Prolog
,,Das Wasser ist heute sehr unruhig.", murmelte Broin, als er an die Schlucht trat und das Wasser betrachtete, welches unbarmherzig gegen die steilen Felsen krachte. ,,Das war es lange nicht mehr."
,,Seit wann macht dir das Wasser Angst?", höhnte eine Frau, nicht weit weg von ihm im mittleren Alter und verzog ihr Gesicht. Broin ignorierte ihre plumpe Bemerkung. Er war lange genug auf dieser verdammten Insel gewesen und konnte sehr wohl die Zeichen deuten, die stets ein Unheil verkündeten.
,,Wasser ist Wasser und Wasser...kann sehr launisch sein.", es war der Älteste im Bunde, der seine faltige Hand auf Broins Schulter platzierte und nun hinter ihn getreten war.
,,Und was bildet der Seher sich hier schon wieder ein?", Fenja deutete mit einem spitzen Stock auf die beiden Männer, „Ist ja nicht so, dass seine Erkenntnisse uns nicht das ein oder andere Mal bewahrt haben!"
,,Das Meer war seit Monden ruhig.", pflichtete Broin trocken bei, ,, Wenn es so unruhig ist, dann geschieht etwas. Ich habe es im Gefühl."
„Bei dunklen Wolken würde selbst ich ein grollendes Gewitter erkennen", krächzte Fenja lachend und streckte den Ast gen Himmel.
,,Das meine Liebe,", Walcott wandte seinen Kopf zu der Frau, die ihre besten Jahre schon überstanden hatte, ,,würde sogar ein Kind erkennen. Erfahrungsgemäß hat aber unser guter Broin ein außergewöhnliches Gespür für Veränderungen. Auch wenn...", der alte Mann zögerte kurz, ,,...Wasser nur Wasser ist."
Der Knall, den die nächste Welle verursachte, verschluckte fast den letzten Teil der Worte des Mannes und wirkte noch unheimlicher im düsteren Licht.
,,Wir sollten zurück zu den anderen gehen", Walcott blickte auf die Dämmerung, ,,Ich wäre gerne vor Einbruch der Nacht im Lager. Die Meute wird sicherlich hungrig sein."
,,Immer magst du vor der Dunkelheit im Lager sein", murrte Fenja und hievte sich auf die Beine, ,,Als würde uns hier irgendwas auf der Insel belästigen."
Broin konnte den Unmut in Walcotts Augen erkennen. Das leichte Zucken der Wangenmuskeln, wenn er seine Wut kontrollieren musste. Und dass diese Wut heute gegen die höhnende Fenja ging, ließ in Broin eine Woge der Genugtuung erglühen. Schließlich hatte er die Gruppe schon öfter vor einigen Gefahren geschützt. Da war letzten Blattfall der Erdrutsch gewesen, der ihr Lager zerstörte und den er eine Nacht zuvor kommen sah.
Schon bevor er auf diese Insel verbannt wurde, - dies musste nun fast zehn Jahre her sein-, war es eine Einfachheit für den jungen Mann gewesen, Zeichen zu deuten. Auch wenn ihn die Anderen niemals zugehört hätten. Er zog seinen schwarzen, dicken Mantel über seine Arme. Jeder von Ihnen trug diese Kluft. Es war das einzige Hab und Gut, was die Männer und Frauen mitführen durften, wenn sie hier hin überführt wurden. Doch es war noch etwas in Walcotts Gesicht, was Broin beunruhigte. Es war eine Anspannung, die der Mann ausstrahlte, die man nur selten wahrnahm. Waren es Broins Vorhersagen gewesen, die bei dem Anführer solche Angst auslösten? Oder waren es die Schatten, die heute besonders tief von den Bäumen der Insel fielen? Jeden Abend kamen sie hierher. Beobachteten das Wasser, lugten zum Festland, dessen Umrisse in der Ferne zu erkennen waren. Versuchten Boote zu erkennen, die stets am Abend anlegten, um Neuankömmlinge abzusetzen, die sich hilflos an die steinige Schlucht klammerten. Er selbst erinnerte sich noch, wie es war. Das kalte, salzige Wasser, was seine Lungen übermannte, und seine Kleidung vollsog. Als würde das Meer ihn beanspruchen wollen. Es war, als wäre es gestern gewesen, als seine vor Anstrengung zittrigen Arme den glitschigen Stein umklammerten und die Hoffnung auf Rettung in ihm schwand.
Bis Walcott kam. Er und ein anderer Mann der Gruppe zogen ihn herauf, führten ihn auf die Insel. Er überlebte.
Jeder Tag hier war schlimmer als der Nächste, doch das alles war schlussendlich besser als der Tod. Obwohl. Broin schielte zu Fenja. Er wusste, dass sie zwei Bälger zurücklassen musste, als man sie hierher verbannte. Nun trug sie schlecht gelaunt den Hasen auf dem Rücken. Fenja war keine gute Gesellschaft um seine Situation zu verdrängen.
