Kapitel 66 - Sonnenblumen
Der nächste Morgen kam viel zu schnell. Eve fühlte sich erschöpft und müde, als hätte sie eine Ewigkeit nicht geschlafen. Die letzten Tage hatten ihr unendlich viel Kraft geraubt, und obwohl das Unwetter vorüber war, drang kein hoffnungsvoller Sonnenstrahl durch die dichte Wolkendecke. Stattdessen hingen trübe, graue Wolken am Himmel und spiegelten die triste Stimmung im Cottage wider.
Leise schlich Evelyn aus dem Zimmer und lauschte bei jedem Knarren der Dielen einen Moment, ob sie jemanden im Haus geweckt hatte. Aber es blieb vorerst still. Barfuß durchquerte sie das Wohnzimmer und überlegte gerade, was sie zum Frühstück machen sollte, als ihr Blick auf die Schachtel fiel, die noch immer auf dem Küchentresen stand. Das Gelb wirkte seltsam deplatziert auf dem polierten Holz und passte nicht zu dem beklemmenden Gefühl, das es in ihr auslöste. Alles schien plötzlich einen Sinn zu ergeben – und doch wieder nicht.
Die Blumen, die immer wieder auftauchten, die Schachteln mit dem seltsamen Inhalt. Ja, das alles traute sie Dylan durchaus zu. Wenn sie sich gestritten hatten und sie manchmal schon den Koffer packte, dann kam er mit Geschenken. Blumen, Pralinen, ein neues Schmuckstück, einen Familienausflug – und dazu etliche Entschuldigungen und leere Versprechungen. Aber Geld und Geschenke konnten nicht alles aufwiegen oder gerade biegen.
"Was hast du dir dabei gedacht, Dylan?", fragte sie sich laut, bevor sie an den Tresen trat und die Schachtel finster anstarrte, als könnte sie den Karton damit durchbohren. Ein Teil von ihr wollte die blöde Schachtel ungeöffnet einfach in den Müll werfen. Was wäre schlimmer? Nicht zu wissen, was drin war, die ganze Zeit zu fragen und nie eine Antwort zu bekommen? Oder das Ding zu öffnen? Eve wusste, dass es sie auf jeden Fall ärgern würde, egal, was drin war. Also: öffnen oder wegwerfen?
Seufzend zog sie schließlich an der Schlaufe, löste den Knoten und legte die Finger auf den Deckel. Dann hielt sie inne. Warum, das wusste sie selbst nicht genau. Es fühlte sich merkwürdig an, ließ ihren Puls rasen, und plötzlich hörte sie das Zwitschern der frühen Vögel vor den Fenstern lauter als zuvor.
Das Paket von der Veranda kam ihr in den Sinn. Die rote Schachtel mit dem Skelettschlüssel und dem Schild 'HOME', das in kein Schloss passte. Das war doch lächerlich. Was wollte er damit bezwecken?
Eve schüttelte den Kopf, als könnte sie damit die ziellosen Gedanken vertreiben – und zog den Deckel von der Pappschachtel. Kurz darauf raschelte gelbes Seidenpapier zwischen ihren Fingern, als sie es auseinanderfaltete. Einen Moment lang starrte die junge Mutter auf den Inhalt, während sich ihre Stirn in verständnislose Falten legte.
Dort in der Schachtel, eingewickelt in das safrangelbe Seidenpapier, lag ein Kleidungsstück. Sie griff danach und zog es an den Trägern hoch. Dünner, weicher, mintgrüner Stoff kitzelte an ihren Fingern und zeigte große Sonnenblumen, die auf den Stoff aufgedruckt waren. Das Kleidungsstück war länger, als sie gedacht hatte, daher rutschte es über den Rand der Schachtel und offenbarte sich ihr schließlich... "...ein Kleid?", fragte Eve in die Stille hinein, als könnte ihr jemand eine Antwort geben.
Im ersten Moment fragte sie sich, ob es vielleicht eines der Sachen war, die sie zurückgelassen oder die Dylan ihr mal geschenkt hatte. Sie überlegte angestrengt - aber das Sommerkleid kam ihr nicht bekannt vor. Allgemein war es nicht ihr Stil und wenn sie sich nicht irrte, war es nach Augenmaß vielleicht sogar ein wenig zu klein.
