
Kapitel 68 - Taking You Home
Das Laub raschelte unter ihren Schuhen, als Evelyn und Liam einem der zahllosen Wild-Pfade des Waldes bis zurück zur Kiesstraße folgten. Der Regen vom Vortag glitzerte auf den roten, orangefarbenen und gelben Blättern und überzog sie wie Tau - genau wie die Wangen ihres Sohnes, die vor Aufregung und Anstrengung gerötet waren.
Ein Blick auf das Zifferblatt der Uhr an ihrem Arm verriet Eve, dass sie die letzten Stunden damit verbracht hatten, Chief zu suchen. Keiner von ihnen hatte den Hunger, geschweige denn die Nerven gehabt, etwas zu frühstücken. Während Ryker sich also ins Auto setzte, um (angeblich) die Gegend abzufahren, in Wirklichkeit aber Dylan aufzusuchen, war sie mit Liam in den nahen Wald gelaufen.
Sie riefen.
Wieder und wieder und wieder.
Eve fürchtete sich vor jedem Busch, jedem umgestürzten Baumstamm und jeder Mulde, weil sie die Angst quälte, Chief dort vielleicht leblos zu finden. Immer wieder raste ihr Herz, wenn sie irgendwo ein Rascheln hörten. Doch am Ende blieb ihre Suche erfolglos, und um sich nicht in dem weitläufigen, weglosen Waldgebiet zu verirren, mussten sie schließlich umkehren.
Liams Augen waren von den vielen Tränen verquollen und immer wieder zog ihr Sohn lautstark die Nase hoch oder wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht.
"Alles wird gut, mein Schatz. Wir finden ihn bestimmt", sagte sie immer wieder, aber die Worte klangen in ihren Ohren schal und wenig überzeugend.
Obwohl sie nur wenige Stunden unterwegs gewesen waren, fühlte sie sich erschöpft, als das Cottage wieder in Sicht kam.
"Ich will weiter nach Chief suchen", jammerte Liam weinerlich und brach ihr damit noch mehr das Herz.
"Ich weiß, mein Schatz. Aber im Wald ist es abseits der Wege gefährlich und wir kennen uns nicht gut aus. Lass uns ein paar Klamotten holen und eine Fährte legen? Chief ist ein sehr schlauer Hund, vielleicht findet er so nach Hause", schlug sie vor und spürte, wie sich ihr Magen bei diesen Worten noch mehr zusammenzog. Es war, als würden eiskalte Finger in ihren Bauch greifen und ihn ein paar Mal um sich selbst drehen.
Liam schniefte noch einmal, dann nickte er, wobei seine Schultern aber noch ein wenig tiefer sanken. Eves Finger umschlossen die kleine Hand ihres Sohnes ein wenig fester, um ihm zu zeigen, dass sie bei ihm war und seinen Schmerz teilte. Hätte sie gekonnt, hätte Eve ihm die Last von den Schultern genommen und die schweren Steine in ihre eigenen Taschen gesteckt. So trug sie seine Last im Stillen.
Die Sorge, ob Chief ihretwegen etwas zugestoßen war oder ob die Möglichkeit bestand, dass Dylan nun auch Ryker etwas antun würde? Wie sollte es weitergehen?
Eve fühlte sich, als hätte sie im Wald die Orientierung verloren ... und diesmal konnte auch der Anblick des Cottages dieses Gefühl nicht vertreiben.
Ganz im Gegenteil.
Eve ließ den Blick über die Fenster des alten Hauses gleiten, das ihr bisher so viel Sicherheit versprochen hatte. Wie oft war Dylan um das Haus herumgeschlichen? Wie lange hatte er sie schon beobachtet und wie oft war er in ihr Zuhause eingedrungen?
Ohne dass sie es bemerkte, verlangsamten sich ihre Schritte ein wenig. Der Kies knirschte unter ihren Sohlen, als sie den Parkplatz überquerten.
Vor ihrem inneren Auge sah Eve ihren Ex-Mann durch das Haus streifen, wenn sie nicht da waren. Er öffnete Türen, zog Schränke auf und griff nach ihren Kleidern. Ein unangenehmer Schauer breitete sich in ihrem Nacken aus und kroch wie kleine Spinnen ihren Rücken hinunter. Kopfschüttelnd zog sie den Schlüssel aus der Jackentasche, streckte die Hand aus ... und hielt inne.
Die Tür ... stand offen.
Es war nur ein Spalt. Sie war angelehnt, und eigentlich hätte es keine große Sache sein müssen. Vielleicht war Riona nach Hause gekommen und hatte vergessen, die Tür richtig zu schließen - oder Eve war es selbst gewesen. Immerhin war sie ziemlich durcheinander, als sie das Haus verließen, um Chief zu suchen.