Zielstrebig stapften sie durch den Wald. Der Wind war kalt, was den Blattfall der Bäume begünstigte und den Boden in ein farbenfrohes Spektakel verwandelte. Bald würden die Nächte voller Kälte und Schrecken sein. Zu jedem Schneefall verloren sie Gefährten. Broins Augen fielen auf Walcott. Das weiße Haar des Mannes war wild und lang. Er wusste nicht, wie lange Walcott schon auf der Insel war, aber jeder respektierte ihn als Anführer. Als Oberhaupt. Broin wusste auch bei ihm nicht, was er verbrochen hatte. Die Insel war das größte Strafgut für Menschen wie sie. Keine Besonderheiten, keine Talente. Meist reichte ein Gesetzesbruch und man wurde verdammt. Er selbst hatte damals einen Bäcker beklaut. Es war ein kalter Winter gewesen. Bereut hatte er es nicht.
Sie folgten einem schmalen Pfad, -mehr auf der Hut als sonst-. Die Bäume auf der Insel standen dicht und ließen den Wald noch enger wirken. Es war eigentlich ein kleiner Wald. Der Rest der Insel war von toten Gras und toten Holz übersät. Gezeichnet von den Jahren, in denen die Menschen versuchten zu überleben.
Sie liefen nicht lang, als sie endlich zur erhofften Lichtung kamen. Schon von weitem hatten sie das leicht rötlich schimmernde Licht zwischen den schwarzen Stämmen wahrgenommen und das ausgelassene Geplänkel der Gefährten gehört.
Erst, als die Drei ins Licht traten, verstummte die Menge und sie standen knapp zwanzig aufmerksamen Gleichgesinnten gegenüber.
Walcott hob die Hände ,,Alles ruhig heute, es gibt keine Neuankömmlinge."
,,Sehr gut!", eine dunkle Stimme hob einen Krug und grinste, ,,Dann müssen wir nicht noch mehr von unserem Schank und Trank teilen."
Fenja trat vor und schmiss ihm den Hasen hin, sie sah ihn streng an: ,,Tu lieber was für deinen Anteil, bevor wir es uns anders überlegen."
Während eine Diskussion und eine halbe Freude über das Frischfleisch in der Gruppe ausbrach, blickte Broin zu Walcott. Der alte Mann wirkte abwesend und schien durch das kleine Feuer zu starren, welches die Mitte des provisorischen Lagers darstellte. Er trat neben ihn ,,Du wirkst beschäftigt."
,,Es ist ein Gefühl. Deine Warnung. Ich habe im Sinn, dass der Wald heute anders war."
,,Anders?"
,,Als ob wir heute nicht alleine sind. Aber vergiss die wirren Gedanken eines alten Mannes und ruh dich aus. Schlaf ist unser wichtigstes Gut."
Broin beließ es dabei. Er kannte das Oberhaupt zu gut, um Widerworte zu leisten. So gesellte er sich ans Feuer und bekam sogar ein Stück von dem Hasen zu seiner Schleimsuppe ab, die sie täglich aus Blättern, Gras und Samen herstellten. Eines der verfügbaren Güter, die sie täglich auftreiben konnten. Erst, als auch der letzte Bissen verdaut war, begab der junge Mann sich an den Rand des Lagers. Hier und dort waren aus Moos und Laub kleine Betten gebaut. Er musste zugeben, dass diese Füllung sogar bequemer als seine alte Holzbank war, auf der er auf dem Festland genächtigt hatte.
Mit gefalteten Händen schloss er die Augen und fiel in einen unruhigen Schlaf.
*
Es war ein Stimmengewitter, welches diesen unterbrach. Der junge Mann blinzelte. Nicht einmal die Morgendämmerung hatte sich über die Baumkronen gekämpft. Wieso waren die anderen schon wach? Er setzte sich auf. Die Betten um ihn herum waren leer. Der fade Rauch des Feuers ließ sich durch die leichte Glut erkennen. Seine Gefährten standen gesammelt am Rand des Feuers. Es wirkte, als würden einige es erneut entfachen wollen. Das aufgeregte Gemurmel passte nicht in das Verhalten. Vor allem nicht zu dieser Zeit. Er stand auf und strich sich über sein Gewand, welches ein wenig von Blättern und Dreck besudelt war. Verwirrt versuchte er einen Überblick zu bekommen und trat zu der Gruppe.
,,Das ist unmöglich."
,,Niemand kommt einfach hier hin."
,,Was er wohl mit Walcott beredet?"
,,Vielleicht bringt er uns hier weg!"
Wer ist ER? Broin runzelte die Stirn. Er sah Fenja, die in der Nähe auf dem Boden saß. Wie immer wirkte sie unzufrieden und gelangweilt. Sie würde er sowieso nicht fragen. Er wandte sich schließlich dem Nächstbesten zu.
,,Wieso ist hier so eine Aufruhr?"
Ein großer, bulliger Mann mit einem narbenübersäten Gesicht drehte sich zu ihm ,,Die Nacht kam ein Neuer. Seine einzigen Worte waren, dass er nur mit dem Anführer sprechen würde."
Broin hob eine Augenbraue. Niemand kam zu dieser Zeit. Dies ergab keinen Sinn. Doch niemand hier würde ihm die Antwort geben können, die er wollte. So blieb er ebenfalls abwartend stehen. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an.
