Kapitel 3-1
„Flo?"
Florentine sah nach unten. Jetzt erst bemerkte sie, dass Laurenz sie schon die ganze Zeit in den Fuß zwickte. Sie stand in seinen Händen, sein angespanntes Gesicht war erwartungsvoll nach oben gereckt.
„Würdest du bitte heute noch springen?"
Sie atmete rasch aus. Bei ihren Übungen konnte sie es sich nicht leisten, nachdenklich zu sein. Ein Fehltritt und sie würde enden wie Elena, die nach einem missglückten Salto fortan vornübergebeugt die Pferde versorgte. Sie atmete ein, ging in die Knie, während Laurenz unter ihr Selbiges tat. Mit einem schnellen Ausatmen streckte sie ihren Körper durch. Sie schoss nach oben, ihre Füße lösten sich aus seinen Händen. Ohne darüber nachzudenken, zog sie die Knie an, spürte die Rotation und streckte sich genauso flink wieder. Schon war Laurenz heran und fing sie auf. Ihre Anspannung löste sich. Sie gaben sich die Hände und berührten einander mit der Stirn.
„Wir sollten eine Pause einlegen", sagte Laurenz und wischte sich das Gesicht mit einem Handtuch ab. Sein nackter Oberkörper glänzte vor Schweiß, trotzdem konnte Florentine sich nicht vorstellen, dass er müde war.
„Zu viel Aufregung für heute?"
„Du machst mir Angst, mit deiner Abwesenheit", erwiderte er ungewohnt ernst.
Ihr Blick wandte sich nach innen. Er hatte Recht. Was sie tat, war unverantwortlich, aber ihre Gedankenwelt nahm sie ohne ihr Zutun in Besitz.
„Seitdem du gestern aus dieser Kutsche ausgestiegen bist, benimmst du dich wie eine schlaftrunkene Bäuerin."
Sie erinnerte sich an die Kutschfahrt mit Elsa zurück. Alexanders Schwester hatte sie mehr oder minder entführt, damit ihr Bruder das Geheimnis um Florentines Herkunft nicht auflöste. Spätestens, wenn seine Kutsche sie vor dem Zirkus entließ oder nur nach Eichenthal einfuhr, wäre ihm klar gewesen, dass sie nicht von edler Geburt sein konnte.
Einerseits war Florentine froh darüber. Sie wollte ihn besser kennenlernen, wissen, was hinter seiner höflichen Maske für eine Persönlichkeit steckte. Auf der anderen Seite wäre es ihr am liebsten, reinen Tisch zu machen. Seit sie um Alexanders Stand wusste, fühlte sie sich unbehaglich in seiner Nähe. Als wäre sie seiner nicht wert – was sie auch nicht war. Und doch brach ihre Zuneigung für ihn unter all den schlechten Gefühlen hervor. Sie malte sich aus, wie er lebte, ihre gemeinsamen Interessen und selbstverständlich, wie sie sich küssten.
Florentines Hoffnungsschimmer war Elsa. Für Alexanders Schwester gab es die Kluft zwischen den Ständen nicht. Sie behandelte Florentine wie eine ihresgleichen und das, obwohl sie von Anfang an um ihren gesellschaftlichen Rang wusste. Möglicherweise herrschte in seiner Familie allgemein eine derartige Einstellung. Aber das schien ihr undenkbar. Ein Graf verfügte über erhebliche Ländereien und konnte es sich sicher nicht leisten, seine Kinder unter seinem Stand zu verehelichen.
„Warum hast du eigentlich diese hübsche Frau gleich wieder weggeschickt?"
„Sie ist eine Edelfrau!"
Laurenz verdrehte die Augen. „Also gut, warum hast du diese hübsche Edelfrau weggeschickt? Sie schien mir bleiben zu wollen."
„Weil ich sie keinesfalls in deiner Nähe wissen will!"
Florentine ging zum Wasserfass und spritzte sich einen Schwall ins Gesicht, ehe sie mit der Kelle einen Schluck nahm. Laurenz stellte sich ihr gegenüber auf. Als sie eine zweiten Handvoll aufnahm, hielt er sie am Arm.
