25. Ein Violinen-Spiel mit Nachwirkungen
POV Kuno:
„Es ist die Barfußläuferin, oder? Du bist ganz schön in sie verschossen, stimmts?" Ich presse meine Lippen aufeinander, während mein Körper leicht zu zittern beginnt. „Scheiße nein!" Kann dieser Mensch nicht einfach aufhören meinen Gefühlsstatus ergründen zu wollen?! Garret zieht zweifeln die Augenbrauen hoch, während er mich wachsam beäugt und dann seine Mundwinkel nach oben wandern lässt.
„Scheiße ja!", imitiert er meine Wortwahl in amüsierter Feierlichkeit. Sein Grinsen hört man sogar aus der Stimme heraus, wofür ich ihm am liebsten eine reinhauen würde. Ich balle meine Fäuste, woraufhin die Schnittwunden schmerzhaft ziehen. „Hör auf damit!", zische ich, doch Garret scheint sich davon nicht irritieren zu lassen und nimmt nur vergnügt einen Schluck von seinem Getränk.
„Gibt's ja nicht. Dass ich das noch erleben darf. Die Kleine hat's dir echt angetan, was?" Die Spannungen in meinem Körper nehmen zu, sodass ich meine Fäuste noch fester zusammendrücke, nur um sie dann um die Sitzfläche meines Stuhls zu klammern, damit ich nicht gleich versehentlich doch noch irgendwo einzuschlagen. Den Schmerz heiße ich dabei nur allzu willkommen.
„Sie will nicht!", erkläre ich mit betont gleichgültiger Tonlage, was mir aber alles andere als gelingt. Viel zu spät merke ich, dass ich es ja somit eben zugegeben habe. Scheiße.
„Ach echt?" Dieses Nervengummi zieht skeptisch seine Stirn kraus. „Hat sie dir das gesagt?" Ich presse meine Zähne aneinander. „Das braucht sie nicht! Ich habe es in ihren Augen gesehen!" In Garrets Gesicht zuckt ein eifriger Ausdruck.
„Moment mal! Das heißt, ihr habe euch in die Augen geschaut? So richtig mit Zunge und allem? Oder vielleicht auch mit mehr?" Er wackelt anzüglich mit den Brauen, woraufhin ich merke, wie ich mich noch weiter verspanne. Oh Shit. Kann er nicht einfach mal damit aufhören! Es ist schon schlimm genug, wenn ich mich selber schon die ganze Zeit davon abbringen muss daran zu denken. Jetzt schaffe ich das nicht auch noch bei ihm!
Verdammt und wie wir uns in die Augen gesehen haben. Es war mir, als würde ich dabei direkt in ihre Seele blicken. Eine Seele, welche nur so voller Reinheit und Licht durchdrungen ist. Und gleichzeitig war da dieses... Diese Reue. Sie wollte diesen Kuss nicht. Ich knete meine Finger in der Faust. Und ich Idiot kann nichts anderes tun, als daran zu denken diesen auf der Stelle zu wiederholen.
Ihre Lippen auf meinen zu fühlen, ihren Körper zwischen meinen Händen, ihr Wimmern in meinen Ohren... Und dann gestern... Die Art, wie sie... Ich schlucke. Mein Atem wird alleine schon bei der Erinnerung schneller und die sündhaften Gedanken in meinem Kopf, wollen überhaupt nicht mehr aufhören zu kreisen.
Ich merke, wie mir augenblicklich, schwindelerregend heiß wird, und sich ein bestimmter Bereich meines Körpers, in östlicher Richtung, wieder einmal verselbstständigt. Und das, wohlgemerkt, alleine durch meine verfickten Gedanken. Die Erinnerung, wie sie... Ich klammere mich wieder fest an meinen Stuhl.
Verdammt, sie war einfach nicht bei sich. Das, wie sie sich verhalten hatte... Ich schlucke. ... das lag an... keine Ahnung. Noch wenige Stunden davor hatte sie mir eindeutig gesagt, dass wir nicht mehr befreundet sein können. Und dann... dann tut und sagt sie diese Dinge, welche mich vollkommen in den Wahnsinn treiben.
