln könnte.
Um seine Hüfte schmiegt sich ein Gürtel, welcher so allerlei Gegenstände verborgen hält. Zu gerne hätte ich sie einer weiteren Betrachtung unterzogen, würde im selben Moment nicht seine Stimme ertönen.
„Du bist Kuno, nicht wahr?"
Ich merke, wie meine Nackenhaare sich wachsam aufstellen. Was hat das alles zu bedeuten? Woher kennt er meinen Namen?
„Sieht wohl so aus", gebe ich zur Antwort, woraufhin sein einer Mundwinkel zu zucken beginnt.
Wieder folgt ein kurzes Schweigen, in welchem ich versuche irgendwie meine Gedanken zu sortieren.
„Und woher wissen Sie das?" Sein Mund zuckt schon wieder. Ich schmälere skeptisch meine Augen, auch wenn er auf mich nicht unbedingt einen beängstigenden Eindruck vermittelt.
„Wir kennen uns bereits." Er spielt mit seinen Fingern an einem Zweig herum, welchen ihm ein Baum überschwänglich entgegenstreckt.
Perplex reiße ich meine Augen auf. Was sagt er da?
„Ist hier die Luft eigentlich immer so..." Er spricht nicht weiter, sondern scheint sich stattdessen einer Schwindelattacke stellen zu wollen, die ihn gerade zu übermannen droht.
Ich runzele irritiert meine Stirn. Ist das etwa auch ein Trick?
„Woher sollten wir?", frage ich auf die erste Aussage bezogen. Ich kann mich nämlich nicht daran erinnern, diesen Typ jemals zuvor irgendwo schon einmal gesehen zu haben.
Er wendet seinen Blick wieder zu mir. Schweift über mich hinweg und dann hinüber zum Schulgebäude.
Sofort werde ich unruhig. Anella ist da drinnen. Ob dieser Mann das weiß? Ich merke, wie meine Hände unruhig zu kneten beginnen und ich versuche sofort es ihnen zu unterbinden. Ich darf mir meine Unsicherheit nicht anmerken lassen!
Seine Augen durchdringen mich schon wieder. Ich kenne diesen Blick. So ähnlich sehe ich ihn auch gerade an.
„Entschuldige, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt." Er scheint für einen Moment zu überlegen, ob er aus dem Wald treten und mir ein paar Schritte entgegenkommen soll, entscheidet sich aber dann anscheinend doch anders.
„Mein Name ist Tyrian."
Wenn es einen Blitz gibt, der in einen Baum einschlägt, hätte es nicht lauter und markerschütternder sein können, als dieser Moment. Mein Herz setzt aus, während es sich anfühlt, als wären all meine Gliedmaßen eingefroren.
Mein Bauch krampft sich zusammen und ich spüre, wie mein Puls, angetrieben durch die Panik, welche dieser Name in mir auslöst, schneller wird.
Wenn es eben noch Dinge gab, die ich an ihm sympathisch fand, dann sind diese jetzt auf einen Schlag und unwiderruflich verpufft.
Ich merke, wie mir der Boden unter meinen Füßen droht, zu entgleiten.
Tyrian? DER... Tyrian?
Er ist wegen Anella hier. Jetzt begreife ich es endlich. Er will sie mit sich in seine Welt nehmen.
Inzwischen muss ich so blass sein, wie ein wandelnder Toter. Mein Herz rast, als würde es vor dem Moment fliehen wollen, in welchem es mir in der Brust zerspringt. Nämlich der Moment, wenn Anella erfährt, dass ... dieser...
Ich schaffe es nicht mehr, seinen Namen zu denken. Stattdessen starre ich ihn an, als wäre er mein persönlicher, aus der Hölle auferstandener Dämon, auch wenn er überhaupt nicht so aussieht.