Trotzdem beschleunigte sich unweigerlich ihr Puls.
War es denn so? Hatte sie es vergessen? Eve versuchte sich zu konzentrieren. Erinnerungen fielen vor ihrem inneren Auge herab wie Blätter, die im Herbst von einem geschüttelten Baum rieselten.
Nein, eigentlich war sie sich sicher, dass sie abgeschlossen hatte. Vor allem nach heute Nacht, denn deswegen hatte Ryker sogar noch alle Fenster kontrollieren müssen. Sie wollte sich nicht verrückt machen oder von Dylan erfolgreich in Panik versetzen lassen. Vielleicht bedeutete es wirklich nichts.
Aber was, wenn doch?
"Mama?", ertönte Liams fragende Stimme hinter ihr.
Eve blinzelte und merkte erst jetzt, dass sie wie ein Idiot vor der Tür stand, die Hand auf der Klinke, den Schlüssel in der Hand - und mitten in der Bewegung erstarrt war.
"Tut mir leid, Schatz", sagte sie schnell, ließ die Tür los und wandte sich Liam zu. Sie ging leicht in die Hocke, während ihr Blick etwas hektischer die Umgebung absuchte.
Sie hatte kein gutes Gefühl. Und inzwischen war sie bereit, auf ihr Gefühl zu hören ...Was sollte sie also tun?
"Liam, du musst jetzt ganz genau zuhören." Eve suchte den Blick ihres Sohnes und ihre Miene wurde ernster. Obwohl sie versuchte, leicht zu lächeln, um ihn nicht zu erschrecken, musste er verstehen, dass sie ernst meinte, was sie sagte und er zu gehorchen hatte. "Ich möchte, dass du zum Schuppen gehst und von innen abschließt, okay? Du wartest, bis ich komme und dich hole, und öffnest niemandem außer mir und Tante Ri. Hast du verstanden?"
"Ist etwas nicht in Ordnung?"
Der Junge spürte ihre Besorgnis und Eve drückte ihm schnell einen Kuss auf den Scheitel. "Ich will nur das Haus kontrollieren, mein Schatz."
"Wegen Dad?"
Die Frage traf Eve völlig unvorbereitet. Das matte Lächeln fiel von ihrem Gesicht und zersprang wie eine Porzellanvase. Einen Moment lang konnte sie Liam nur anstarren, bevor Eve sich wieder fasste.
"Ja, wegen Dad", gestand sie leiser und griff etwas fester nach den Schultern des Jungen. "Und jetzt geh und versteck dich", befahl sie dann und sah, wie Liam die Stirn runzelte.
"Aber ... Ray ist nicht hier", murmelte der Junge plötzlich.
"Was?" Eve konnte ihrem Sohn und seinen Gedankengängen nicht direkt folgen. "Wie meinst du das, Liam?"
"Ray ist nicht hier, um auf uns aufzupassen. Also muss ich dich doch an seiner Stelle beschützen ...", murmelte der Junge und Eve spürte einen Stich im Herzen bei dem Gedanken, dass ihr Sohn glaubte, sie vor seinem eigenen Vater retten zu müssen.
"Nein, Liam", sagte sie deshalb und sah ihrem Sohn fest in die Augen. Sie konnte sehen, wie er mit einem schlechten Gefühl die verbrannte Haut in ihrem Gesicht betrachtete ... die unschuldigen Kinderaugen, die ihr milchiges Auge fixierten.
Da war Schuld, wo keine sein sollte. Keine sein durfte. Liam war viel zu früh erwachsen geworden und hatte solche schrecklichen Dinge erleben müssen. Das würde sie nie wieder zulassen.
"Hör zu, mein Schatz, ich bin sehr stolz auf dich. Du bist mutig, ein guter Junge und ich liebe dich über alles", beteuerte sie und meinte jedes Wort so, wie sie es sagte. "Aber du brauchst mich nicht zu beschützen. Noch nicht. Wenn du groß bist, passen wir aufeinander auf. Denn so macht man das in einer Familie. Aber bis dahin bin ich diejenige, die dich beschützen wird - Und die dich besser hätte beschützen sollen." Eve drückte ihrem Sohn einen Kuss auf die Wange. "Wir sind beide stärker als zuvor, mein Schatz. Und keiner von uns muss Angst vor deinem Vater haben. Aber ich will sichergehen, okay?"
Eve sah, wie Liam schwerer schluckte und die Hände zu Fäusten ballte, während er die Lippen aufeinander presste und fast grimmig auf den Boden starrte. Doch dann nickte er endlich.