„Ich bin dir wohl nicht fein genug, für deinen noblen Umgang."
„Ich möchte keinen Eklat verursachen."
„Du klingst wie eine aufgeblasene Adlige. Hast du dich in einen von denen verschaut?"
Florentine bespritzte ihn mit Wasser und stapfte in Richtung ihres Wagens. Laurenz eilte ihr hinterher. „Lass mich in Ruhe!"
Er hielt sie an der Schulter fest und sie verpasste ihm eine. „Du wirst dieses Mädchen nicht angreifen! Und es geht dich überhaupt nichts an, mit wem ich verkehre."
„Schön, eine Schwester gehabt zu haben!", rief er ihr nach.
Florentine stockte in der Bewegung. Eine schlichte Kutsche fuhr auf ihren Lagerplatz zu. Sie wies keinerlei Greifvögel oder dergleichen Prunk auf. Es handelte sich sicher um eine Mietkutsche. War das Alexander, der unbekannt reiste? Hatte Elsa ihm alles erzählt? Sie sah an sich herab. Sie trug einen Hauch von nichts. Laurenz trat an ihre Seite und breitete die Arme aus. „Da kommt jemand, um mein verschmähtes Herz zu heilen", sagte er frohlockend.
Es war Elsa, die Florentine freudestrahlend entgegeneilte. Ihre zwei Bediensteten hievten eine Truhe von der Kutsche, die sie neben dem Lagerplatz abstellten. Elsa gab ihnen einen Wink, sich zurückzuziehen.
„Was tut Ihr hier, junges Fräulein?"
Elsa stöhnte auf. „Wir befinden uns nicht in Gesellschaft. Ich bitte dich Florentine, du kannst mich duzen."
Laurenz verneigte sich übertrieben. „Es ist mir eine Ehre", gab er gekünstelt von sich.
Elsa hielt sich die Hand vor den Mund und errötete, worauf Florentine ihm einen Schubs gab, der ihn zu Boden purzeln ließ. „Geh dir ein Hemd anziehen, du Ferkel!" Sie selbst nahm sich einen weiten Überwurf vom Haken ihres Wohnwagens. „Elsa, was, wenn dich jemand hier sieht?"
Elsa sah sich nach allen Seiten um. „Keiner meiner Bekannten würde freiwillig einen Fuß nach Eichenthal setzen. Und selbst wenn, wäre es ihm zu peinlich, das zuzugeben."
„Ich fühle mich geschmeichelt", sagte Florentine eine Spur kühler. Dabei konnte Elsa doch gar nichts für ihre Erziehung und den überheblichen Ton, den ihre Stimme mit sich trug. „Hast du mit Alexander gesprochen?"
Elsa wiegte den Kopf hin und her. „Er war etwas verstimmt, nachdem wir übereilt aufgebrochen sind", sagte sie gedehnt.
„Er muss sich vor den Kopf gestoßen fühlen."
„Nicht nur das. Mein älterer Bruder Georg hat kurz vor uns das Fest verlassen. Nur eine Weile, nachdem du mit ihm getanzt hast."
Florentine hielt sich die Hände vor den Mund. Laurenz kam, in ein halbwegs frisches Hemd gekleidet, von hinten an sie heran und fasste ihre Schultern. „Soso, du treibst es mit gleich zwei Brüdern. Respekt, Schwester. Du machst mir alle Ehre."
Elsa war sofort von Laurenz in den Bann gezogen. Florentine schwante Übles. Er war wie ein Magnet für Frauen. Wenn er Elsa zu einer Dummheit verführte, stünden ihnen größere Probleme bevor als nur Alexanders Groll.
„Möchtest du etwas trinken?", fragte Florentine.
Elsa nickte eilfertig, worauf Florentine selbstzufrieden grinste. „Laurenz, bereitest du der hübschen Dame einen Tee?"
„Mit größtem Vergnügen", antwortete er zerknirscht und zog von dannen. Es würde Zeit brauchen, bis er das Wasser erhitzt hatte. Zeit genug, um Elsa fortzuschaffen.