Verdammt. Er ist es. Und er sieht auch noch alles andere als hässlich aus, sondern im abartig verfluchten Gegenteil. Er ist unglaublich heiß. Und zwar in dieser gefährlichen Lauffeuer-Art, wo Anellas Herz wahrscheinlich gar keine Chance mehr hat zu entkommen. Seine Attraktivität leuchtet ja beinahe bis zum Mond.
Angefangen bei seiner Ausstrahlung. Seinem grazilen Körper, neben welchem meiner jeglichen Hauch von Eleganz und Anmut verliert und meine Tollpatschigkeit nur noch mehr hervorhebt, selbst, wenn ich mich nicht einmal bewege.
Dazu dieses scheußlich sympathische Lächeln und seine strahlend grünen Augen, mit welchen er bestimmt nur ein einziges Mal zwinkern muss, dass die Mädchen ihm zu Füßen liegen. Dass Anella ihm zu Füßen liegt.
Hinzu kommt diese abscheuliche Ähnlichkeit mit ihr. Er strahlt etwas aus, was einem sagt, dass Anella sich in seiner Gegenwart wohlfühlt. Dass sie verdammt nochmal so zusammenpassen wie eine Blume in die Wiese. Ich weiß, dass alle außenstehenden genau das behaupten würden.
Ich bin ihm nicht einmal ansatzweise ebenbürtig. Er spielt in einer ganz anderen Liga als ich, das ich mir klar. Bis ins tiefste Mark meiner Knochen.
Gegen ihn habe ich nicht die geringste Chance. Wenn Anella die wirkliche Wahl hat, zwischen ihm und mir zu entscheiden... Ich merke, wie mir die Luft entgleitet. Ich bekomme es nicht mehr zustande, zu atmen.
Und dann hatte Anella mir doch auch noch einmal gesagt, dass sie ihn immer noch liebt. Nur halt auf eine andere Art als mich. Was, wenn diese Art aber in Wahrheit viel stärker ist als diese, mit welcher sie behauptet, mich zu lieben?
Oder was, wenn die Liebe zu ihm noch heranwächst? Jetzt, wo er wirklich da ist? In echt. So ganz körperlich. Und nicht nur das. Ich spüre seine Präsenz durch die gesamte Atmosphäre vibrieren. Dazu diese Aura der zauberhaften Magie, welche auch Anella umgibt und die sie gewiss vollkommen in seinen Bann ziehen wird.
Ich merke, wie diesmal mir schwindelig wird und ich ein paar Schritte zur Seite taumele, da ich kurz das Gleichgewicht verloren haben muss.
Nur am Rande bekomme ich mit, wie er seine Augenbrauen besorgt zusammenzieht, was das ganze nur noch schlimmer macht. Dann ist er also auch noch nett und unvoreingenommen. Kann es eigentlich noch schlimmer werden?
Mir wird übel. Er ist doch genau nach Anellas Geschmack. Diese blonden Locken und dazu diese schrecklich strahlend grünen Augen. Hatte sie mir nicht mal gesagt, dass sie auf grüne Augen steht? Damals, als wir in der Schule nachsitzen mussten und sie diese auf ein Blatt Papier malte.
Erst jetzt wird mir klar, dass es seine gewesen sind. Sie hat dabei an ihn gedacht. Von mir hat sie hingegen noch nie die Augen gemalt. Ich merke, wie sich mein Herz schmerzhaft zusammenkrampft.
„Dann nehme ich an, weißt du, wer ich bin?" Er steht nach wie vor mit der Buche verbunden am Waldrand und betrachtet mich. In seinem Blick erkenne ich etwas, was ich auf keinen Fall von ihm sehen will.
Besorgnis. Er soll mich gefälligst hassen. Er soll in mir eine Konkurrenz sehen und niemanden, um den man sich Sorgen machen muss.
Ich merke, wie die Wut und Verzweiflung in mir hochkocht. Es schießen mir so viele Dinge durch den Kopf, mit welchen ich ihm am liebsten vertreiben würde, doch stattdessen sage ich einfach nur; „Ja."