"Gut. Ich werde bald zu dir kommen, mein Schatz. Aber du wirst warten müssen. Versprich es mir."
"Versprochen", murmelte der Junge, dann machte er auf dem Absatz kehrt und lief in Richtung des Schuppens davon.
Eve harrte einen Moment, sah ihrem tapferen Sohn nach und zog dann ihr Handy aus der Tasche. Zweimal versuchte sie zu wählen, dann gab sie auf. Wie erwartet hatte sie keinen Empfang. Trotzdem schrieb sie eine SMS an Ryker, in der Hoffnung, dass die Nachricht ankam: >>Ich glaube, es ist jemand im Haus. Bitte komm schnell zurück.<<
Dann atmete sie tief durch, legte die Hand wieder auf die Klinke, zog die Tür auf und trat ein. In ihrer Brust hämmerte ihr Herz gegen den Käfig ihres Brustkorbes, als würde es am liebsten wie ein aufgescheuchtes Reh davonspringen. Ein Teil von ihr wollte es tatsächlich. Trotzdem zwang sie sich, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Die Zeit des Fortlaufens war vorbei.
"Hallo?", rief sie schließlich in die Stille des Hauses und versuchte, so selbstsicher wie möglich zu klingen. Wenn Dylan trotz ihrer unmissverständlichen Warnung noch einmal zurückgekommen war und sogar Chief etwas getan hatte ... dann würde sie ihm jetzt die Hölle heiß machen - und ihm zeigen, was für eine Frau sie geworden war.
Angespannt lauschte sie.
Aber es kam keine Antwort.
Lediglich das sich wiederholende Ticken der großen Standuhr im Wohnzimmer und sonst ... nichts. Nur Stille - und sie war ihr noch nie so erdrückend vorgekommen. Vor ihr lag der lange Flur, der zur Treppe und von dort ins Obergeschoss führte.
Eve behielt die Schuhe an. Ob passend oder nicht, sie dachte an die Möglichkeit, dass sie fliehen musste, und dann wollte sie auf keinen Fall in Socken sein - auch wenn diese auf dem Boden leiser gewesen wären.
"Nein, du wirst dich nicht im eigenen Haus fürchten oder wie ein Feigling herumschleichen", sagte sie sich energisch und griff nach einem Schirme aus dem eisernen Ständer, um wenigstens eine mehr oder weniger improvisierte Waffe in der Hand zu haben. So lächerlich und nutzlos sie gegen einen kampferprobten Seal auch sein mochte, etwas in der Hand zu haben, beruhigte sie ein wenig.
Zumindest so lange, bis sie in den Flur trat und ihr Blick ins Wohnzimmer glitt. Dort, an der Tür, blieb Eve wie vom Donner gerührt stehen und augenblicklich gefror ihr das Blut in den Adern.
"Was zur...", murmelte Eve, während ihr Blick über das Bild der Verwüstung glitt.
Der alte Ohrenbackensessel, der unweit der Feuerstelle gestanden hatte, war umgestoßen und lag auf der Rückenlehne, die Beine wie eine umgefallene Schildkröte in die Höhe gestreckt. Die weiße Porzellanvase der Anrichte war heruntergefallen. Scherben lagen nun auf den Dielen des Holzbodens zerstreut, zwischen einem Meer aus Blütenblättern, abgeknickten Blumen und dem verschütteten Wasser.
Eves Blick streifte darüber hinweg und ihr Herzschlag schien mit jedem Stückchen Chaos schneller zu stolpern. Im ersten Moment war die junge Frau vollkommen erstarrt; dann machte sie einen zögerlichen Schritt in den Raum und fasste den Schirm noch fester – als könnte sie sich daran festhalten.
Der Tisch im Wohnzimmer war zerschlagen, schimmernde Scherben lagen inmitten der einstigen Glasplatte und... war das Blut?
Wie eine Marionette, die an Fäden gezogen wurde, machte sie einen weiteren Schritt. Eine Scherbe knirschte unter ihren Sohlen, als sie in die Hocke ging und einen der Splitter in die Hand nahm. Im Licht des Tages schimmerte das gesprungene Stück Glas. Eves Atem stockte, während sie auf die roten Schlieren starrte, welche den glatten Splitter beschmierte. Ja, sie hatte sich nicht geirrt.
Ruckartig richtete sie sich auf und ließ das Stück Glas fallen, als hätte sie sich daran verbrannt.
Es war Blut.
Was war hier nur passiert?!
War Dylan erneut eingebrochen und hatte seinem Zorn Luft gemacht?
Das konnte sie einfach nicht glauben. Nein... so schlimm war es mit ihm nie gewesen!
