6. „Vertrau dir!"
„Mit dem Ring?" Irritiert runzele ich die Stirn. Ich weiß genau, welchen Ring er meint und mir wird schlagartig kalt, bei der Erinnerung, zu was dieser imstande ist. „Wie soll das funktionieren?"
Tyrian sieht nachdenklich auf die Wiese, während er überlegt. „Verbinde den Ring energetisch mit dem Schlüssel! Wenn du es beginnst, wirst du wissen, wie es funktioniert! Vertraue einfach deinem Instinkt!"
Ich weite leicht überfordert meine Augen. „Ich habe keine Ahnung, wie man sowas macht, Tyrian!" Nun wendet er sich wieder zu mir und sieht mich warm an. Ich erkenne Überzeugung in seinem Gesicht.
„Hast du denn vorher gewusst, wie man ein Portal in die andere Welt öffnet?" Sein Blick deutet zu der ausgebrannten Esche, welche die Pforte zu dieser Traumebene hier darstellt und für wessen jetziges Schicksal ich mit verantwortlich bin.
Bei der Erinnerung, fühle ich plötzlich wieder diese enorme Zugkraft und das Feuer, welches von außen, als auch innen in mir brannte und auch immer noch brennt. Das Feuer, welches sich tief in mir nach Hause sehnt.
„Nein."
Tyrians Blick ist weich und eingehend. „Doch etwas in dir, hat das Wissen zugelassen! Dieses liegt tief in dir verborgen! Lass dich einfach durch dein Herz zu diesem Wissen hinführen, dann weißt du, was zu tun ist!"
Ich lasse mir seine Worte kurz durch den Kopf gehen. „Wie soll ich das machen?" Unsere Augen verfangen sich ineinander. „Vertraue dir, Anella!"
Mein Herz flattert bei seinen Worten und auch dieser gewaltigen Präsenz, die er gerade ausstrahlt. Ich soll mir vertrauen? Tue ich das etwa nicht?
Die Tatsache, dass ich es anscheinend tatsächlich nicht wirklich mache, ist erschreckend und gleichzeitig eine Erinnerung, dass es auch schon Momente gab, in es doch konnte. Irgendwie habe ich das Gefühl, als bräuchte ich in der Zukunft besonders viel von dem Vertrauen, an mich selbst.
Hoffentlich, werde ich dieses Vertrauen nicht verraten!
Er streift mir mit seiner Hand über die Wange, ehe sein Gesicht wieder nachdenklich wird und er erneut zur Esche sieht, während seine Gedanken weiterarbeiten.
„Wo genau ist das Haus?" Ich hole die Landkarte aus meiner Tasche, die ich mir extra zum Schlafen gehen umgezogen habe und falte sie auseinander. „Hier!" Ich deute auf einen Platz mitten im Wald, welchen Margaret Stuper mir extra rot markiert hatte.
„Der Weg verläuft hier rüber, die Straße beginnt erst da hinten und die ersten Häuser noch weiter weg! Man gelangt quer durch den Wald, zu dem Häuschen, da die Wege schon lange nicht mehr existieren.
Weiter hinten gibt es irgendwo noch alte, verwilderte Wege, welche mal zu einer Fabrik geführt haben. Diese ist allerdings mittlerweile eine Ruine und umgeben von Wald, welcher zu einem Naturschutzgebiet gehört."
Ich deute mit dem Finger auf eine Stelle der Karte, wo ich diese vermute. Tyrian runzelt die Stirn. „Im Schwarzwald gibt es, soweit ich weiß, genau drei Pforten. Zwei davon werden bewacht. Die andere ist stillgelegt." Ich reiße meine Augen auf. „Pforten?"
Daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht. Ich war so darauf fokussiert einen geeigneten Ort zu finden, welcher weit genug von der Zivilisation entfernt ist und außerdem waren meine Gedanken ohnehin, in letzter Zeit viel mehr damit beschäftigt, eine Lösung, wegen der Baupläne des Bürgermeisters unserer Stadt zu finden.
Die Orte, von Naturschutzgebieten, welche ich Tyrian zuvor vorgeschlagen hatte, schloss er immer sofort aus, da er dort die Pforten schon auswendig wusste.