Tyrian nickt. „Anella hat dir also alles erzählt?" Ich blicke auf. Ich muss aufmerksam sein. Vielleicht komme ich über ihn an Informationen, die Anella bisher für sich behalten hat?
„Natürlich!" Ich verschränke trotzig meine Arme vor der Brust, aber zugleich auch, um zu verhindern, dass mir das Herz jeden Augenblick durch die Verzweiflung aus der Brust springt.
Das war vielleicht nicht gerade die schlauste Antwort, wenn ich an Informationen gelangen will, aber meine Gehirnsynapsen funktionieren gerade einfach nicht mehr. Stattdessen spielen sie immer wieder in Dauerschleife das Horrorszenario ab, wie Anella reagieren wird, wenn sie ihn sieht.
Oder noch schlimmer. Was, wenn er auf diese Ebene hier gekommen ist, um sie wirklich zu holen? Um sie mit sich in seine Welt zu nehmen? Und was, wenn Anella mit ihm will? Ich weiß genau, dass sie diese Sehnsucht in sich trägt. Selbst, wenn es nicht Tyrian wäre, sondern jemand anderes. Wie würde sie sich entscheiden, wenn sie die Wahl hätte, die Welten zu wechseln?
Sofort schießt mir das Gefühl meines Traumes wieder ins Bewusstsein. Wie sie mir immer weiter entgleitet und nichts als düstere Leere zurücklässt. Ein stechender Schmerz bohrt sich in meine Brust, obwohl Anella noch nicht einmal von seiner Anwesenheit weiß.
Mein Mund fühlt sich unglaublich trocken an und dennoch zwinge ich die Frage heraus, die ich ihm unbedingt stellen muss.
„Wieso bist du hier?"
Einen Augenblick liegen seine Augen auf mir und er scheint zu überlegen, was er antworten soll. Ich glaube ihm liegt etwas auf der Zunge, von dem er nicht sicher ist, ob er es mir sagen wird.
„Ich möchte gerne Anella sehen. Könntest du ihr vielleicht Bescheid sagen, dass ich hier am Waldrand auf sie warte?" Ich höre eine leichte Unsicherheit aus seiner Stimme, genau wie die unterdrückte Aufregung, welche wohl auch ihn erfüllt. Das ist gar kein gutes Zeichen. Er empfindet noch etwas für sie.
Mein Herz setzt aus, als seine Worte zu mir durchdringen.
Was??
Er glaubt doch nicht wirklich, dass ich Anella auch noch zu ihm hinbringen werde.
„Was willst du von ihr?" Ich presse meine Lippen zusammen und merke, wie das Blut in meinen Adern wie unter Starkstrom steht. In meinen Ohren rauscht es und ich habe Mühe noch bei klaren Gedanken zu bleiben.
Kurz hält er inne und sieht mich nachdenklich an, ehe er antwortet. „Ich möchte mit ihr reden."
Das sind seine Worte. In seinen Augen sehe ich jedoch nur allzu genau den wahren Grund. Er will sie sehen.
Er will sie verflucht nochmal... Ich balle meine Hände zu Fäusten und versuche tief durchzuatmen, doch es gelingt mir einfach nicht.
„Kann ich dir denn vertrauen?" Meine Stimme klingt hohl, krächzend und mir vollkommen fremd. Das darf alles nicht sein. Was passiert hier gerade?
„Keine Sorge, ich habe nicht vor sie dir wegzunehmen, Kuno. Ich möchte sie wirklich nur einmal sehen."
„Und woher soll ich wissen, dass du die Wahrheit sagst?" Tyrians Mundwinkel zuckt schon wieder. Dieses selbstbewusste, viel zu ehrliche Lächeln, welches mich einfach ankotzt. „Ich kann dir darauf nur mein Wort geben. Den Rest musst wohl du selber entscheiden."
Ich presse meinen Kiefer aufeinander. Kann er nicht lieber etwas sagen, worauf ich leichter eingehen kann? Irgendwas, was ihn verrät? Etwas, was mich ins Zweifeln bringen könnte?