'Aber er ist auch noch nie nachts eingebrochen... und er hat vorher auch nie Liam oder dich verletzt - und dann ist es doch passiert...'
Konnte es wirklich sein? Hatte Dylan nun vollkommen den Verstand verloren? War er zurückgekommen, um sie und Liam nun doch zu zwingen, mit ihm zurückzugehen?
Die junge Frau taumelte einen Schritt zurück, weil ihr schwindlig wurde. Dabei stieß ihr Fuß gegen einen Apfel, der aus der umgeworfenen Obstschale gefallen war und jetzt ein Stück fortrollte. Eine Sekunde starrte sie dem rollenden Obst nach, als könnte es sich plötzlich in etwas anderes verwandeln. Der Apfel stieß gegen die Kante des Teppichs, schwankte kurz... und blieb dann still liegen, als gehörte er wie ein genau dort platziertes Requisit in dieses Szenario.Das war... verrückt! Diese ganze Situation war absolut verrückt!
Für einen kurzen Moment spielte Evelyn mit dem irrwitzigen Gedanken, dies alles könnte vielleicht wieder einer ihrer Albträume sein. Hatte sie nicht oft genug durch ihren Verfolgungswahn ähnliche Albträume gehabt? Es wäre nicht der Erste und vermutlich würde es nicht der Letzte sein...
Doch das ziehende Gefühl in ihren Fingern, die sich krampfhaft um den Griff des Schirms schlangen, ließen diese Hoffnung zerspringen, wie es auch die Vase auf dem Grund der harten Tatsachen getan hatte.
Nein.
Das hier war kein Traum.
Nichts war verschwommen, ihr Herz trommelte fest gegen ihren Brustkorb und sie schmeckte ihre eigene Angst förmlich auf ihrer Zunge. Das hier war real.
Eve versuchte klar zu denken – doch es wollte ihr nicht gelingen. Tausend Dinge schossen ihr durch den Kopf und ließen ihre Finger kalt werden. So fest umklammerte sie ihre improvisierte Waffe, dass ihre Knöchel schon weiß unter ihrer Haut ersichtlich wurden.
War Dylan noch hier?
Hatte er sich selbst verletzt, als er voller Zorn gewütet hatte oder...
Oh Gott.
Was, wenn Riona von ihrer Nachtschicht in der Bar nach Hause gekommen war? Hatte sie vielleicht Streit vom Zaun gebrochen und er war ausgerastet? War sie vielleicht verletzt? Hatte er ihr vielleicht etwas getan?
Wie ein Erdrutsch folgte eine schreckliche Angst und ein Szenario vor ihrem inneren Auge einem neuen. Es spielte keine Rolle, ob es realistisch war oder vollkommen verrückt – im Moment ließ die Angst ihr keine Differenzierung zu. Also gab sie dem ersten sinnvollen Gedanken nach, der ihr einigermaßen vernünftig vorkam, in Anbetracht dessen, was sich vor ihren Augen abzeichnete: 'Ich muss Hilfe rufen!'
Eilig fuhr sie auf dem Absatz herum. Eine weitere Scherbe knirschte unter ihren Sohlen, als Eve mit großen Schritten zum Telefon des Cottage eilte. Das Poltern ihrer Schritte durchschnitt wie Trommeln die angespannte Stille im Cottage.
Beinahe wäre ihr der Hörer aus den Händen gefallen, weil ihre Finger zitterten und ihr einfach nicht richtig gehorchen wollten. Sie musste erneut nach greifen, damit er nicht klappernd aus ihrem Griff rutschte und herunterfiel. In einer fahrigen Bewegung presste sie sich den gebogenen Hörer an Ohr und Wange, ehe ihre Finger auf die Tasten 9-1-1 des alten Apparates drückten.
Angespannt lauschte Eve in die Muschel... aber aus der Leitung kam nur ein Knistern.Eve zog den Hörer von ihrem Ohr und starrte ihn eine Sekunde an, als hätte er sich in ihren Händen in eine Gurke verwandelt.
"Nein..."
Eve keuchte, dann drückte sie ihn wieder an ihr Ohr und presste die Tasten erneut.
9-1-1.
Aber aus dem Hörer kam weiterhin nur ein kratzendes Geräusch.
>>Klack, klack, klack, klack...<<
Eve presste auf den schwarzen Gabelumschalter. Wieder und wieder – als könnte das etwas ändern.
"Fuck!"
Das konnte einfach nicht wahr sein.
Eves Blick tastete über die Leitungen unter dem Telefonkasten, aber alles sah in Ordnung aus. Etwas harscher als nötig schmiss sie den Hörer auf die Gabel, eilte um die Ecke und griff nach dem Lichtschalter.