„Weißt du, wo diese Pforten sind?" Meine Stimme klingt wieder etwas angespannter. Wenn dort jetzt irgendwo eine in der Nähe ist, dann habe ich echt keine Idee, wo ich zur Sonnenwende hin kann, ohne wirklich weit zu verreisen.
Immerhin ist es mitten in der Woche! „Ich werde mal nachsehen!" Er beugt sich nochmals über die Karte und holt dann das Gefäß hervor, welches er, an seinem Gürtel befestigt, immer dabei hat.
Es sieht aus, wie eine Flasche aus irgendeinem, nicht wirklich zu definierendem Material. Dann öffnet er den Verschluss und lässt einige Tropfen der durchsichtigen Flüssigkeit auf seine Hand fallen.
„Was tust du da?", frage ich verwirrt, doch halte sofort inne, als ich sehe, dass die Wasserpartikel sich aus seiner Hand zu lösen beginnen und wie feiner Nebelstaub, in die Luft und dann über die Karte schweben. Fasziniert verfolge ich, wie dieser sich über sie legt, wie ein Schleier, des Gedächtnisses.
Es vergehen einige Augenblicke, in welchen sich die Strahlen der Sonne, in diesem Nebel spiegeln und ihn in allen Regenbogenfarben schimmern lassen.
Dann versammeln sie sich plötzlich wieder zu einem Erbsengroßen Tropfen, welcher zu einer der Blüten schwebt, welche ähnlich wie eine Glockenblume aussieht, allerdings um einiges größer ist.
Schon von Anfang an war ich fasziniert von den zauberhaften Blumen, welche in dieser Traumebene, auf der Lichtung wachsen, doch als sich, sobald sich das Wasser in ihre Blüte begeben hat, ihre Blütenblätter schließen, liegt es dafür an meinem Mund sich zu öffnen.
„Was ist da geschehen?"
"Das Wasser speichert alles, was ihm begegnet. Jede Schwingung, jedes Gefühl, jedes Abbild! Wasser ist dazu in der Lage, Informationen zu überbringen. Daher wird es von uns auch oft, als Übermittler von Botschaften verwendet.
Da Wasser kognitiv, mit allem verbunden ist, ist es ein praktischer Weg, um mit anderen, in Verbindung zu treten und zu kommunizieren. Es bildet sozusagen eine Zwischenfrequenz, zwischen der feinstofflichen und grobstofflichen Ebene."
Erstaunt, starre ich auf die Blüte, wessen Blütenblätter sich mittlerweile, fest verschlossen haben, sodass kein einziger Tropfen, Wasser daraus hervordringt.
„Und das heißt, wenn du das Wasser bei dir im Archiv, vor der Karte, mit den Pforten, wieder herauslässt, zeigt es dir die gespeicherten Bilder, die es soeben aufgenommen hat? Ähnlich wie ein Foto?"
„Ganz genau!" Er lächelt mich an. „Aber wie kommt es, dass diese endlos kleinen Wasserpartikel dann wieder in der richtigen Anordnung zusammenfinden, sodass das richtige Bild entsteht?"
„Du willst alles ganz genau wissen, oder?" Sein Lächeln wird breiter. „Ganz einfach, die Gesamtbotschaft des Bildes steckt in jedem kleinsten Partikel verborgen. Im Grunde bräuchten wir, um das Bild hinterher wieder zu erhalten, eigentlich auch nur die kleinste Wasserspur. Doch umso mehr Wasser, desto klarer ist es für uns!"
Wow. Mein Blick huscht wieder zu der Karte, über welche eben noch das Wasser schwebte. Sie sieht so groß aus. Wie kann diese Masse an Informationen, nur in so kleinen Moleküle zu passen?
Ist das dann mit dem Wasser, was wir tagtäglich trinken, genauso? Ist das vielleicht der Grund, weshalb mir immer etwas komisch wird, wenn ich das Wasser aus der Leitung trinke?
Liegt es daran, dass es all die Informationen, der Abwasserkanäle und Kläranlagen, in sich gespeichert trägt? Bei diesem Gedanken überkommt mich ein tiefes Mitgefühl. Darüber, was das Wasser hier auf unserem Planeten schon alles erleben musste.
Es wird zum Spülen verwendet, in Fabriken, für die Reinigung dreckiger Orten, oder sogar als Riesen-Mülleimer...
