Kapitel 1
Ich stehe am Rande einer Klippe und blicke ins endlose Blau des Wasser hinaus. Das Meer erstreckt sich grenzenlos unter mir und im Horizont vereint sich das Gewässer tanzend mit den Himmel, sodass ein kaum sichtbarer Übergang entsteht. Der Wind weht mir entgegen, spielt mit meinen silbernen Haaren, die wie aus Seide im Licht schimmern. Das aufgewühlte Meer rauscht. Immer wieder bäumt es sich zu hohen Wellen auf und kracht gegen die Klippen.
Kein Mensch würde in dieser unruhigen See überleben. Auch nicht der beste Schwimmer. Doch ich bin keiner von ihnen. In meinen Ader fließt kein Blut. Zumindest kein roter Saft des Lebens. Dennoch lebe ich. Hier am Meer fühle ich mich am Lebendigsten. Es ist mein Zuhause und manchmal kommt es mir so vor, als wäre das launische Gewässer ein Spiegel meiner Seele. Wunderschön doch genauso tödlich zugleich.
Einerseits bietet es einen traumhaften Anblick, doch hinter der Fassade versteckt sich ein monströses Gesicht. Es reißt Schiffe auf den Meeresgrund, ertränkt Seefahrer, türmt sich zu meterhohen Wellen auf, lässt ganze Siedlungen oder Städte versinken und raubt Kindern und Erwachsenen das Leben, ohne auch nur einen Anflug von Reue zu zeigen. Es ist ein Ungetüm. Eine Naturgewalt. Kaum bezwingbar. Eine Gefahr für jegliches Leben. Trotzdem lockt es Tag für Tag Menschen ins Meer hinaus. Die meisten kommen wohlauf zurück. Andere werden nie mehr gesehen. Die See hat sie zu sich geholt. Es hat sie in ihre Tiefen verschluckt.
Genüsslich lege ich den Kopf in den Nacken und versuche mich meiner Umgebung hinzugeben, um eins mit ihr zu werden. Die Geräusche und die vielseitigen Gefühle nehme ich hingebungsvoll auf. Ich versuche mein Leben und mein Wesen zu vergessen. Jetzt zählt nur dieser Moment.
Plötzlich schlägt ein greller, schmerzerfüllter Schrei durch meine sehnlichste erwünschte Stille. Ich reiße die Augen auf und schelle herum. Das Meer ist verschwunden. Stattdessen fließt überrall ein blutroter Bach. Blut. Die feuerrote Flüssigkeit bahnt sich ihren Weg durch eine schier endlose Anzahl an Leichen. Es umspült den Boden mit seiner Grausamkeit, bis sich in Mitten des Schlachtfelds ein roter Teich bildet. Die Luft schimmert in einer bläulichen, unnatürlichen Färbung und taucht die Umgebung in ein abstraktes Licht. Schwerter prallen aufeinander. Stimmen zucken wahllos durcheinander, betteln um Hilfe, bevor sie in einem erstickten Laut enden.
Zwei Fronten kämpfen um die Oberhand. Ununterbrochen fallen auf beiden Seite Krieger. Bei manchen hebt sich noch langsam die Brust, doch bei anderen starren die Augen leer in den verkohlten Himmel. Ihr Blut verfärbt das Gras rot. Blitze zucken durch den Himmel und reißen grell den Himmel entzwei, bevor sie auf die Schlacht niedergehen. Feuer und Wasser liefern sich einen unerbittlichen Kampf. Die Erde bebt und in all dem Chaos erkenne ich, dass sich eine weitere Front einmischte. Es kämpft mit wie niemals zuvor. Mein Volk!
Meine Aufmerksamkeit fällt auf eine Kutsche, die durch die Luft fliegt. Ein Mann mit Krone ist der Lenker. Mein Onkel. Der König. Das Gewitter folgt seinem Willen. Mit der Zeit sehe ich immer mehr bekannte Gesichter. Im Wasser, am Boden und in der Höhe. Ihre Kräfte durchschneiden die Luft und sie stürzen sich aufeinander. Mein Vater steht in einem Teich, seinen Dreizack in der Hand. Das Wasser gehorcht seinen Handbewegungen sofort und leistet ihn willenlos Folge als er versucht, seinen Bruder vom Himmel zu holen, doch erneut blockt eine Feuerwand seinen Angriff.
Erschrocken blicke ich auf das Geschehen und wache erst aus meiner Trance, als ich meinen Namen höre. Der Ruf reißt mich aus meiner Welt. Alles wird schwarz.
Ich liege wieder auf der Klippe und höre das Rauschen des Meeres. Dennoch schmerzt mein Kopf. Ein Anzeichen dafür, dass der Kampf nicht echt war. Er fand in einer Vision statt, die mich unerwartet erreicht hat.
Plötzlich ertönt die leise Stimme wieder in meinen Gedanken: ,,Komm zu mir, Mädchen. Schnell! Bevor es zu spät ist! Folge dem Weg, den dir dein Herz zeigt. Komm nach Artisa. Der einzigen, bestehenden Insel Atlantis! Ich warte auf dich!" Und ich schlage meine Augen auf.
Eine verschwommene Gestalt beugt sich über mich. Es ist mein Bruder, der mich voller Sorge beobachtet. Beruhigt lächle ich ihn an und folge danach seinem Blick. Mein Dolch liegt neben mir am Boden und ein kleiner Schnitt am Arm zeigt, dass ich während der Vision erneut die Kontrolle über meinen wahren Körper verloren habe. Unzufrieden konzentriere ich mich auf die Verletzung aus der langsam mein Blut strömt. In feinen Bahnen fließt es Richtung Erde und tröpfelt Richtung Boden. Es hat keine rote Färbung. Dennoch hält es mich am Leben. Es ist Licht, das durch meine Adern fließt. Die Wunde schließt sich und Sekunden später ist nichts mehr zu sehen.
Ich stehe schwankend auf und will mich bei meinem Bruder festhalten. Doch ich greife durch ihn hindurch. Sofort muss ich an die Worte meines Vaters denken. ,,Er existiert nur in deiner Einbildung. Kämpfe dagegen an!" Verzweifelt kneife ich meine Augen zusammen. ,,Ich sehe ihn doch!", denke ich bestürzt: ,,Wie kann es ihn nicht geben!" Seufzend blicke ich ihn an und mache eine verscheuchende Handbewegung. Mein Bruder lächelt mich entschuldigend an und löst sich langsam auf.
Also er verschwindet, verändert sich meine Wahrnehmung. Ich nehme meine Umwelt dumpfer als sonst war. Meine Sinneswahrnehmung verschwinden und in mir drinnen erwacht etwas. Danach spüre ich plötzlich eine leise Stimme, die nach mir ruft. Ich lasse mich fallen und schließe meine Augen. Ich folge dem
Weg, den mein Herz mir zeigt und löse mich in blaue Spiralen auf.
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