„Und kann ich deinem Wort trauen?" Seine Miene wird wieder ernster, während er mich eindringlich ansieht. „Was ich sage, meine ich auch so!" Es scheint die Wahrheit zu sein, auch, wenn ich nicht weiß, ob das genug ist.
Das ist es ganz und gar nicht. Immerhin könnte es dennoch sein, dass Anella es anders sieht. Es wird so sein. Das weiß ich. Tief in mir weiß ich, dass ich nie genug für Anella sein werde. Ich bin nie genug. Ich bin nichts und habe es nicht verdient, mit ihr... Stopp.
Ich unterbreche diese Gedanken, welche ich nur zu gut von mir kenne und von denen ich weiß, dass sie nur in eine einzige Richtung führen. Und zwar in die Abwärtsspirale.
Gerade sehe ich keine andere, doch zumindest sollte ich nicht in dieser Weiterlaufen. Nicht, wenn ich einen klaren Kopf behalten will. Nicht, wenn Anella meine Präsenz braucht. Nicht, wenn vielleicht alles davon abhängt, was ich jetzt tue.
Der Kloß in meinem Hals wächst heran und presst sich schroff gegen meine Stimmbänder und Luftröhre, doch ich ignoriere es.
Stattdessen trete ich nun in wenigen Schritten auf ihn zu, sodass ich ihm nun direkt ins Gesicht sehen kann. Verdammt, er ist auch noch größer als ich, was bei mir nicht sehr oft vorkommt, da ich mit meinen 1,91m auch nicht gerade als klein gelte. Dass er mich selbst hier überragt, ist nur noch frustrierender.
„Mein Vertrauen musst du dir erst verdienen. Solange ich das nicht tue, werde ich Anella begleiten. Egal, wo sie auch hingeht!"
Er schluckt, nickt dann aber. Wie es aussieht, hat er es verstanden. Das hoffe ich zumindest.
„Das Gleiche gilt andersherum übrigens auch." Was?
„Ich habe dich im Auge, Kuno." Ich ziehe meine Brauen zusammen und merke, dass ich ihm nun wohl wütende Funken entgegen feuere. „Ich würde Anella nie etwas antun!", zische ich schon beinahe und weiß noch nicht einmal, woher diese Wut genau kommt. Wahrscheinlich ist es auch Verzweiflung. Darüber, dass ich jetzt gleich Anella gegenübertreten werde und ihr sagen muss, dass...
Ich schaffe es nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken.
„Das ist gut. Ich glaube dir. Das mit dem Vertrauen muss ich zwar noch sichergehen, aber ich sehe die Wahrheit in deinen Augen. Das habe ich schon damals, weshalb ich sie auch zu dir gelassen habe."
In mir spüre ich, wie das Blut noch heißer wird. „Das war ganz und gar Anellas Entscheidung. Da hast du rein gar nichts mitzureden!" Tyrian nickt. „Stimmt. Aber ich hätte mich anders verhalten, wenn ich mir nicht sicher gewesen wäre, dass du ihr nichts Böses willst."
Ich schmälere misstrauisch meine Augen. „Wieso sollte ich?" Irgendwas an seinem Blick hat mich gerade hellhörig gemacht. Er betrachtet mich abschätzend. „Das heißt, sie hat es dir nicht gesagt?"
Mir wird ganz kalt. Was meint er bitte? „Was nicht gesagt? Gibt es denn etwas, was ich wissen sollte?" Ich sehe, wie sein Blick nachdenklich wird. „Ich denke schon, aber dafür sollten wir Anella dabei haben, meinst du nicht?"
In meiner Brust pocht es. Bitte, ich muss jetzt Ruhe bewahren und darf mir meine Panik erst recht nicht anmerken lassen.
„Wieso? Du kannst es mir auch jetzt einfach sagen."
