Kapitel 7-2
Johann setzte sich auf einen der prunkvollen Stühle im Darstellerbereich des Theaters. Tiefe Furchen der Müdigkeit hatten sich in sein Gesicht gegraben. Die letzte Nacht hatte einem Schlachtfeld geglichen. Ein wütender Mob legte Feuer an ihre Wägen, scheuchte die Pferde auf und zögerte auch nicht, Hand an die Zirkusleute zu legen. Nur das Einschreiten der Stadtwache bewahrte sie vor dem Ende. Sie wollten die restlichen Wägen vor dem Tor verstecken, aber man verwehrte ihnen den Auslass. Die Städter fürchteten, der Zirkustrupp würde davonziehen, ohne seine Schulden zu tilgen. Die Nacht verbrachten sie auf den kalten Fliesen des Theaters, die Tür verrammelt.
Florentines Stimmung hatte einen Tiefpunkt erreicht. Ihr Wagen war den Flammen zum Opfer gefallen. Einzig ihr rotes Kleid und das, was sie am Leib trug, konnte sie bewahren. Sie hatte praktisch nicht geschlafen.
Nach der Aufführung war sie zu schockiert gewesen. Ihr Plan schien ihr unfehlbar, doch sie hatte sich überschätzt. Als das Theater geräumt war, war sie nur traurig. Sie hatte sich zurückgezogen, geschämt, geweint, sich der Verzweiflung hingegeben. Für sie war es gar nicht vorstellbar gewesen, dass es schlimmer kam. Doch als die Männer in der Nacht eintrafen, mit Knüppeln und Fackeln bewaffnet, da hatte sie blanke Angst um ihrer aller Leben gehabt.
Diese Menschen waren keine vornehmen Besucher eines Theaters, die sich über einen Eklat pikierten. Das waren Raufbolde, die auf Blut aus waren. Sie befühlte ihre Stirn, wo sich eine Beule abzeichnete. Anfangs hatte sie geglaubt, sie könne die Leute zurückdrängen, ihnen mit Worten näherkommen. Doch als der erste Prügel auf sie niederfuhr, zog sie sich rasch mit den anderen zurück. Voll der Furcht klammerte sie sich an ihre Mutter, bis die Nacht und der Lärm vorüber waren. Am Morgen versuchten sie, all das zu vergessen. Johann redete ihnen gut zu. Sie müssten einfach weitermachen, die Situation beruhige sich schon wieder. Ihre Mutter, die für den Verkauf von Eintrittskarten zuständig war, kam mit hängenden Schultern zu ihnen und zerstreute diese Hoffnung: „Kein einziger Gast hat sich für heute angekündigt."
Johann fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und blickte ins Leere. Kürzlich hatte er ihnen allen aus der Zeitung vorgelesen, die ihre Vorstellung anpries. Florentine spürte den Grimm der anderen geradezu körperlich. Sie waren eine Familie, hatten stets zusammengehalten, jedermanns Freud und Leid geteilt. Doch ihr Geheimnis, dass sie alle in den Ruin getrieben hatte, war ein Verrat an all dem, was sie verband. Ihre Mutter setzte sich neben sie auf den Boden und legte den Arm um Florentine.
„Ich werde die Truppe verlassen, wenn es euer aller Wunsch ist", sagte Florentine, worauf ihre Mutter sie fester an sich presste und Laurenz sich vor sie stellte. Der Rest der Gruppe sah sie wütend an, dafür, dass sie es überhaupt wagte, die Stimme zu erheben.
„Was hast du dir dabei nur gedacht?", sprach Johann die Frage zum dritten Mal aus. Offensichtlich hatten ihm ihre bisherigen Erläuterungen nicht ausgereicht. Aber was sollte sie schon antworten? Sie hatte sich nichts dabei gedacht. Hätte nicht damit gerechnet, dass ihr Tun eine Rückwirkung auf den Zirkus haben könnte.
„Es war eine Dummheit."
„Eine Dummheit? Das war Verrat! Wir haben dich ernährt, dir ein Zuhause gegeben! Dich jahrelang erhalten und ausgebildet. Glaubst du etwa, es gab damals keine Alternative zu dir?"
Florentine biss sich auf die Unterlippe. Johann hatte Recht. Sie war eine kostspielige Investition. Hatte als Kind kaum einen Beitrag geleistet. Laurenz war ein kräftiger Bursche und hatte schon viel früher zumindest beim Aufbau des Zelts Hand angelegt. Florentine war selbst für ein Mädchen zierlich gewesen.
„Es tut mir leid."
„Hättest du nicht irgendeinen aus der Truppe ficken können? Philipp vielleicht oder Jakob – meinetwegen spring mit deinem verdammten Bruder ins Bett!"