Ich kann fast an nichts anderes denken, als an ihre sinnesbetörende Stimme, welche mich so unglaublich tief in ihren Bann gezogen hat und eigentlich kein Entkommen zulässt. Wie gerne hätte ich mich dieser tiefen, inneren Zugkraft einfach hingegeben, doch ich wusste genau, dass sie es hinterher wieder bereuen würde.
Jetzt frage ich mich, warum, verdammt nochmal, ich nicht einfach mein scheiß Gewissen über Bord geworfen und ihren Aufforderungen Folge geleistet habe. Alleine die Vorstellung sie wieder zu berühren... Ich schnappe nach Luft.
Wie sie mich mit ihrer zauberhaft, singenden Stimme angefleht hatte, dass ich sie halten soll. Meinte sie es genau so, wie ich denke? Eigentlich bestehen dabei überhaupt keine Zweifel. Alleine das, was in ihren Augen dabei aufblitzte, hätte alle Worte überflüssig gemacht. Was meinte sie damit, dass ich sie spielen soll? Kann es sein, dass ihre Gedanken doch nicht so unschuldig sind, wie ich immer dachte? Oder hatte sie mich gefragt, ob ich mit ihr spielen will?
Ich glaube beides. Verdammt, sie wollte sogar mit mir tanzen. Mir wird bei dem Gedanken all diese Dinge mit ihr zu tun, ganz flau im Bauch. Die Schmetterlinge in meinem Magen sind inzwischen so außer sich, dass sich meine Innenwände durch ihre ständig flatternden Flügel schon vollkommen gereizt fühlen und ich keinen einzigen Bissen mehr runterbekomme.
Das schlimmste ist, dass sie heute nicht da ist. Ich frage mich, wieso! Liegt es an mir? Oder an dem, was gestern gewesen ist? Bereut sie das, was sie gesagt und worum sie mich gebeten hatte? Klar tut sie das. Ich versuche meinen brennenden Kloß im Rachen loszuwerden, doch er hat sich so tief darin eingemeißelt, dass ich befürchte, dass dies nie mehr der Fall sein wird. Ich werde wohl oder übel mit ihm leben müssen. Wie schmerzhaft es auch ist. Damit kenne ich mich ja immerhin aus.
„Dann zeig ihr, dass sie sich irrt!", beharrt Garret und ich funkele ihn wütend an. „Tut sie nicht" „Ach ja? Seit wann gibst du so schnell auf? Falls du recht hast, dann bin ich mir sicher, du kannst das ändern!"
„Das ist nicht so einfach!" Kann er sich nicht einfach mal eine bescheuerte, andere Beschäftigung suchen, als auf meiner Trübsal herumzutrampeln und mir diesen irgendwie austreiben zu wollen? Denn das ist schließlich ein Unterfangen der Unmöglichkeit, solange Anella nicht da ist!
„Seit wann hält es dich eigentlich ab, wenn etwas "nicht so einfach" ist? Den Kuno, welchen ich kenne, der würde sich dieser Herausforderung erst recht stellen!" „Du kennst mich eben nicht genug!" Garret zieht seine Augenbrauen hoch.
„Vielleicht ist es ja auch ganz einfach? Du musst es ihr nur klar machen!" Mir gehen seine oberschlauen Ratschläge auf den Geist. „Sie will aber nicht!", zische ich schon fast zu laut und springe auf. „Und ich will auch nichts von ihr! Vergiss es einfach, okay! Vergiss es! Vergiss alles! Ich bin jetzt weg!"
Ich erwarte schon ein „Hey komm mal runter!", oder ein „Ist das dein ernst?", doch es kommt nichts. Stattdessen fühle ich wieder diesen Blick auf mir, welchen ich einfach nicht ausstehen kann. So einer, welcher viel zu mitfühlend und verständnisvoll ist, als dass ich ihn je verdienen würde, geschweige denn weiß, damit umzugehen. Er soll sich gefälligst um seinen eigenen Kram kümmern.