„Das stimmt, aber so wie ich sie kenne, will sie es dir, wenn dann selber erzählen." Meine Fingernägel bohren sich in meine Handflächen, während mein Kiefer schon scheint in seiner starren Verfassung eingefroren zu sein. Darum gelingt es mir auch nur mehr meine Lippen in einer geraden Linie aufeinander zu pressen.
Mir gefällt es nicht, dass er es so klingen lässt, als würde er Anella gut kennen. Verdammt, er kennt sie überhaupt nicht. Zumindest will ich das nicht. Bitte. Ich weiß noch nicht einmal für was ich eigentlich bitte, doch meine Gedanken lassen sich einfach nicht mehr einordnen.
Wieder folgt eine Weile Stille, in welcher ich damit kämpfe meinen Atem wiederzuerlangen und meinen verspannten Kiefer zu entspannen.
„Ich werde ihr Bescheid geben, dass du da bist, doch es könnte eine Weile dauern. Sie ist gerade im Unterricht. Warte also hier."
Noch ehe er antworten kann, drehe ich mich um und laufe hastig Richtung Schulgebäude. Als ich durchs Tor getreten und dann die große Tür hinter mir geschlossen habe, lehne ich mich schwer atmend, doch mit aller Kraft dagegen, als könnte ich so das Unheil aufhalten, welches draußen auf uns lauert.
Anella. Verdammt. Nein. Bitte... Ich merke, wie meine Sicht verschwimmt und wische hastig die dumme Träne beiseite, welche sich aus meinen Augen gedrängt hat. Es gibt keinen Grund dafür. Noch ist nichts verloren.
Ich könnte zusammen mit Anella fliehen. Sie müsste nie davon erfahren, dass Tyrian hier ist, um sie mit in seine Welt zu holen. Zumindest ist es das, was ich nach wie vor vermute. Auch wenn er behauptet, dass das nicht der Grund ist, weshalb er da ist. Ich habe in seinen Augen gesehen, dass sie ihm immer noch etwas bedeutet. Viel zu viel. Und dass tief in ihm der Wunsch nistet, dass sie zu ihm zurückkommt, auch wenn er selber es sich nicht eingesteht.
Erst jetzt merke ich, dass meine Hände zittern und ich zwinge sie stillzuhalten, doch es klappt nicht so ganz. Verflucht, jetzt beruhige dich mal!
Ich schaffe es nicht. Stattdessen merke ich wie dieser Drang in mir aufkeimt schnell zu Anella zu gehen. Ich muss sie sehen. Ich weiß, dass nur das mich beruhigen wird. Zugleich versuche ich nicht allzu blass zu wirken, weshalb ich mir ein paarmal kräftig in die Wangen kneife und in dem Spiegelbild einer Scheibe kurz prüfe, dass man auch wirklich nichts mehr meiner Tränen sehen kann.
Wenn ich Anella überzeugen will, dann darf sie nicht sehen, wie es in mir aussieht.
Ich könnte ihr erzählen, dass ich eine Überraschung für sie habe, wir dafür aber den Hinterausgang benutzen müssen. Darüber könnten wir vielleicht ungesehen verschwinden. Allerdings muss ich ihr dann auch irgendwie erklären, dass wir dafür nicht mein Auto nehmen können und ohnehin würde mich Anella alleine beim ersten Satz schon durchschauen, da bin ich mir ziemlich sicher.
Ich taumele auf den Gang, bis ich vor ihrem Klassenzimmer stehe. Mein Herz pocht so wild, dass ich gleich befürchte, es verheddert sich selbst an seinen eigenen Verstrickungen. Ich habe keine Ahnung, was ich hier überhaupt tue. Irgendetwas in mir scheint mit mir durchzugehen, was ich noch nicht einmal beeinflussen kann.
Plötzlich erstarre ich, als ich das vertraute Prickeln in meinem Nacken fühle. Allerdings nicht aus der erwarteten Richtung. Erstaunt drehe ich mich zu ihr um.