Mit wird übel, bei diesen Gedanken. Plötzlich fühle ich die Verbundenheit, welche das Wasser, zu so gut wie allem Leben hier herstellt.
Es fließt auch durch meine Adern, genau, wie durch die, aller anderen Menschen, Tiere, Pflanzen und auch den Adern der Erde. Durch Fels und etliche Erdschichten, aber eben auch durch die Abwasserkanäle, der Gesellschaft.
Ob sich die Informationen des kognitiven Wassers, durch meine Adern hindurch, vielleicht auswechseln lassen, so ähnlich wie es ist, wenn ich mich mit Bäumen verbinde, welche, durch die Umwelt, sehr geschwächt sind, genau wie bei mir?
Dann ist es meistens so, dass wir uns Informationen austauschen und hinterher gegenseitig voneinander gestärkt hervortreten. Als wäre es unsere Aufgabe, uns einander zu reinigen und zu stärken.
Plötzlich habe ich das Gefühl, dass es mit dem Wasser genauso sein könnte und gleichzeitig erscheint mir diese Aufgabe so unermesslich groß und ausweglos, da es auf der Welt so unendlich viel Wasser gibt, welches Liebe und Heilung bedarf!
„Wie könnt ihr denn die Informationen aus dem Wasser lesen?" Neugierig sehe ich zu ihm hoch und merke, dass er mich wohl die ganze Zeit aufmerksam beobachtet haben muss.
Etwas verlegen darüber, dass ich so in Gedanken abgedriftet bin, huschen meine Augen kurz weg von seinem Gesicht und stattdessen auf seinen nackten Oberkörper.
Schnell sehe ich doch wieder zu ihm hoch, damit mein Gesicht nicht noch die Farbe, einer überreifen Tomate annimmt. Das ist bei so einem Abbild, nämlich alles andere als unwahrscheinlich.
„Wir verbinden uns einfach mit dem Element!" Seine Stimme klingt dunkel, warm, erheitert und wie der Gesang eines lauen Sommerwindes durch raschelndes frisches Laub. Ich runzele meine Stirn. „Und wie macht man das?"
Seine Mundwinkel verziehen sich amüsiert nach oben. „Glaube mir, Anella, du weißt es!" Ich sehe ihn irritiert an. „Du meinst, das ist wieder das mit dem Wissen in meinem Herzen, welches ich nur anknipsen brauche?"
Tyrian grinst. „Ganz genau!" Ich runzele die Stirn. „Aber ich habe keine Ahnung, wie man das macht!"
Er wirft mir einen zweifelnden Blick zu. „Dann bin ich mir sicher, du wirst es herausfinden! Wie gesagt, vertraue dir einfach!"
Er zwinkert mir schelmisch zu, während sich ein hinreißendes Lächeln auf seinem Gesicht gebildet hat, welches meinen Körper schlagartig anfühlen lässt, wie als bestehe er nicht aus Fleisch und Blut, sondern irgendeiner seltsamen Masse, mit welcher ich nichts anfangen kann.
„Okay." Meine Stimme hört sich merkwürdig an. Irgendwie eine sonderbare Mischung aus piepsig und rau, welche obendrein noch nicht einmal eine intelligentere Erwiderung zustande bringt als: Okay...
Ich meine, hallo? Gehirn? Irgendwie muss ich mich ablenken, wenn ich mich jetzt nicht vollkommen in seinem verschmitzten Lächeln, zu einer Pfütze auflösen will.
Die Sonnenwende scheint mich also sogar schon bis in die Träume zu verfolgen. „Und... und das Material deiner Flasche? Was ist das?" Er blinzelt kurz, ehe er seinen Blick von meinem löst und stattdessen hinunter auf sein Gefäß sieht, aus welchem er eben das Wasser erhalten hatte.
„Das ist Kirmayablatt. Es ist sehr reißfest!" Erstaunt weiten sich meine Augen. Also doch ein Blatt. So etwas ist der Art, habe ich mir doch gedacht. "Darf ich mal?", frage ich und halte meine Hand leicht nach vorne, um ihm anzudeuten, es gerne berühren zu wollen, auch wenn ich es natürlich nicht spüren werde.
„Na klar!" Er löst es von seinem Gürtel und reicht es mir, sodass ich es ehrfürchtig entgegennehme. So lange wollte ich es schon, mal genauer ansehen. Seit unserer ersten Begegnung, um genau zu sein. Wie es wohl verschlossen wurde?