„Iss lieber deine Pommes, bevor sie kalt werden!", spucke ich ihm, übertrieben unfreundlich entgegen, um ihm ja deutlich zu machen, dass ich dieses Mitleidgetue nicht haben kann, ehe ich mein Handy vom Tisch greife und schon gehen will. Dann fällt mir jedoch Jayden ins Auge, welcher zusammen mit Mathias und Miranda am Ausgang der Mensa steht und an denen ich dann vorbei müsste.
Dessen Kommentare habe mir jetzt gerade noch gefehlt. Vor allem, weil ersterer mich schon den ganzen Tag dazu überreden will, am Samstag wieder mitzukommen. Vorher strebe ich lieber alleine irgendwo im Dreck! Scheiße... Stöhnend lasse ich mich doch wieder zurück auf den Stuhl sinken.
„Was ist?" Ich will jetzt nicht mit ihm sprechen! Er soll mich einfach in Ruhe lassen, wann kapiert er es endlich? Anstatt zu antworten, öffne ich meinen Chatverlauf mit Anella. Sie hatte mir in der ganzen Zeit, die wir befreundet waren, nur einmal zurückgeschrieben. Die Konversation, die wir dort geführt haben, verlief ziemlich einseitig und begann mit einem: „Hey" und Blumensmiley von mir. Dann hatte ich ihr nochmal geschrieben, wegen unseres ersten Treffens und danach habe ich sie für das zweite gefragt, ob das mit der Uhrzeit eh noch passt.
Sie hatte mir nur einmal ein einfaches „Klar" geantwortet, doch dieses hatte ausgereicht, um die Schmetterlinge in meinem Bauch wieder verrücktspielen zu lassen. Das war genau vor dem Treffen, wo wir uns geküsst... Ich schlucke und verbanne die Erinnerung und alles, was damit in Verbindung steht, sofort wieder ins hinterste Eck meines Bewusstseins, sowie ins tiefste, tausendfach verriegelte Archiv meines Herzens, ehe ich das Schloss wieder verschließe und...
Scheiße. Also ob das so einfach wäre. Schön wär's. Nein, um ehrlich zu sein könnte ich den ganzen Tag über nichts anderes nachdenken, als ihre Lippen auf meinen zu spüren und... Ich versuche tief durchzuatmen, als ich spüre, wie ein bestimmter Körperteil bei dieser Erinnerung schon wieder anfängt ein Eigenleben beginnen. Meine Fäuste schmerzen, als ich sie noch fester zusammendrücke. Gut so.
Erneut flammt mir ihr Verhalten von gestern ins Bewusstsein. Sie war so seltsam, so anders und dabei so wahnsinnig attraktiv und betörend, wie es eigentlich nur in Märchen, oder irgendwelchen irrationalen Sagen zu finden ist. Sie ist einfach... Sie raubt mir die Luft zum Atmen und gleichzeitig ist sie es, welche ich die ganze Zeit nur einatmen will!
Verdammt, ich glaube sie hatte wirklich Drogen in sich... Allein bei dieser Vorstellung, merke ich, wie die Wut in mir hochkocht. Aber... würde Anella wirklich so etwas machen? Anella? Nein, da bin ich mir ziemlich sicher. Und erst recht nicht solche Drogen, welche sie derart, auf diese Weise aus der Kontrolle geraten lassen.
Das muss irgendein perverser Typ gewesen sein! Und zum Henker, ich werde herausfinden, wer das war. Scheiße, dieses Individuum, welches ihr dieses Zeug untergemischt hat wird hinterher nicht einmal mehr nur einen Gedanken daran wagen, das versichere ich!
Anella hat gelogen, das habe ich ihr angesehen. Heißt das, sie weiß, wer es gewesen ist? Wenn ja, wieso will sie diesen Perversling dann verteidigen? Und was war das, als sie so seltsam von Sonnenlicht, Waldluft und der Sonnenwende geschwafelt hat? Kurz darauf haben ihre Augen gezuckt, als hätte sie viel zu viel verraten.