„Also, was ist nun mit Alexander?", fragte Florentine. Bestimmt dachte er, sie verkehre mit seinem Bruder. Der Gedanke machte sie rasend.
„Du musst wissen, Alexander hat öfters Verehrerinnen", sagte Elsa, ehe sie ihre Lippen zusammenkniff.
Florentine hatte nicht erwartet, dass ein Mann seines Vermögens in einsamer Keuschheit lebte und gab ihr mit Handgesten zu verstehen, sie möge fortfahren.
„Aber kaum sehen sie Georg, verlieren sie das Interesse an ihm."
„Er glaubt folglich, ich habe nur mit ihm gespielt?"
Elsa biss sich auf die Lippe. „Wahrscheinlich. Er war ziemlich schweigsam, als ich gestern heimkam."
Dann hatte sie verloren. Nicht nur, dass sie unter seinem Stand war, nein, nun hielt er sie für ein oberflächliches, leichtes Mädchen. Das entband sie von dem Problem, ihm die Wahrheit zu erzählen. Doch ihn nicht wiederzusehen, versetzte ihr einen Stich.
„Er hat sich heute in sein Atelier zurückgezogen."
Florentine hob eine Braue. „Du willst, dass ich ihn dort aufsuche?"
„Ich könnte dich dorthin bringen."
„Was hätte das für einen Sinn?"
„Ich hielt dich nicht für so einen Feigling, nach den Kunststücken, die du im Zirkus vollführst."
Florentine blies die Wangen auf. Sie fühlte sich versucht, Elsa dafür zu ohrfeigen. Aber eine Adelige zu schlagen, erschien ihr keine gute Idee, selbst wenn sie so vertraut miteinander sprachen. Außerdem hatte Elsa Recht. Kaum traten die ersten Probleme auf, da warf sie schon das Handtuch. Sie wäre nie zu derartiger Perfektion als Artistin gelangt, hätte sie nicht jeden Tag gegen alle Hindernisse geübt. Vielleicht galt es in Beziehungsfragen eine ähnliche Verbissenheit zu zeigen. „Also gut und was ist in der Truhe?"
Elsa öffnete den Verschluss und klappte den Deckel auf. Im Inneren lagen eine Unzahl von edlen Kleidungsstücken. Samt, Brokat und Satin strahlten ihr in verschiedensten Farbtönen, besetzt mit feinster Spitze und Perlen, stellenweise durchwirkt mit Silber- und Goldlahn, entgegen. Diese Truhe war mehr wert, als Florentine in ihrem ganzen Leben jemals verdienen würde.
„Meine alten Sachen", erklärte Elsa.
„Bist du von Sinnen?"
Elsa stöhnte auf. „Ich finde es besser, du trägst sie, als sie von Motten zerfressen zu lassen."
Florentine hatte schon davon gehört, dass es unter reichen Adligen üblich war, ihre Kleidung alle paar Jahre, wenn nicht sogar jährlich, komplett auszutauschen. Doch dieser Kleiderberg, den Elsa achtlos von sich gab, überraschte sie dennoch über alle Maßen. Sie konnte nicht umhin, einzelne Kleider in die Hand zu nehmen und zu bestaunen.
„Vielleicht wirst du sie eine Spur anpassen müssen."
Das würde kein Problem darstellen. Jede bürgerliche Frau war des Nähens mächtig, um selbst Reparaturen an Kleidungsstücken durchzuführen. Und im Zirkus stellten sie allzu oft sogar ihre Auftrittskostüme her. Elsa war nur eine Spur kleiner als Florentine. Dafür hatte sie breitere Hüften und eine üppigere Oberweite. Ein schlechtes Gewissen überkam Florentine. Stimmte sie mit ihrer Freude über diese Fülle an Kleidung gerade zu, Alexander weiter zu täuschen? Sie entdeckte unter all den Sachen einen hübschen schwarzen Anzug, mitsamt einer seidenen Kniehose und Schnallenschuhen. Sie hielt Elsa den Herrenrock entgegen und hob fragend eine Braue.
„Als Dame von Stand brauchst du eine Anstandsperson."