Da ist sie. Mitten im Gang. Ihre leuchtend blondroten Haare und strahlenden Augen, welche mich besorgt ansehen. Verdammt. Sie hat wohl schon gemerkt, dass etwas nicht stimmt.
Habe ich etwa wieder zu zittern begonnen? „Kuno, was ist los?"
Ich versuche mich an einer möglichst lässigen Körperhaltung, in welcher ich nur locker mit der Schulter zucke und dabei meine Hände tief in der Hosentasche vergrabe.
Mann, ich muss ja jetzt schon aussehen, als hätte ich etwas ausgefressen, dabei habe ich doch noch gar nicht angefangen mit dem Lügen.
Mein Mund öffnet sich, doch ich bekomme keinen Ton über die Lippen.
Scheiße.
In diesem Augenblick wird mir klar, dass ich das nicht tun darf. Ich kann ihr diese Entscheidung nicht abnehmen. Zudem muss sie mir doch vertrauen können. Ich könnte es niemals mit meinem Gewissen vereinbaren, Anella in so einer Sache zu belügen.
Zudem könnte es sein, dass ich es damit nur noch schlimmer mache. Was wäre zum Beispiel, wenn sie durch irgendeine Fügung doch noch auf Tyrian treffen würde und herausfände, dass ich sie angelogen habe?
Wenn sie mir dann nicht mehr vertraut und dadurch erst recht zu ihm zurückkehrt? Mir wird ganz übel bei dieser Vorstellung.
„Kuno, du bist ganz blass. Fühlst du dich nicht gut?"
Mit einem Satz ist sie bei mir und hält ihre Hand an meine Stirn. Na toll, das mit meinen Überspielungsküsten hat auch schonmal besser geklappt. Seitdem wir zusammen sind, kommt es mir so vor, als würde sie alles von mir durchschauen. Sowas bin ich einfach nicht gewohnt.
„Nein, alles gut." Sie runzelt ihre Stirn.
„Wenn du das sagst, dann ist es alles andere als das."
„Blödsinn." Ich versuche mich an einem Lächeln und zucke abermals mit den Schultern. Wieso mache ich das eigentlich ständig? Am Ende denkt sich noch, ich habe einen Schüttelfrost. Was ja auch stimmt, wenn auch nicht im Schulterbereich.
„Komm." Ich greife sie bei der Hand und ziehe sie in die entgegengesetzte Richtung vom Ausgang. So weit weg von diesem Tyrian, wie es nur geht. Ich will noch ein paar Sekunden ausnutzen, bevor sie es weiß. Ein paar Sekunden, in denen es nur uns zwei gibt. In denen...
Autsch... Ich stolpere über meine eigenen Schuhspitzen und stoße dabei ungeschickt gegen die Tür, welche sich daraufhin auch noch öffnet. Anella ziehe ich dabei notgedrungen hinter mir her, da wir unsere Hände nicht losgelassen haben.
„Mist, tut mir leid." Ich wirbele besorgt zu ihr herum und versuche sie aufzufangen, doch das hat sie bereits selber schon längst getan.
Nun löst sie tatsächlich ihre Hand aus meiner und stemmt sie stattdessen in ihre Seiten. Wow, ihr Blick. Ich liebe es, wenn sie mich so ansieht. So herausfordernd. So gefährlich beharrlich.
„Kuno, jetzt sag mir sofort, was los ist!"
Ich liebe es. Diese sanfte Kraft in ihrer Stimme. Sofort breitet sich Gänsehaut auf mir aus. Wenn vielleicht auch aus zwei gemischten Gefühlen.
Im nächsten Moment ziehe ich sie schwungvoll an mich und presse dann meine Lippen stürmisch auf ihre. Ich fordere sie heraus, als könnte es das letzte Mal sein, in welchem wir das tun. In meinem Kopf will ich mir diesen Gedanken verbieten. Das ist es nämlich nicht und dennoch fühlt es sich an, als würde mir der Boden unter den Füßen weggerissen.