Erst, als sich die ersten Farben in den Himmel bildeten, raschelten die Büsche und zwei Gestalten traten hervor. Walcotts weißes Haar stach sofort heraus. Sein Gesicht wirkte ernst und dennoch zufrieden. Broins Augen fielen auf den Fremden. Ein großer Mann, er würde sogar den Größten hier überragen. Er trug eine ähnliche schwarze Kluft, wie es hier üblich war, doch wirkte sie noch frischer und ungebraucht. Sein Gesicht war in Schatten gehüllt, die Kapuze des Mantels tief über dem Kopf gezogen. Walcott blickte langsam über jeden hinweg, bevor er die Arme hob: ,,Freunde. Gefährten. Gleichgesinnte. Wir alle sind hier, weil man uns Nichtsnutze aufgrund gewisser Taten verbannte. Manche mussten mehr als nur mickriges Gut zurücklassen.", sein Blick blieb kurz an Frenja hängen, ,,Dieser Mann hier kam über das Meer. Auf der Suche nach uns."
,,Wieso sollte er gerade uns suchen?", eine junge Frau, nicht weit von Broin sah ungläubig nach vorne.
,,Er wird uns auf das Festland bringen.", Walcotts Stimme klang ruhig, fast streng. Und doch löste es einen Tumult aus. Die Männer und Frauen fingen wild an zu reden, sodass selbst Broin kaum ein Wort verstand.
Erst, als der Fremde vortrat, verstummten die Gemüter. Er strahlte eine ungeheure Macht aus, die Broin selten bei einem Mann wahrgenommen hatte.
,,Man hat euch hierher geschickt.", seine dunkle Stimme zog sich zwischen ihnen und schien von der Dunkelheit und dem Wald aufgesogen zu werden, ,,Ihr seid Diebe. Mörder. Lügner. Und doch komme ich her und biete euch meine Dienste an."
Leicht hob er seinen Kopf, sodass man seine Augen nur erahnen konnte.
,,Die da drüben denken, sie wären etwas wertvolleres als ihr. Etwas besonderes.", es war der Hass, die Wut und die Verachtung, die die Gruppierung an seinen Lippen hängen liess. Selbst Broin musste zugeben, dass er sich angezogen fühlte. Die Verlockung auf Rache, die unterschwellig aufkam.
,,Doch ist es nicht an der Zeit, dass die Mehrheit der Bevölkerung endlich ihren Platz einnehmen kann?"
Einzelne Personen stimmten murmelnd zu. Andere sahen sich mit leuchtenden Augen an. Broin blickte zu Walcott. Der alte Mann stand zufrieden da. Die Hände vor dem Körper verschränkt, die Augen über die Menge schweifend.
,,Wir sind die, die den Abschaum vernichten muss. Ihr seid die, die schon mindestens einmal im Leben gezeigt haben, dass ihr euch traut, die Rebellion anzugehen."
Die Stimmen wurden lauter. Euphorischer.
,,Es ist Zeit, dass wir nach und nach unsere Welt reinigen."
Die Stimme des Fremden verklang und Walcott trat mit ausgestreckten Armen vor.
,,Ich verlangte nie viel von euch meine Freunde. Ich rettete euch, wir teilten Speis und Trank. Nun ist es an der Zeit, dass unsere Strafen enden. Dieser Mann hat uns einen Ausweg geboten. Er wird für mich kämpfen. Für uns. Werdet ihr mit in die Schlacht ziehen?"
Das Gejubel erfüllte die ganze Lichtung. Nur Broin konnte dem Glücksgefühl der Anderen nicht folgen. Der Fremde war ihm suspekt. Das Wasser hatte ihm ein Unheil vorhergesagt und genau jenes schien nun genau vor ihm zu stehen.
,,Broin!"
Die schneidende Stimme von Walcott durchzog die Luft, sodass der junge Mann rasch aufblickte.
,,Du schließt dich der Sache nicht an?"
Broin schluckte. Die dunkle Präsenz des Fremden schien ihn zu erdrücken. Walcotts prüfender Blick machte die Situation kaum angenehmer. Es war das flaue ängstliche Gefühl, was ihn abhielt, seine Gedanken frei auszusprechen. Niemand würde ihm Glauben schenken. Sie waren zu vernarrt in den Gedanken, die Insel verlassen zu können. Also senkte er nur unterwürfig den Kopf ,,Natürlich schließe ich mich der Sache an."
Es war das Blitzen in Walcotts Auge, was Broin verriet, dass er ihm nicht glaubte, doch der alte Mann sagte nichts. So wandte er sich wieder den Menschen zu, nickte feierlich und trat zu dem Fremden ,,Führe uns über das Wasser und hilf uns. Werden wir siegen, so sollst du alles bekommen, was du verlangst."
Der Fremde verbeugte sich leicht und stapfte davon in den Wald. Gefolgt von der Gruppe, die nichts anderes im Kopf hatte, als Rache, und Broin, der ahnte, was für einen Fehler sie alle begingen.
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