Ich stöhne verzweifelt auf. Ich sehe einfach nicht mehr durch und gleichzeitig, weiß ich, dass da etwas ist! Etwas, was ihr zu schaffen macht und sie anscheinend niemandem verrät. All diese seltsamen Dinge. Zuerst, das mit ihren Tränen, dann ihre Augen, welche manchmal aussehen, als würden sie viel heller strahlen, als normal ist. Vor allem, wenn sie erregt ist.
Die Art, wie sie sich lautlos durch den Wald bewegt, oder wie sie mit ihrer Umgebung in Verbindung geht. Das ist eindeutig. Dann diese seltsamen Momente, in denen etwas um sie herum geschieht, was ich mir mit dem Verstand einfach nicht erklären kann. Und die Tatsache, dass sie nichts Gekochtes essen kann und stattdessen... Blumen isst.
Für einen winzig kurzen Moment zuckt mein einer Mundwinkel bei der Erinnerung an die Glockenblume verdächtig nach oben, aber sobald die anderen Gedanken wieder über mich einstürzen, ist es schlagartig verschwunden.
Und dann die Sache, wie sich ihr Körper verhält. Sie hat gesagt, dass es keine Drogen sind, aber was könnte es dann sein? Mir wird noch heißer, als ich an den Moment an der Mauer zurückdenke. Wie sie... Himmel, ich muss mich konzentrieren!
Sie war jedenfalls nicht sie selbst, das ist Tatsache und verdammt, was könnte so etwas noch auslösen, wenn nicht Drogen? Ganz sicher ist es nicht die "Waldluft", so wie sie behauptet hatte. Oder der "Sonnenstich." Mir kam es so vor, als hatte sich ihr Verhalten den ganzen Tag über verstärkt aufgebaut.
Sie hat irgendwas von Sonnenwende geredet. Aber wieso sollte diese eine Rolle dabei spielen, was in ihrem Körper vor sich geht? Ist die Sonnenwende nicht heute? Ich stöhne verzweifelt auf und klemme meine Nasenwurzel zwischen Daumen und Zeigefinger.
Sie war schon seit Stunden nicht mehr online, was aber bei ihr keine Seltenheit ist. Normalerweise kann es sich bei ihr auch um Tage handeln, die sie nicht auf ihr Handy schaut. Trotzdem mache ich mir irgendwie ziemliche Sorgen um sie. Was, wenn die Drogen so lange andauern? Oder schlimmer noch. Was, wenn sie wieder neue bekommt?
Verdammt, ich hätte sie gestern nicht alleine lassen dürfen. Ich hätte sie nachhause bringen müssen, damit ich weiß, dass sie in Sicherheit ist! Was bin ich nur für ein Idiot? Angestrengt versuche ich das warme Gefühl in meiner Brust zu ignorieren, welches bei dem Gedanken, sie nach Hause zu bringen in mir aufkommt. Ich Dämlack.
Verzweifelt fahre ich mir das Haar aus dem Gesicht. Ob sie rangeht, wenn ich sie anrufe? Hat sie ihr Handy überhaupt bei sich? Wo ist sie, verdammt nochmal?!
„Hey, wenn ich dir irgendwie helfen kann...!", beginnt diese nervig surrende Mücke, welche sich selber als meinen besten Freund auserkoren zu haben scheint. Das liegt vielleicht aber auch daran, dass er mein einziger ist. Oder zumindest jemand, der irgendwie als ehestes diesem Titel eines Freundes näher kommt. Ich weiß, mein Verhalten ihm gegenüber ist nicht gerade rührend, doch er kapiert einfach nicht, dass ich keine Menschen um mich brauche. Ich zerstöre sowieso alles, was ich berühre. Darum ignoriere ich ihn weiter und wähle stattdessen Anellas Nummer. Es klingelt, aber natürlich geht sie nicht ran. Verflucht nochmal. Ob ihre Freunde etwas wissen?