Der Kuss wird immer verzweifelter, während ich nicht aufhören kann immer mehr von ihr zu wollen. Sie ist alles, was ich brauche, alles, was ich will und alles, was ich liebe. Alles was die Welt an Wunder hervorgebracht und in einem einzigen Wesen vereint hat. Sie ist mein Wunder und zugleich befürchte ich, dass das zu schön ist, um auf lange Sicht wahr zu sein.
Ich klammere mich an den letzten dünnen Faden meiner Hoffnung und versuche diesen mit der Intensität unseres Kusses zu stärken.
Wir keuchen beide mehrmals auf. Inzwischen habe ich sie an die Wand gepresst und fühle plötzlich nackte Haut unter mir und dann ihre zierlichen, doch erstaunlich kräftigen Hände, welche sich zärtlich, doch bestimmt auf die meinen legen, um mich zu stoppen.
Ich halte abrupt inne, als ich bemerke, dass ich gerade in Begriff war, ihr die Kleider vom Leib zu reißen. Hier. Mitten in der Einbuchtung des Notausgangs dieser Schule.
Hitze schießt mir ins Gesicht. Und Wut. Wut auf mich selbst. Was, wenn sie jemand so gesehen hätte? Meine Aufgabe ist es doch auf sie aufzupassen und was tue ich? Falle stattdessen über sie her und vergesse dabei alles um uns herum.
Ich fahre mir aufgebracht durchs Haar und versuche dabei wieder zu Atem und vor allem Verstand zu kommen.
„Was war das?", fragt sie keuchend und mit großen Augen. „Kuno, bitte sag mir endlich, was los ist!"
Ich schlucke mehrmals heftig und versuche mich daran zu hindern, einfach wieder in ihren Kuss zu flüchten und dabei alles zu vergessen.
Die Bedrohung, welche über uns schwebt und sie von mir wegreißen will. Ich weiß es ganz genau.
Schon lange. Seit das mit diesen verfluchten Träumen angefangen hat.
„Bitte, Kuno, du machst mir Angst." Ich weite meine Augen. Ich mache ihr Angst. Meint sie das ernst? Oder meint sie mein Verhalten? Ich bin so geschockt, dass ich nicht anders kann, als sie anzustarren.
„Kuno, was ist es?"
Ich fühle, wie die Welt über mir zusammenbricht, als ich merke, dass es Zeit wird, ihr die Wahrheit zu sagen. Ich kann es nicht mehr länger vor ihr geheim halten, auch, wenn das bedeutet, dass ich sie vielleicht ver...
Nein. Nein-nein-nein!
Daran werde ich gar nicht erst denken!
Ich beiße mir auf die Lippe, während ich sie einfach nur ansehe, ohne einen Ton herauszubekommen.
„Kuno", haucht sie mir entgegen. In ihren Augen erkenne ich tiefe Besorgnis.
„Du kannst es mir sagen, Kuno. Was auch immer geschehen ist."
Meine Hand tastet nach dem kleinen zerknickten Grashalm in meiner Hosentasche. Diesen tue ich nach jedem Waschen wieder von Neuem da rein, um ihn immer bei mir zu haben. Vielleicht bin ich verrückt, aber das tut jetzt nichts zur Sache.
„Keine Angst Anella. Du brauchst niemals Angst vor mir zu haben, weißt du?" Meine Stimme bricht zum Ende hin. Anella sieht mich perplex an.
„Was? Das habe ich doch auch nicht."
„Aber sagtest du nicht gerade..." Ihr entgeisterter Blick bringt mich dazu nicht weiterzusprechen.
„Kuno, ich meinte den Kuss. Ich finde beängstigend, wie du dich verhältst. Als wäre... Als wäre das hier ein Abschied." Ich merke, wie sie bei ihren eigenen Worten zusammenzuckt. Genau wie ich übrigens.