Vielleicht war nur der Strom ausgefallen. Das musste es einfach sein... es musste!
>>Klick.<<
Der Kippschalter klickte, Licht flackerte und dann... ging es an.
Eve starrte auf die Glühbirne, die mit dem weißen Licht ihre Hoffnung auf einen Zufall einfach so zerschmetterte, ohne sich dessen bewusst zu sein.
"Nein... das darf einfach nicht wahr sein..."
Eves Beine waren wie Wackelpudding, als sie dieses Mal zum Telefon zurückkehrte. Es musste einfach gehen. Es musste.
Aber nein: Das Rauschen und Knistern in der Leitung war alles, was ertönte; der sehnsüchtig erwartete Wählton blieb aus.
Eve ließ den Hörer sinken und starrte ihn einige Momente an, weil sie einfach nicht glauben konnte, dass das gerade wirklich passierte. Ein eiskalter Schauer rann ihr von den Haarspitzen bis in die Finger, als sie den Hörer fahrig wieder auf die Gabel hängte.
Einige Herzschläge war ihr Verstand von Panik und Unglaube einfach wie leer gefegt.Das Wohnzimmer war verwüstet. Das Telefon war tot. Der Strom ging, das bedeutete, die Leitung musste woanders gestört sein. Aber das änderte den Fakt nicht: Sie hatte keinen Empfang, konnte keine Hilfe rufen... und Ryker war nicht hier.
Ein Zittern durchlief ihren Körper und Übelkeit drückte ihr in die Kehle, während ihre Gedanken sich zugleich überschlugen und zerfaserten. Eve musste sich mit einer Hand an dem kleinen Tisch festhalten, weil sie glaubte, sie könnte jeden Moment einfach in Ohnmacht fallen.
Was könnte sie tun?
Was sollte sie tun?
Wie konnte sie sich wehren und Liam beschützen?
Sollte sie sich ein Messer aus der Küche holen? Nein... ein Messer würde ihr nicht mehr helfen, als der lächerliche Schirm in ihrer Hand. Dazu musste sie viel zu nahe an Dylan heran und da hatte sie keine Chance, so viel stand fest.
"Das Gewehr", sprach sie den nächsten Gedanken laut aus, der ihr in den Sinn kam. Sie musste es laden und vielleicht würde es noch funktionieren! Dann konnte sie zusammen mit Liam vielleicht auf der Straße der Stadt entgegenlaufen...
Eve wollte gerade losmarschieren, als sie erneut erstarrte.
Riona! Edana!
Ihr Blick haftete sich an den Treppenaufgang und innerlich war sie hin- und hergerissen zwischen dem Instinkt wegzulaufen und der Angst um ihre Familie. Dann fasste sie ihre Waffe ein wenig fester, schluckte einmal härter und setzte vorsichtig den Fuß auf die Stufen.
Eve lauschte angestrengt in die Stille des Cottage.
Aber da war nichts. Kein Knarzen – außer den Dielen unter ihren eigenen Füßen, wenn sie einen weiteren Schritt machte. Draußen heulte der Herbstwind und die Zweige der alten Kiefer, die nahe dem Cottage wuchs, klopften dumpf an das Dach. Aber die sonst vorherrschende Stille spannte ihre Nerven noch mehr.
Wozu bemühte sie sich, leise zu sein? Als sie hereingekommen war, hatte sie eh schon in das Cottage gerufen.
"R-Riona?", fragte Eve daher mit rauer Stimme in die Stille. Sie wartete auf ein Geräusch oder hoffte vielleicht sogar, dass ihre Cousine hinter der nächsten Ecke hervorsprang, lachte und ihr irgendeine Geschichte auftischte. Dass sie gefallen war, sich verletzt hatte und all dies nur ein dämlicher Streich wäre.
Aber es geschah nicht. Es blieb still.
Auch deshalb fühlte sie sich wie ein überspannter Bogen, als sie die Hand an die Türklinke zu Rionas Zimmer legte und sie herunterdrückte.
"Ri? Bist du da? Ist alles in Ordnung?"
In einer Hand hielt sie weiterhin den Regenschirm, bereit zuzuschlagen – so aussichtslos das auch sein würde. Eve rechnete mit allem und hielt den Atem an, ohne es selbst zu merken. Die Sekunden, in denen die Tür aufschwang, fühlten sich wie eine Ewigkeit an.
Doch hinter der Tür erwartete sie erneut... Nichts.
Rionas Zimmer lag verlassen da, das Bett war zerwühlt – aber das war nicht ungewöhnlich. Riona machte ihr Bett eigentlich nie, weil es nach ihrer Ansicht vergebliche Liebesmüh war, wenn man abends eh wieder hineinstieg.