„Hast du Lust nachher eine Runde zu laufen? Vielleicht würde dich das ablenken?" Ich antworte nicht. Stattdessen stehe ich mit zusammen gepressten Lippen auf und gehe an ihm vorbei aus der Mensa. Mich kann jetzt überhaupt nichts ablenken. Und das werde ich auch gar nicht zulassen, ehe ich sicher weiß, dass es ihr gut geht.
Ich will schon zu der Wiese hinter der Mensa gehen, wo ich ihre Freunde vermute, als ich die kleine blonde, - Vivien heißt sie - schon alleine auf dem Pausenhof entdecke, wie sie ebenfalls Richtung Wiese steuert.
„Hey." Das sommersprossige Mädchen mit den Spirellis, dreht sich zu mir um, aber als sie erkennt, dass ich es bin, sieht sie verwundert hinter sich, als erwarte sie, dass da noch jemand anderes steht, mit dem ich spreche. Aber da ist niemand. „Ja, dich meine ich! Blondhaarige!" Sie runzelt die Stirn und kneift skeptisch die Augenbrauen zusammen. „Jaa?", fragt sie gedehnt.
Erst jetzt fällt mir auf, dass sie das gleiche Kleid trägt wie Anella letztens. Wenn ich ehrlich bin, dann würde ich sogar behaupten, es ist das Gleiche. Ich beiße mir nachdenklich, von innen auf die Wange, ohne zu wissen, was ich sagen soll. Shit, ich hatte mir überhaupt nichts zurechtgelegt. „Weißt du zufällig, wo deine Freundin ist? Ich soll ihr noch bei etwas helfen und kann sie nirgends finden!"
Auf Viviens Gesicht legt sich ein unglücklicher Ausdruck. Ihre Augenbrauen sind dabei leicht zusammengezogen, als wäre sie über etwas traurig. „Nein, tut mir leid." Sie will sich schon umdrehen, doch ich spreche schnell weiter. „Du bist doch ihre beste Freundin, oder?", hake ich nach und laufe so zu ihr, dass ich wieder vor ihr stehe. Sie verschränkt ihre Arme vor der Brust.
„Willst du irgendwas Bestimmtes?", fragt sie mich genervt und zieht die Augenbrauen hoch. Anscheinend kann sie mich immer noch nicht leiden. Naja, ich erinnere mich, dass ich ja nicht immer gerade nett zu ihr, oder ihren Freunden gewesen bin, aber das bin ich normalerweise bei niemandem! Außerdem habe ich doch jetzt noch gar nichts gemacht, nur höflich gefragt!
„Na ja, ich dachte, als ihre beste Freundin wüsstest du vielleicht, wo sie ist!" Ihr Ausdruck verdüstert sich noch weiter und ich sehe so etwas wie Verletztheit aufzucken. Ich runzele verwirrt dir Stirn. „Das sieht Anella anscheinend anders!" Schnell wendet sie sich von mir ab und läuft stattdessen, beinahe schon fluchtartig Richtung Pausenhof, wo sie und Anella normalerweise immer mit ihren Freunden sitzen.
„Was meinst du damit?" Ich sehe, wie sie sich rasch, mit der einen Hand übers Gesicht wischt, während sie mir den Rücken zugekehrt hat. Weint sie etwa?
Ich will ihr gerade hinterher laufen und fragen, was los ist, als ich sehe, wie einer ihrer anderen Freunde zu ihr trifft und das an meiner Stelle übernimmt. Nick heißt er.
Ich halte inne und lausche stattdessen ihrem Gespräch. Wie es scheint, sind ihre Augen tatsächlich wässrig. Nick sieht sie besorgt an und reicht ihr ein Taschentuch, während sie langsam gemeinsam weiterlaufen.
Ich folge ihnen unauffällig und hoffe, dass sie sich jetzt nicht zu mir umdrehen. Ich muss einfach wissen, was mit Anella ist und ich glaube kaum, dass sie es mir freiwillig erzählen würden. Ich höre, wie er fragt, was los ist. Ich gebe mir Mühe alles zu verstehen, ohne mich weiter bemerkbar zu machen.