„Das ist es nicht. Bestimmt ist es das nicht!", versuche ich uns beide zu beruhigen. Doch scheinen meine Worte nur noch mehr Entsetzen in ihr auszulösen.
„Kuno, wenn du mir jetzt nicht sofort sagst, was los ist..." Sie lässt den Satz unvollendet und sieht mich aus stechend ängstlichen Augen an.
Nun gibt es kein Entkommen mehr. Ich muss es aussprechen. Mit einem Räuspern versuche ich den mächtigen Kloß in meinem Hals hinunterzuwürgen.
„Vor der Schule am Waldrand wartet jemand auf dich", krächze ich und kann nicht verhindern, dass sich diese Schwere schlagartig wieder auf meine Brust nistet.
Anellas Augen werden noch größer und ich sehe Irritation in ihnen.
„Wer?" Ich starre auf ihre Hände, während ich meine aus den Hosentaschen ziehe, um diese fest mit ihren zu verschließen. Dann jedoch lasse ich sie wieder los. Ich muss sie loslassen. Oder?
In meinem Hals steckt so ein schmerzhafter Stachelkloß, welcher von Sekunde zu Sekunde an Größe gewinnt, während es in meiner Brust vor Aufregung Achterbahn fährt und sich ein tiefes Stechen bis ins Mark meines Herzens vorbohrt.
Vielleicht irre ich mich ja auch. Vielleicht wird Anella ganz anders entscheiden? Vielleicht ist meine Sorge vollkommen unbegründet?
Scheiße. Sie waren zusammen... und sie liebt ihn. Das meinte sie ernst. Zudem kommt die Tatsache, dass sie sich bisher noch nie in echt gesehen haben und er nun da ist. Das ist verdammt nochmal einer der größten Albträume, die ich mir nur vorstellen kann.
Sie wird sich in ihn verlieben. Noch viel stärker als vorher. Ich habe ihn gesehen. Er ist ihr so ähnlich. Sie würden viel besser zusammen passen, als wir. Ich weiß es, wie sehr ich mich auch dagegen wehre und diesen Gedanken mit Händen und Füßen zu treten versuche.
Wer bin ich schon im Vergleich zu ihm. Ein Niemand. Ein kaputter, geistesgestörter Freak.
„Kuno?" Anellas Stimme reißt mich wieder zurück in den Moment. „Kuno, wer ist es?", will sie von Neuem wissen und mir wird abermals schwindelig, als mir klar wird, dass ich es ihr jetzt sagen muss. Verdammt, ich muss es echt tun.
Wir können nicht mehr fliehen. Sie würde ohnehin nicht mitkommen, das weiß ich. Ich habe es nicht in meiner Macht, was geschieht. Es liegt einzig und alleine an Anella und mir wird nichts anderes erlaubt sein, als dabei zuzusehen, wie Anella und dieser... Tyrian sich sehen und... und... Ich bekomme keine Luft mehr, als immer tiefer dringt, was das eventuell bedeutet.
Was, wenn ich sie danach nie mehr wieder sehe? Was, wenn sie geht? Mit ihm? Wenn sie sich doch für ihn entscheidet, jetzt, wo er da ist? Bei diesem Gedanken knotet sich mein Herz mit so einer Kraft zusammen, dass es sich anfühlt, als würde alles Leben, wie aus einem Lappen aus mir heraus gewringt.
Mir ist heiß und kalt zugleich. „Kuno, jetzt sag schon, wer es ist!" Ich versuche Luft zu holen, doch meine Lungen wollen die Sauerstoffmoleküle einfach nicht in meine Blutkörperchen entlassen.
„Tyrian", bringe ich gepresst hervor und mein Herz wird noch schwerer als ich Anellas Gesichtsausdruck sehe.
***
Nun ist es so weit. Anella und Tyrian werden sich in echt begegnen. Was denkt ihr, könnte geschehen? Konntet ihr Kunos Angst ein wenig nachvollziehen? Ich bin super gespannt auf eure Kommentare.
Hab' euch lieb, eure See. <3
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