„Wie hast du das gemacht, dass das Wasser dort nicht hinausläuft? So wie eben mit der Blüte? Ist es ein Zauber?" Als keine Antwort kommt, löse ich doch meinen Blick, von dem faszinierenden Behältnis in meinen Händen und sehe zu ihm hinauf.
Ich merke, wie seine Augen gedankenverloren auf mich gerichtet sind und es in seinem Kopf arbeitet, doch ich habe keine Ahnung, in welche Bereiche seine Gedanken gehen.
Sein Blick fühlt sich warm an, wie die Sonnenstrahlen im Frühling und gleichzeitig auch mit einer Brise Besorgnis, doch auch Zuversicht!
Diesmal liegt es an meinen Lippen, sich zu einem Lächeln zu verziehen. „Woran denkst du gerade?", will ich wissen und betrachte wieder weiter das Gefäß in meinen Händen, um ihm ein bisschen Raum zum Antworten zu geben.
Ich höre, wie er durchatmet. Als nichts kommt, denke ich schon, dass er vielleicht so tief in Gedanken versunken war, dass er mich gar nicht gehört hat, doch so ist es nicht.
„Ich versuche mir vorzustellen, wie das Leben auf der Erde für dich sein muss. Wie es ist, wenn man alleine ist und die anderen einen nicht verstehen können. Ich glaube du bist viel stärker, als du wahrscheinlich annimmst!" Er sieht mir bedeutungsvoll in die Augen. „Du warst dein ganzes Leben lang, auf gewisse Weise alleine, ohne zu wissen, was in dir steckt.
In einer Welt, die deiner Natur so gegensätzlich ist, wie es nur sein kann. Wo es kaum mehr genügend reine Wälder und Bäche gibt. Und trotzdem hast du immer weiter gemacht, hast dich durchgebissen und bist zu dem wundervollen Wesen geworden, welches jetzt hier gerade vor mir sitzt und mich aus diesen wahrhaftigen, strahlenden Augen ansieht".
Er lächelt leicht, doch ich kann sehen, dass da auch noch andere Emotionen in ihm sind, welche verhindern, dass es vollkommen seine Augen berührt. Ist es Trauer?
„In dir steckt etwas, was beide Ebenen gewissermaßen miteinander vereint. Du trägst so viel Herzfeuer und Kraft in dir und bist dir dessen, glaube ich, nur selber noch nicht einmal wirklich bewusst."
Ich schlucke. „Du irrst dich! Ich bin in Wirklichkeit überhaupt nicht stark, Tyrian. So wie ich hier, bei dir bin, ist es ganz anders, als ich normalerweise in der Menschenwelt lebe.
Ich komme mit dieser irgendwie nicht so wirklich zurecht und gleichzeitig, ist sie auch wieder, auf gewisse Weise ein Teil von mir. Es ist meine Aufgabe, hier zu sein."
Diese Worte sind ausgesprochen, noch ehe ich sie wirklich begriffen habe. Erst als ich ihre Bedeutung auf meiner Zunge schmecke und ich den letzten Satz nicht mehr zurücknehmen kann, wird mir bewusst, dass es wahr ist. Ich habe Aufgaben hier auf dieser Ebene. Vielleicht kenne ich sie nur noch nicht alle.
Tyrian sieht kurz nach unten auf die Wiese, als wollte er nicht, dass ich merke, was diese Worte in seinem Inneren auslösen, doch ich sehe, dass sich eine gewisse Wehmut in diesem verbirgt.
„Ich würde dich so gerne unterstützen, Anella! Dich beschützen! Dich begleiten und für dich da sein!"
Seine Stimme klingt plötzlich unfassbar traurig. Mein Herz krampft sich zusammen und ich fühle, in mir das Bedürfnis aufkeimen, ihm all diese Sorgen und Trauer einfach vom Gemüt zu streichen.
„Aber das tust du doch, Tyrian!" Ich lege das Blättergefäß beiseite und rutsche näher zu ihm heran, sodass ich sein Gesicht in beide Hände nehmen kann, sodass er mich ansieht.
Seine Augen flimmern so warm und wehmutsvoll, dass es mein Herz regelrecht zu zerbersten scheint. „Das tust du doch alles schon die ganze Zeit!" Ich versuche, über meine Augen, diese Worte noch einmal zu bestärken.