Sie sind stehen geblieben, während Vivien sich abermals über das Auge wischt.
Sie sieht sich kurz, vorsichtig um, als wolle sie sichergehen, dass ich nicht mehr da bin, schaut allerdings nicht gründlich genug in meine Richtung, sodass sie mich nicht bemerkt, ehe sie antwortet.
„Sie vertraut mir nicht!" Ihre Stimme klingt in einer seltsam piepsigen Tonlosigkeit, während sie noch ein leises, „Keinem von uns", hinterhermurmelt. Ich sehe, wie sie schluckt und Nick tröstend eine Hand auf ihre Schulter legt.
Ich runzele verwirrt die Stirn. Das heißt, Anella vertraut noch nicht einmal ihren Freunden?
"Wieso meinst du das?", will Nick wissen und Vivien weicht seinem Blick aus. „Sie hat mir heute Morgen geschrieben, dass sie krank im Bett liegt, doch dann hat ihre Mutter bei uns angerufen und gefragt, ob wir denn eine schöne Zeit haben.
Anscheinend hat Anella ihr erzählt, dass sie bei mir übernachtet. Als Alibi sozusagen. Aber anscheinend vertraut sie mir auch nicht genug, um mich in ihre Pläne einzuweihen und die Wahrheit zu sagen. Ich weiß einfach nicht, wieso sie sich so sehr verschließt.
Ich habe das Gefühl, als würde sie mir immer weiter entgleiten und sich von uns distanzieren. Anstatt uns an ihrem Leben teilhaben zu lassen, so wie früher, lügt sie. Und jetzt ist sie einfach weg. Ich mache mir irgendwie auch Sorgen." Ich sehe, wie sie ihre kleinen Fäuste ballt.
„Und dann die Sache, dass sie nachts nicht schlafen kann und stattdessen immer..." Sie unterbricht sich und schluckt. „Und stattdessen, was?", hakt Nick nach, doch Vivien schüttelt den Kopf.
„Ich glaube, das hat sie mir im Vertrauen erzählt. Das solltest du sie vielleicht selber fragen. Vorausgesetzt, das war die Wahrheit, die sie mir erzählt hat..." Sie presst ihre Lippen aufeinander.
Als ich sehe, dass Nick nicht nachhaken will und stattdessen nickt, balle ich meine Fäuste und trete nun selber doch aus meinem Versteck.
„Was meinst du damit? Was ist mit ihr?", will ich wissen, woraufhin beide erschrocken zu mir herumwirbeln.
„Was?" Vivien sieht mich entsetzt an. „Hast du uns etwa belauscht?" Sie sieht wütend aus. Das sehe ich an ihren zusammengezogenen Augenbrauen, auch wenn dieses Bild kein bisschen beängstigend erscheint.
„Dich gehen unsere Gespräche nichts an!", schimpft sie und tritt dabei noch ein bisschen näher an Nick heran, als würde sie bei ihm Schutz suchen.
„Vielleicht ja doch! Anella und ich sind jetzt sozusagen auch sowas wie Freunde!", erkläre ich und ignoriere dabei den Stich, als mir klar wird, dass sie ja gestern noch meinte, dass wir keine Freunde mehr sein können.
Außerdem schmeckt mir diese Bezeichnung ohnehin komisch auf der Zunge. Ich will jemand ganz anderes für Anella sein, als einfach nur ein Freund. In sowas war ich ohnehin schon immer miserabel. Wie soll das bitte gehen? Aber vor allem, und das ist jetzt die viel wichtigere Frage, wieso belügt sie selbst ihre beste Freundin und wo ist sie, wenn nicht zu Hause und nicht bei ihr? Verdammt nochmal.
„Was? Ihr seid..." Viviens Augen werden noch größer. „So ist das also. Wie es aussieht, hat sie sich jetzt neue Freunde gesucht. Weißt du etwas, wo sie... ach nein, dann würdest du ja nicht fragen."