Aber warum sollte Dylan es ihr sonst schicken?
War es ein Versöhnungsversuch?
Ihr ein hübsches Geschenk zu machen, in der Hoffnung, sie würde ihm verzeihen? Hah, dann hätte er es nicht, wie ein Psychopath mitten in der Nacht auf den Tisch werfen und hier einbrechen sollen! Wahrscheinlich dachte er in seiner verdrehten Welt auch noch, es wäre eine romantische Geste. Hatte er wirklich völlig den Verstand verloren? Schnaubend warf sie das Kleid zurück in die Schachtel – und da sah sie die Buchstaben, die auf dem Deckel standen: 'Komm nach Hause'.
Wut stieg in ihr auf, und Eve kräuselte die Lippen. "Auf keinen Fall", zischte sie eisig, packte den ganzen Mist und beförderte ihn mit etwas mehr Schwung als nötig in den Mülleimer. Als der Deckel klappernd zufiel, fühlte sie sich gleich besser.
Das hörbare Klicken einer Tür, gefolgt vom Trappeln kleiner Füße auf den Stufen und Dielen, lenkte ihre Aufmerksamkeit ab. Es war nicht zu überhören, wie Liam die Treppe hinunter hastete, gefolgt von Ryker, der den Jungen bat, etwas langsamer zu gehen. Eve musste schmunzeln.
"Guten Morgen, meine Schlafmützen", begrüßte Eve die beiden und ging in die Hocke, denn Liam kam ihr direkt entgegen. Er streckte die Arme aus, schlang sie um ihren Hals und sie drückte ihn sanft an sich. Liam umarmte sie fester als sonst und sie ahnte, warum.
"Alles ist gut, mein Schatz", flüsterte sie leise und küsste ihn auf die Wange. "Er hat mir nicht wehgetan", versicherte sie ihrem Jungen und schloss ihn noch fester in die Arme. "Niemand wird uns mehr wehtun, mein Schatz. Das lasse ich nicht mehr zu. Niemals wieder", versprach sie leise und drückte ihren Sohn fest an sich. Nein, diesen Fehler würde sie nie wieder machen.
Eve kannte Dylan seit der Highschool. Teenager, die einfach zu früh geheiratet und viele falsche Entscheidungen im Leben getroffen hatten. Aber jetzt, wo sie das Glück wieder auf der Zunge schmeckte, würde sie es nie wieder aufgeben.
Liam lachte, er spielte im Gras und mit Chief. Und wenn es ihm so gut ging, dass er den Umzug und den Ortswechsel verkraftet hatte, würde sie ihn nach Cedar Hollow in die Schule bringen, wo er sicherlich neue Freunde fand. Er würde das Leben haben, das er verdiente: glücklich. Friedlich. Und vor allem in einem Zuhause, in das er jederzeit zurückkehren konnte, ohne Angst haben zu müssen.
"Ich hab' dich lieb, Mama", murmelte Liam neben ihr, und Eve lachte leise, bevor sie ihm einen Kuss gab, dann noch einen. "Ich dich auch, Frechdachs", sagte sie und strich ihm durchs Haar. Ein seltsames Prickeln kribbelte in ihrem Bauch. Es war dieses Gefühl, wenn man bemerkte, dass man beobachtet wurde. Als sie aufblickte, sah sie in Rykers warme Augen. Aber dieses Mal war es nicht unangenehm oder machte sie nervös. Es waren warme Funken, die wie ein kleines Feuerwerk explodierten, statt stichelnder Schneebrocken im Nacken.
Ryker stand am Türrahmen der Küche und hatte Jeans und ein dunkelgraues Hemd angezogen. Er lehnte einfach da, beobachtete sie und Liam ... und lächelte. Aber das genügte. Sein Blick und seine Haltung sagten alles: Er war dankbar, hier zu sein, und er würde sie beschützen. Evelyn wusste nicht warum, aber sie ... war bereit, ihm zu das glauben.