Laurenz trat auf ihn zu und reckte die Faust, aber der Rest der Gruppe stellte sich vor Johann.
„Ich werde versuchen, die Schulden zu tilgen."
Johann lachte freudlos auf. „Selbst wenn du ein Leben lang in einer Gerberei schuftest, bis es dir das Fleisch von den Knochen zieht." Johann wedelte mit den Schuldscheinen in ihre Richtung. Es war ungerecht, sie dafür allein verantwortlich zu machen. Immerhin war er dieses größenwahnsinnige Wagnis eingegangen. Aber da sie nun der Sündenbock war, würde sie kaum eine Möglichkeit haben, dagegen zu argumentieren. Johann richtete sich auf und ging in dem Raum auf und ab. „Sie werden unsere Wägen verpfänden, die Utensilien, alles an Besitztümern – aber das wird nicht reichen." Er hob den Zeigefinger. „Schuldknechtschaft, für jeden von uns." Bei dem Wort gefror die Stimmung sichtlich. „Hast du überhaupt eine Ahnung, was das bedeutet?"
Sklaverei auf Lebenszeit. Die Männer würden zu niedersten Diensten verpflichtet werden, bis ihre Körper so ausgezehrt waren, dass sie zu nichts mehr zu gebrauchen waren. Den Frauen würde es nicht besser ergehen. Außer, dass ihre Gläubiger wahrscheinlich ihre körperlichen Vorzüge zu nutzen wüssten. Sie hatte Menschen gesehen, die ihre Schulden abarbeiteten. Sie waren wie lebende Tote. Ausgebeutet, das Leben ohne Sinn, nur noch angetrieben durch die Peinigung ihrer Gläubiger.
„Morgen werde ich die nächste Rate zahlen müssen. Die gestrigen Einnahmen haben sich die Banditen geholt. Vergnügt euch heute ein letztes Mal, als wäre es der Tag vorm Jüngsten Gericht."
Zunächst machten einige den Versuch, ihr Bargeld zusammenzulegen, um zumindest die nächste Rate zu bezahlen. Aber viele hatten ihr Geld mit den Wägen eingebüßt, die meisten besaßen nicht einmal Ersparnisse. Schließlich verlor sich die Gruppe in Frustration. Manche legten sich schlafen, andere verließen das Theater, um ihre letzten Groschen zu verzechen. Laurenz brachte Florentine ins Umkleidezimmer, um mit ihr ungestört zu reden.
„Wir werden abhauen", sagte er.
„Die Wachen kennen unsere Gesichter."
„Dann klettern wir über die Stadtmauer."
Florentine lächelte ihn traurig an, den Traumtänzer. „Du solltest Johanns Rat befolgen und dich noch einmal richtig vergnügen."
„Ich werde dich nicht allein lassen."
„Geh!" Sie löste ihre Börse mit ihren geringen Ersparnissen vom Rocksaum und drückte sie ihm in die Hand. „Geh in ein Hurenhaus und leb dich aus ehe ..." Ein Gedanke war ihr gekommen. Es war vielleicht nur wieder eine neue irrsinnige Idee. Aber viel zu verlieren hatte sie nicht mehr. „Wie hieß noch einmal die Besitzerin dieses Bordells?"
„Madame Huker?" Laurenz runzelte irritiert die Stirn. „Das ist ein edles Bordell, da braucht es mehr als ein paar Groschen."
„Bring mich dorthin!"
Laurenz Gesicht spiegelte Erkenntnis. Er erinnerte sich wohl der scherzhaften Worte, dass sie reich werden konnte, wenn sie ihre Unschuld dort verhökerte. Erst recht jetzt, wo sie stadtbekannt war. „Das wirst du nicht tun!"
„Vielleicht kann ich damit unsere Schulden tilgen, die Uhr zurückdrehen!"
„Du wirst dich nicht verkaufen! Das bist nicht du!" Er ergriff ihr Gesicht und küsste ihre Stirn. „Du bist besser als ich, das lasse ich nicht zu."
Florentine schüttelte den Kopf. „Laurenz, wenn wir in Schuldknechtschaft landen, wird man mir meine Unschuld so oder so nehmen. Jetzt habe ich noch die Möglichkeit, sie gewinnbringend zu veräußern."
Zum ersten Mal, da sie ihren Bruder kannte, hörte sie ihn weinen. Sie nahm ihn in ihren Arm und wiegte ihn sanft. Ein seltsames Gefühl. Aber es bestärkte sie in ihrer Idee. Sie hatte das alles zu verantworten und sie würde es wieder lösen. Vielleicht würde sie nicht die gesamte Schuld tilgen können, aber zumindest die nächsten Raten. Somit könnten sie ein paar Tage durchkommen und – im schlimmsten Fall – etwas Zeit schinden.
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