Eve wusste nicht so recht, was sie erwartet hatte. Trotzdem beruhigte sie auch dieser Anblick nicht lange – denn eigentlich sollte Riona längst wieder im Cottage sein und in genau diesem Bett selig schlafen.
In dem Bett, das leer war.
Obwohl sie es eigentlich besser wusste, griff Eve erneut in ihre Tasche und zog das Handy heraus. Sie wählte Rionas Nummer – dreimal.
"Komm schon Ri... Scheiße..."
Natürlich wusste sie, dass Riona nichts dafür konnte. Trotzdem wollte sie das Handy gerade an die nächste Wand schmeißen. Dann schrieb sie ihr eine Nachricht, auch wenn diese vermutlich ebenso wenig ankommen würde.
Frustriert presste Eve die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Neben der SMS an Ray war auch nur ein Haken - Nicht zugestellt, geschweige denn gelesen. Natürlich nicht.
Fuck, sie hasste dieses Funkloch hier gerade wirklich abartig! Scheiße, in solchen Augenblicken vermisste sie die Großstadt und die einfache Kommunikation! Jetzt gerade hätte sie beinahe alles dagegen eingetauscht. Auch wenn sie in der Stadt ebenso wenig Hilfe von der Polizei erhalten hatte, fühlte es sich einfach schrecklich an, nicht einmal jemanden zu erreichen. Diese Hilflosigkeit schnürte ihr die Kehle mehr und mehr zu.
Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Sie konnte sich nicht einreden, es wäre anders. Aber sie musste sich zusammen nehmen und versuchen klar zu denken. Wenn Dylan wirklcih durchgedreht war, würde sie es ihm zumindest nicht leicht machen.
"Komm schon Eve. Reiß dich zusammen!", zischte sie zu sich selbst und versuchte verzweifelt, das zusammenzukratzen, was von ihrem Mut übrig war.
Eve versuchte, sich an ihrem Ärger festzuhalten. Darüber, dass Dylan erneut in ihrem Leben aufgetaucht war und alles durcheinander brachte. Aber in Anbetracht der Ereignisse half ihr das einfach nicht mehr so weiter, wie sie es sich gewünscht hätte.
Ganz gleich, wie sehr man es manchmal versuchte, Gefühle ließen sich nicht so leicht steuern.
Das Schlimmste war: Sie konnte nicht mehr einschätzen, wozu Dylan tatsächlich fähig war. Es war ein Unterschied, sich seinem passiven Terror zu stellen und zu sehen, welches Chaos er im Cottage angerichtet hatte. Das alles war vollkommen aus dem Ruder gelaufen und Eve erkannte den Mann einfach nicht mehr, den sie geheiratet hatte.
Zumindest war sie sich dennoch sicher, dass er der alten Frau nichts Zuleide tun würde. Aber Eve wollte dennoch sichergehen. Ein ungutes Gefühl lag in ihrem Bauch und wollte sich von noch so viel 'Das würde er nicht tun' einfach nicht beruhigen lassen.
Am liebsten hätte sie sich für diese Gedanken gleich imaginär an den Schultern gepackt und selbst geschüttelt. Warum glaubte sie selbst jetzt noch an irgendeinen guten Kern in Dylan?
Warum wollte sie unbedingt glauben, dass alles hier immer noch eine Verkettung von blöden Zufällen oder Missverständnissen war?
Eve konnte den Grund dafür nicht finden oder fassen und sich selbst auch nicht erklären, warum die Teile einfach nicht mit ihrem Bild von Dylan zusammenpassen wollten. Egal, was er getan und wie viele Tage sie ihn dafür auch gehasst hatte...
Kopfschüttelnd wischte Eve den Gedanken fort und stieg die letzte Stufe in das Dachgeschoss hinauf. Obwohl sie die alte Frau nicht mehr als nötig aufregen wollte, hatte sie doch die Hoffnung, Edana könnte vielleicht etwas gehört oder mitbekommen haben?
„Edana? Hast du etwas gehört? Was ist denn passiert? Unten im Wohnzimmer-", begann sie bereits, während Eve die Tür öffnete. Dieses Mal klopfte sie nicht einmal, ehe sie eintrat. Die Fragen quollen einfach aus ihr heraus.
Doch Eve blieb ruckartig stehen, kaum, da sie einen Schritt in das Zimmer gemacht hatte.
„E-Edana?"
Die alte Frau lag in ihrem Bett, die Decke war zerwühlt und ein Bein hing schlaff an der Seite des Bettes herunter. Ansonsten sah sie beinahe so aus, als würde sie schlafen – wäre da nicht der stechende Geruch, welcher das Zimmer erfüllte.