„An wen hast du dabei gedacht?", fragte Florentine in lauerndem Tonfall.
Elsa sah nach oben. „Vielleicht dein Vater oder wie wäre es mit deinem Zirkuspartner?"
„Er ist mein Bruder."
Elsas Gesicht hellte sich auf, als wäre sie erleichtert. Florentine legte die Stirn in Falten. „Das ist perfekt", sagte Elsa, „es ist durchaus üblich, dass ein älteres Familienmitglied eine junge Dame begleitet."
„Elsa, kann es sein, dass ..."
Laurenz kam heran und unterbrach Florentine, indem er Elsa einen dampfenden Holzbecher vor die Nase hielt. Diese nahm ihn ehrerbietig entgegen, als schenkte er ihr ein edles Schmuckstück. Florentine griff sich ein simples Kleid aus der Kiste. „Das hier sollte für den Besuch in einem Atelier genügen", sagte sie entschlossen.
„Lass dir ruhig Zeit bei der Auswahl", entgegnete Elsa.
„Nein, ich ziehe mich gleich in der Kutsche um. Wir wollen Alexander doch nicht warten lassen."
Laurenz wollte etwas einwerfen, aber Florentine hielt ihm den Finger auf den Mund. „Sei ein Schatz und bring die Kiste bitte in unseren Wagen, ja?"
Er sah ihr mit offenem Mund entgegen und Florentine schob Elsa zu ihrem Wagen hinüber. „Ich habe noch gar nicht ausgetrunken", protestierte diese.
„Das schmeckt ohnehin scheußlich." Florentine nahm ihr den Becher ab und warf ihn in hohem Bogen davon. Die Bediensteten sahen ihnen schmunzelnd entgegen und hielten die Tür auf, als Florentine Elsa ins Innere der Kutsche bugsierte. Die Fahrt über verhielt Elsa sich mürrisch und sah mit verschränkten Armen aus dem Fenster. Florentine war das nur genehm. Nachdem sie sich umgezogen hatte, sinnierte sie darüber, ob ihr Tun rechtens war. Ja, sie machte ihm vielleicht etwas bezüglich ihrer Herkunft vor, aber ihr Interesse war echt. Sie wollte nicht sein Geld. Außerdem hatte er sie angesprochen und sich ihr aufgedrängt, nachdem sie weggegangen war. Er hatte sich ungefragt in ihr Leben gedrängt; es war nur recht und billig, dass sie es ihm mit gleicher Münze zurückzahlte.
Die Kutsche rollte Richtung Norden über den Fluss, passierte den gepflasterten Domplatz und bog in das Nobelviertel Schlossgraben ein. Florentine fühlte sich unbehaglich. Es war, als durchquerten sie das Tor in ein fremdes, ihr abgeneigtes Reich. Die Häuser wurden größer und stattlicher, quetschten sich dicht an dicht, als wäre jeder Zentimeter hier Gold wert. Derweil waren die Straßen breit angelegt, sodass gut drei Kutschen aneinander vorbeikonnten, und verfügten zusätzlich über sauber abgetrennte Bürgersteige. Sie fuhren in einen schlichteren Teil des Viertels, in dem die herrschaftlichen Anwesen ausladenden Wohnhausanlagen wichen. Vor einem weiß getünchten Haus hielten sie an. Eine Treppe mit gusseisernem Geländer führte in die oberen Etagen. Im Erdgeschoss versperrte eine stabile Holztür den Weg ins Innere.
Elsa machte keine Anstalten aufzustehen, deutete nur auf den Eingang. „Es soll nicht den Eindruck erwecken, ich hätte dich hierzu genötigt."
Florentine nickte verstehend. Das hier musste sie allein durchziehen. „Ich danke dir. Auch wenn ich glaube, dass du es nicht völlig ohne Eigennutz tust."
Elsa schob die Unterlippe vor. „Geh schon."
Einer der Bediensteten öffnete ihr die Tür und half ihr beim Aussteigen. Sie winkte Elsa, als die Kutsche von dannen fuhr. Ein letztes Mal atmete sie tief ein, streckte ihren Rücken durch. Dann klopfte sie an.
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