Ich sehe, wie es in seinen zu flimmern beginnt, als sich ein wässriger Film über ihnen bildet. „Aber nicht genug!" Der raue und schmerzvolle Klang seiner Stimme, vermischt sich mit den Tatsachen, welche unausweichlich, wie eine unscheinbare, aber stets präsente Wolke über uns schwebt.
Eine Weile ist Stille. Das Gesagte erfasst irgendwie den Umfang unserer gesamten Situation. Ich schlucke, ehe ich tief durchatme.
„Das stimmt nicht! Du tust doch schon alles was du kannst und außerdem bin ich so unendlich dankbar, dass wir uns hier überhaupt begegnen können. Auch wenn wir uns nicht fühlen, riechen, oder... Also auf jeden Fall bist du da und das ist das wichtigste!
Ich verlange nicht mehr! Ich bin dankbar, für jeden Moment, den wir haben! Auch, wenn es in unseren Träumen ist!" Ich streiche, mit meinem Daumen, über seine Wange, während er sein Gesicht seufzend in meine Hände schmiegt.
„Ich auch", flüstert er mit solch einer Intensität, dass mir fast schon schwindelig wird. „Trotzdem, es ist nicht genug! Ich sollte dich beschützen! Du solltest nicht alleine dastehen! Ich sollte mit dir..."
Ich fahre mit meinem Finger über seine Lippen. Er soll aufhören sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wieso sollen wir nicht einfach genau so, wie es ist zusammen sein können? Es ist vielleicht anders, als es den normalen Vorstellungen entsprichst, doch das heißt doch lange nicht, dass es deshalb weniger echt sein muss.
„Das tue ich doch gar nicht! Ich bin nicht alleine! Vivien hilft mir mit dem Wald und auch sonst. Meine Freunde helfen mir auch und der Wald selbst und..."
Der Wald. Jetzt sollte vor allem erst einmal ich dem Wald helfen! „Ja, aber ich meine nicht nur deswegen, Anella!"
Nun hebt er seine Hand und legt sie ebenfalls an meine Wange, wobei mein halbes Gesicht, regelrecht in dieser verschwindet und ich es ebenfalls in seine hineinschmiege, auch ohne, dass seine Wärme auf mich abstrahlt, oder ich die Berührung auf meiner Haut pulsieren spüre.
„Ich weiß", hauche ich und merke, dass es mir schwerfällt dieses drückende Gefühl im Rachen nicht in der Stimme hörbar werden zu lassen.
„Ich würde auch so gerne bei dir sein! Außerhalb der wenigen Augenblicke, die wir in unseren Träumen haben. Aber wir begegnen uns doch auch als Wind! Halt in anderer Gestalt, aber du bist doch da! Wirklich Tyrian, vielleicht ist das schon mehr, als wir erwarten können.
Vielleicht ist das unser Geschenk und wir sollten dankbar darüber sein? Es ist halt eine andere Verbindung, als die, welche die anderen haben, aber das heißt doch nicht, dass sie weniger stark ist!" Sein Blick wird noch weicher, als ich das sage.
„Du hast recht! Es ist ein unglaubliches Geschenk, dass ich dir begegnen durfte! Wir begegnen uns hier zwar in unseren Träumen, aber in Wirklichkeit bist du alleine mein Traum. Ich träume übrigens auch von dir, wenn wir uns nicht auf dieser Ebene hier treffen."
Ich schlucke. Was hat er gesagt? Ich merke, wie mein Herz in meiner Brust vor Aufregung zu flackern beginnt.
Er rückt mir noch näher, sodass unsere Nasenspitzen sich beinahe berühren. Seine grünen Augen schmelzen sich dabei in meine.
„Ich liebe dich!"
***
Als ich am nächsten Morgen aufwache, ziehe ich als allererstes hoffnungsvoll mein Handgelenk unter der Decke hervor, doch es ist nichts zu sehen. Tyrian hatte also recht damit, dass sich der Armreif von der Traumebene nicht in diese hier manifestieren wird.
Doch ich spüre ein warmes Gefühl an der Stelle, wo es normal sitzen müsste, sodass mir ein zartes Lächeln über die Lippen huscht. Es war so wunderschön. Gedankenverloren streiche ich über diese Stelle, während mir Tyrians Worte immer und immer wieder durch den Kopf gehen.