„Edana... oh neinneinnein!"
Eve stoplperte den nächsten Schritt förmlich in Richtung des Bettes. Unter ihr stöhnten die Dielen beinahe empört auf. Ihre Hände griffen nach der alten Frau, tasteten nach ihren Wangen und dann nach dem Puls an ihrem Hals.
'Bitte... bitte, das darf nicht wahr sein...!'
Eves Augen waren groß und geweitet, während sie Edana anstarrte. Die geliebte Großmutter lag da, die Augen geschlossen und den Mund leicht geöffnet. Aber kein Atemzug hob und senkte ihren Brustkorb, kein Herzschlag ließ Eve einen Plus unter der dünnen Haut an ihrem Hals ertasten. Die Lippen der alten Frau waren bereits leicht bläulich verfärbt und jede Farbe aus dem faltigen, vertrauten Gesicht gewichen.
Edana lag ganz still, als wäre sie einfach eingeschlafen und nicht mehr erwacht. Einzig der beißende Geruch von Urin und Kot, welcher unter der Bettdecke hervordrang und das Zimmer erfüllte, ließ klar erkennen, was geschehen war. Es schlug Eve die Tatsache mitten ins Gesicht: Edana war tot.
Eves Herzschlag hingegen pochte in ihren Ohren und ihr Magen fühlte sich an, als hätten kalte Finger hineingegriffen und ihn verdreht. Einen Moment glaubte sie beinahe, sich vielleicht übergeben zu müssen. Tausend Gefühle brachen über ihrem Kopf zusammen. Ganz gleich, wie oft sie blinzelte oder schluckte, Evelyn konnte die Tränen nicht zurückhalten, die heiß in ihren Augen brannten und dann über ihre Wangen liefen.
„Bitte... bitte nein... wach auf Edana... das darf nicht wahr sein...", wimmerte sie leise und ihre Stimme brach an der kalten Realität, an der sich nicht rütteln und zerren ließ.
Edana war tot. Es hämmerte immer wieder in ihrem Innern, wie ein Hammerschlag, der unter der Wucht der Empfindung und Trauer ihren ganzen Körper erzittern ließ. Heute Morgen noch ging es ihr gut, sie hatte wegen Chief lediglich genauso besorgt gewirkt. Sie versicherte Eve in ihrer typisch gutherzigen Art, dass es ihr nichts ausmachte, heute kein frisches Frühstück zu bekommen und hatte Evelyns Hände gedrückt, ehe diese sich verabschiedete, um sich auf die Suche zu begeben. Das Letzte, an das Eve sich erinnerte, war der Moment, wie Edana den kleinen Liam sachte gedrückt und seine Tränen von den Wangen gewischt hatte.
Jetzt lag sie dort... und Eve wollte nicht wahrhaben, dass sie tatsächlich gestorben war. Ausgerechnet heute. Ausgerechnet jetzt.
Die junge Frau konnte den Anblick nicht ertragen, wusste nicht, was sie denken oder tun sollte.
Das alles... konnte kein Zufall sein.
Edanas Haut war noch warm... sie konnte nicht lange tot sein.
Oh Gott.
Evelyn schluchzte, würgte und taumelte. Wie in Trance stolperte sie nach draußen, aus dem Zimmer und in den Gang zurück. Ihre Beine gehorchten ihr nicht, sondern folgten scheinbar einem ganz eigenen Willen oder Instinkt, als sie einen Fuß vor den anderen setzte.
Die Hand vor den Mund gepresst, tastete sich Eve an der Wand entlang. Ob sie das Schluchzen verbarg, die Übelkeit in ihrem Rachen zurückhielt oder eher einen Schrei unterdrückte, konnte sie nicht sagen.
Sie musste das Gewehr aus ihrem Zimmer holen. Es laden... und dann mussten sie schnellstens fort von hier. Das alles war grauenvoll. Sie wollte einfach nur noch fort von hier. Zu Ryker oder irgendwo hin, wo sie durchatmen und sich sortieren konnte. Denn ihre Gedanken stolperten genauso ungelenk wie ihre Füße, als sie die Treppen nach unten lief – und fast wäre Eve die letzte Stufe gefallen.
Vor wenigen Minuten war sie durch diesen Flur gegangen... und es war nichts dort gelegen.
'Er ist hier. Er ist noch hier!'
Eves ganzer Körper zitterte, als wäre die Temperatur binnen Sekunden um mehrere Grade gefallen. Ihr war eiskalt und für ein paar Herzschläge war sie vollkommen erstarrt.