Vivien zieht eine Grimasse. Dann hat Anella also nicht mit ihren Freunden über mich geredet? Es versetzt mir einen leichten Stich, dass sie mich anscheinend wirklich nicht in ihrem Leben haben will. Hätte ich ihr die Sache mit dem Wald nicht vorgeschlagen, hätte sie sich nie darauf eingelassen mit mir Zeit zu verbringen.
Und das mit dem Kuss... Ich schlucke. Das war genau der gleiche Grund. Aber verdammt, das ist jetzt vollkommen unwichtig! Ich muss einfach wissen, wo sie ist und ob es ihr gut geht, verdammt!
„Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?", frage ich, bevor sie beide weiterlaufen können. „Seid ihr wirklich Freunde?", fragt nun Nick, welcher mich skeptisch mustert.
In Viviens Blick huscht stattdessen plötzlich das Funkeln einer Erkenntnis. Jetzt scheint irgendwas in ihrem Kopf "Klack" zu machen und in ihrem Blick etwas anderes zu liegen, als noch eben. Als hätte sie die Situation durchschaut. Ich frage mich, auf was sich dieses Blitzen bezieht.
Ihre Stimme klingt plötzlich etwas freundlicher. „Das letzte Mal gestern in der Frühstückspause." Nick sieht sie erstaunt an. Wahrscheinlich, weil sie mir geantwortet hat. Ich runzele nachdenklich die Stirn. Das war noch bevor ich sie gesehen hatte. „Und hast du eine Idee, wo sie jetzt sein könnte?"
Vivien betrachtet mich aufmerksam. Irgendwie erinnert mich die Art, wie sie mich inspiziert, an eine prüfende Flughafenkontrolleurin. Ob ich auch wirklich nicht irgendetwas Illegales schmuggeln will und ob man mir vertrauen kann, oder so.
Ich weiß, dass ich normalerweise eher den gegenteiligen Effekt erzeuge. „Ich habe auch schon überlegt, wo sie sein könnte", sagt Sie und sieht mich immer noch wachsam an. „Ich schätze mal im Wald", hängt Nick hinterher, welcher jetzt ebenfalls irgendwie einen anderen Ausdruck bekommen hat, als wäre er auf den gleichen Schluss gelangt, wie Vivien. Ich nicke leicht. Vielleicht ist sie bei ihrem Baum?
Ich muss schmunzeln, als mir der Name wieder einfällt. Elchor. Gleichzeitig habe ich aber einfach dieses komische Gefühl. Diese Sorge, ob es ihr gut geht und, dass da etwas ist, was ihr vielleicht sogar gefährlich werden könnte.
Dieses Gefühl lässt mich einfach nicht mehr los.
„Also... wenn ihr etwas von ihr hört...", höre ich mich sagen.
„Dann lassen wir es dich wissen!", antwortet Vivien, was mich überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass erwidert. Würde sie das wirklich tun? Mir sagen, wenn sie etwas von Anella weiß?
„Seit wann seid ihr eigentlich... befreundet?", fragt sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Mir entgeht dabei nicht der abermals skeptisch, prüfende Blick. Irgendwie ist das jetzt zu viel Smalltalk für meinen Geschmack.
Ich muss Anella suchen gehen! „Am besten fragst du das sie!", erkläre ich, ehe ich mich umdrehe und schon verschwinden will. „Hey, warte mal!", höre ich sie hinter mir, weshalb ich widerwillig stehenbleibe.
„Du lässt es uns doch auch wissen, wenn du etwas weißt, oder?" Ich nicke einmal kurz, ehe ich aus dem großen Schultor hinaus, hinter die Mauer trete. Wenn sie nicht zu Hause ist und nicht in der Schule, dann kann sie eigentlich nur im Wald sein.
***
Hi, diesmal ein ganzes Kapitel, nur aus Kunos Sicht. Wie fandet ihr diesen Einblick? Was glaubt ihr, könnte passieren? Könnt ihr nachvollziehen, wie sich Vivien fühlt?
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