Irgendwie weiß ich nicht so genau, wie ich mit diesen umgehen soll. So etwas hatte noch nie jemand zu mir gesagt und ich fühle einen Anflug von Panik in mir aufsteigen, doch gleichzeitig auch ein unglaublich warmes Gefühl in meiner Brust.
Diesmal stehe ich extra früh auf, um meiner Mutter noch zu begegnen und ihr einfach etwas Gesellschaft zu leisten. Nach dem Gefühlsausbruch von gestern, scheint sich irgendwas bei ihr gelöst zu haben.
Es kommt mir so vor, als sei das Verhältnis zu ihr ein bisschen inniger geworden. Zum einen, weil das jahrelange Geheimnis, über meinen leiblichen Vater nicht mehr zwischen uns steht, sowie die Blockade der Emotionen.
Zumindest von ihrer Seite aus. Sie scheint als könnte sie ihre langsam, immer besser, ein wenig zulassen, ohne sich dieser zu schämen. Ich bin sehr stolz auf sie. Sie ist so ein wundervoller Mensch! Habe ich ihr das überhaupt jemals schonmal gesagt?
Ich entschließe mich, genau das jetzt zu tun. Ich will, dass sie weiß, dass ich ihr nicht böse bin. Dass sie kein schlechter Mensch ist, nur weil sie die Wahrheit so lange vor uns verheimlicht hat. Ich selber weiß nur zu genau, wie es sich anfühlt, ein Geheimnis mit sich herumzutragen.
Natürlich hat sie viele Fehler in ihrem Leben gemacht, doch wer tut das nicht? Sie hat ihre Mutterrolle nicht immer in Goldleistung gemeistert, doch das macht nichts. Ich werde es ihr nicht vorhalten!
Dadurch bin ich immerhin die geworden, welche ich bin. Und obwohl ich mich manchmal selber nicht so richtig verstehe und an einigen emotionalen Blockaden und Themen zu knabbern habe, will ich niemand anderes sein. Ich mag mich, so wie ich bin, auch wenn es da natürlich so einige Luft gibt, wo ich mit mir noch hinkommen will.
Einer der ersten Schritte hatte Tyrian mir heute Nacht ziemlich deutlich gemacht. Ich muss mir vertrauen! Mir selber vertrauen, nur dann kann ich auch Vertrauen in das Leben haben. Und ich weiß, dass ich dem Leben und mir selbst vertrauen werde. Ich habe gar keine Wahl!
Meine Mutter hat mich gefragt, ob ich am Sonntag vor der Sonnenwende mit ihr Mutter-Tochterzeit verbringen will. Das haben wir, seitdem ich ein kleines Kind war nicht mehr gemacht. Ich weiß gar nicht wie sowas überhaupt so abläuft.
Eigentlich wollte ich dieses Wochenende schon in den Schwarzwald, zu der Hütte fahren, um zur Mittsommernacht auch schon alles geregelt zu haben, aber ich kann ihr Angebot einfach nicht ablehnen.
Sie meinte, sie hätte sich den Tag extra frei gelassen und würde mit mir irgendwohin in die Natur fahren, wo es mir gefällt. Ich bin so gerührt, dass ich erst einmal gar nicht weiß, wie ich reagieren soll, ehe ich plötzlich zwei Tränen auf meiner Wange spüre.
Dann werde ich eben am Montag fahren und meiner Mutter sagen, dass ich von Montag bis Mittwoch bei Freunden übernachte! In meiner Brust pocht es aufgeregt, als ich an die kommende Sonnenwende denke. So aufgeregt war, ich glaube ich noch nie.
Na ja, oder jedenfalls fühlt es sich im Moment so an.
Als sie zur Arbeit aufbricht, gehe ich ebenfalls los. Ich habe lange meinen Vater nicht mehr gesehen, weshalb ich ihm wieder einen Besuch in der Werkstatt abstatte. Inzwischen hat es sich sozusagen wieder als Tradition eingebürgert, dass ich ihm während er arbeitet ein wenig aus der Zeitung vorlese.
Ich sitze wieder auf der Werkbank und knabbere an einem Apfel. Die Zeitung auf meinem Schoß und mein Vater damit beschäftigt eine Holzfläche abzuhobeln.