Mit geweiteten Augen starrte sie auf die Blütenblätter, die dort im Gang verstreut lagen.
Kleine gelbe und rötliche Flecken von Farbe. Rosenblätter oder etwas in der Richtung – Eve konnte es nicht sagen, denn ihr Verstand wollte dieses Bild nicht begreifen. Die zarten Blätter, die so unschuldig den Boden schmückten. Sie wirkten fehlplatziert, unwirklich und jenseits jeder Realität. Wie ein Irrbild, wie aus einem bizarren Traum gepflückt und hier fallen gelassen, waren sie auf dem hölzernen Boden und den Teppich zerstreut und bildeten einen schmalen Pfad – direkt zu ihrem Zimmer.
Ihre Tür stand weit offen – und es zog ihren Blick wie von einem Magneten angezogen hinein. Die Spur aus Blütenblättern führte wie der gesegnete Gang für eine Braut bis direkt zu ihrem Bett. Inmitten der Laken ihres Bettes, wie gebettet in weichem Schnee, lag ein Strauß von Blumen in dem Meer aus Blüten. Er war mit einem roten Seidenband und einer Schleife zusammengebunden worden und Eve konnte erkennen, dass ein Brief oder eine Karte dagegen lehnte. Wüsste sie es nicht besser, sie hätte es für eine romantische Geste oder einen Heiratsantrag aus einem kitschigen Film halten können. Die Karte zog ihren Blick wie magisch an. „EVE", stand auf der Vorderseite in großen, roten Buchstaben und wirkte auf sie eher, wie ein böser Fluch.
Die junge Frau wusste, sie hätte weglaufen sollen. Etwas in ihrem Innern – vielleicht der letzte Rest Vernunft – schrie sie förmlich an, die Beine in die Hand zu nehmen und einfach zu rennen. In jedem Film hätte sie über die Protagonisten gelacht oder sich aufgeregt, die so dumm waren, nicht spätestens jetzt die Flucht zu ergreifen. Sprang gleich jemand hinter der Tür hervor oder hörte sie einen Schrei von draußen? Kroch ein Monster unter ihrem Bett heraus oder kam ein Mörder mit einer Kettensäge aus dem Flur?
Dachte ihr Ex-Mann tatsächlich, er könnte mit ein paar Blumen alles wiedergutmachen? Dass sie mit ihm kommen würde, nachdem er in ihr Haus eingedrungen war?
Das alles war vollkommen verrückt.
Dylan war verrückt!
Zum Henker, vor allem aber war SIE verrückt. Anders konnte sie es sich nicht erklären, als sie die Schritte in das Zimmer hinein lenkte und mit klammen Fingern nach der weißen Karte griff, auf der ihr Name prangte.
Eve wusste nicht, was sie erwarten sollte. Ihre Gefühle lagen durcheinander, wie der Inhalt eines umgefallenen Regals in ihrem Innern zerstreut.
Das Gewehr war nur wenige Schritte von ihr entfernt. Es lehnte neben dem Kleiderschrank und wartete darauf, von ihr ergriffen zu werden. Damit konnte sie sich und ihre Familie beschützen... oder es zumindest versuchen. Trotzdem stand sie hier, vor dem Bett und diesem Haufen von Grünzeug. Wider besseren Wissen, entgegen aller Vernunft.
Vielleicht war es schlichtweg die Hoffnung auf eine Erklärung für alles, die sie anzog, wie das Licht eine Motte. Würde der Brief endlich erklären, was in Dylans Kopf vor sich ging? Warum tat er das alles? Würde es ihre dunklen Vermutungen bestätigen oder zerstreuen?
Ihre Lippen pressten fest aufeinander und ihre Finger zitterten. Das feste Papier raschelte, als sie die zusammengefaltete Karte aufklappte.
„Was soll das denn?"
Es waren nur ein paar wenige Worte, ein Satz, mehr nicht. Keine große Erklärung, keine ausschweifenden Begründungen oder Versprechungen jeglicher Art. Es war nur ein einzelner Satz, der ihre Stirn in Falten zog. Eves Augen glitten über die geschwungenen Lettern, die mit einer sauberen, sorgsamen Schrift mitten auf die weiße Fläche geschrieben worden waren und sie öffnete den Mund.
„Es ist an der Zeit, dich nach Hause zu holen, mein Herz", sprach eine schwarz-samtene Stimme an ihrer statt.
In diesem Moment knarzte eine der Dielen – direkt hinter ihr. Noch ehe Eve herumfahren konnte, spürte sie einen scharfen Stich im Nacken und eine tintenschwarze Dunkelheit umfing alle ihre Sinne.
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