Ich werfe einen Blick auch die Zeitung. Ein Unfall in der Innenstadt, Erdbeben in Mexiko, Hitzewarnung für die kommenden Tage...
Ich frage mich, weshalb in den Medien fast nur schlimme Ereignisse, oder belangloser Klatsch und Tratsch gezeigt wird. Es gibt doch so viel Spannendes, was niemals auch nur erwähnt wird. Ich blättere weiter, ohne wirklich Lust zu haben, diese Dinge zu lesen.
Vielleicht sollte ich meinem Vater mal irgendein Buch schenken, welches ich ihm vorlesen kann. Die Bücher von ihm, kennt er alle schon und meinte bei jedem, dass ich lieber aus der Zeitung lesen soll.
Ich blättere noch etwas weiter, auf der Suche, nach irgendwas, was in mir kein Unbehagen, oder Würgereize auslöst, bis mir eine kurze Ankündigung ins Auge fällt.
"15. Juni, um 12:30 Uhr, öffentliche Ehrung und Ansprache, des städtischen Oberbürgermeisters, Hendrik Millard, für die Wohltätigkeitsorganisation "Hilfe für Waisen". Versammlung ist auf dem Marktplatz in Winkelsdorf, unseres Stadtkreises.
Es geht um eine großzügige Spende, sowie seine zusätzliche Unterstützung in Form von Raumbeschaffung, eines neuen Heimes, direkt in Siegesbergen."
Ein ungutes Gefühl überkommt, mich, als ich seinen Namen lese. Was für eine Ansprache wird er halten? Mir wird kalt und plötzlich merke ich, wie ich unruhig werde. Hoffentlich plant er nicht irgendetwas zu den Bauvorhaben.
Was meint er mit, neue Räume in der Stadt? An sich klingt das ja alles gar nicht falsch. Es muss doch gut sein, wenn die Waisenkinder mehr Platz bekommen und finanzielle Unterstützung, doch ich kann nicht verhindern, dass mir dabei irgendwas ein komisches Gefühl bereitet. Hat er vielleicht vor, seine Baupläne, somit in ein gutes Licht zu rücken?
Der 15. Juni.... Das ist heute!
Plötzlich kommt mir ein Blitzgedanke. Vielleicht wird er etwas erwähnen, was mir ein wenig, über seine Vorhaben verraten könnte? Vielleicht, wäre es eine gute Idee, wenn ich dort hinfahre und... Ich beiße mir auf die Lippe. Wenn ich da irgendwas herausbekommen könnte? Irgendwas? Und dann seine Pläne irgendwie aufhalten...?
Es könnte natürlich auch sein, dass es ein kompletter Reinfall und unnötig ist. Dass er wegen etwas komplett anderem da ist und ich überhaupt nichts über seine Pläne zu dem Bau herausfinde, oder ausrichten kann, doch irgendwas in mir ist sich plötzlich vollkommen sicher, dass ich da hinfahren muss.
Mein Blick huscht auf die kleine Armbanduhr meines Vaters, welche er auf die Werkbank abgelegt hat. Wahrscheinlich wird er sie nachher wieder suchen. Sie zeigt 11:13 Uhr an. Mir bleiben also noch eine Stunde und 17 Minuten.
Winkelsdorf liegt etwas außerhalb, gehört aber noch zu unserer Stadt. Soweit ich weiß fahren nur hin und wieder ein paar Busse von hier dorthin. Schnell lege ich die Zeitung weg und krame mein Handy heraus, um nach den Abfahrtszeiten zu schauen.
In 29 Minuten fährt erst der nächste und die Fahrt selber dauert, mit den ganzen Stopps wahrscheinlich auch bestimmt um die 45 Minuten. Das könnte knapp werden.
„Du Papa, ich muss nochmal los! Ich komme dich aber bald wieder besuchen, okay?"
„Was, jetzt schon?"
„Ja, tut mir leid, Vivien braucht meine Hilfe! Hab dich lieb!", füge ich noch hinten dran, während ich von der Werkbank springe und leichtfüßig auf dem Boden lande.
***
Hi ihr, was denkt ihr, ist es eine gute Idee, wenn Anella dort hinfährt?
Wie fandet ihr das Kapitel? Schreibt es mir gerne in dir Kommis❤
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