Während Liam sich aus ihrer Umarmung löste, um Chief zu füttern, überbrückte Ryker die Distanz zwischen ihnen. Er legte er seinen Arm um sie, zog sie an seine Brust und hauchte ihr einen knurrenden Guten-Morgen-Kuss auf die Stirn.
"Du musst dich nicht wie eine Affäre aus dem Bett schleichen ... oder immer alles alleine machen", sagte Ray, gähnte herzhaft und schlurfte zur Kaffeemaschine. "Ich mache uns Kaffee, in Ordnung?"
Eve sah ihn verdutzt an, und Ryker ahnte nicht, was er mit diesen kleinen Worten auslöste und wie viel diese ihr bedeuteten. Ja... Ryker war ganz anders als Dylan. Eve hatte über viele Jahre gelernt, alleine zurechtzukommen. Sie konnte ihren Mann nicht einfach auf der Arbeit anrufen, er konnte nicht nach Hause kommen und ihr helfen, egal ob es um einen Rohrbruch ging oder darum, Liam ins Bett zu bringen. Egal, wie erschöpft sie war, wie krank, oder ganz gleich, wie verzweifelt sie sich nach Ruhe oder Zeit für sich selbst sehnte – die Pflichten gingen vor. Zuerst musste der Haushalt erledigt, Liam versorgt werden, sie musste vorausdenken und – planen.
Darüber stritt sie sich ständig mit Dylan. Wenn er zu Hause war, wollte er einfach nur entspannen. Er wollte sein Frühstück, sein Mittagessen, sein Abendessen, Bier, Hockey und Football schauen. Sonst nichts. Er wollte nichts hören von Arbeit oder Klagen. Alles musste friedlich, ruhig und perfekt sein.
Aber jetzt ratterte die Kaffeemaschine und kurz darauf hielt Ray ihr eine Tasse hin. Und diese Geste, die IHR galt, war so vollkommen selbstverständlich, dass es ihr den Atem verschlug. Er erwartete nichts dafür. Keine bodenlose Dankbarkeit oder dergleichen. Er wollte einfach nur mal ihr etwas Gutes tun. Ringe aus Gold oder Diamant hätten für sie nicht wertvoller sein können. Eve schluckte einmal härter und nahm ihm die Tasse aus der Hand.
"MAMA!"
Liams plötzlicher Schrei ließ sie und Ryker zusammenzucken. Eve stellte die Tasse so ruckartig und hastig zur Seite, dass der Kaffee über den Rand auf die Arbeitsplatte schwappte. Man sollte meinen, dass Ryker als ehemaliger Soldat schneller gewesen wäre als sie. Aber nichts war stärker als der Instinkt einer Mutter.
"MAMMA!"
Liams Stimme war voller Panik. Eve konnte förmlich die Tränen hören, die den sonst unbeschwerten Klang verzerrten.
Sie rannte so schnell nach draußen, dass sie weder das Stechen der Steine und Zweige spürte, noch das leise Platschen hörte, als ihre Füße über aufgeweichte Erde und kleine Pfützen hinwegflogen. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf.
War Dylan zurückgekommen?
War es ein Psychopath wie er, einer der Seals vielleicht?
War ihrem Sohn etwas zugestoßen?
War Dylan zurückgekommen, um ihr Liam wegzunehmen?
Würde er so skrupellos sein, ihn einfach zu entführen?
Sie musste nicht weit laufen, da kam ihr Liam bereits entgegen und Eve verspürte eine Mischung aus kurzer Erleichterung und neuer Anspannung. "Liam!" Eve streckte die Hände aus und griff sofort nach ihrem Sohn. "Schatz, was ist los? Was ist passiert? Geht es dir gut?" Die Fragen sprudelten nur so aus ihr heraus. Sie zog ihn in ihre Arme, dann brachte Eve wieder eine halbe Armlänge zwischen sich und ihn und tastete ihn ab. Seine Wangen, seinen Nacken, seine Schultern. Ihr Blick flog über ihn, suchte unter dem wilden Pochen in ihrer Brust nach Wunden, Verletzungen... und fand keine. Was sie aber sah, waren seine weit aufgerissenen Augen, die ihr entgegen starrten.
Liams Hände griffen nach ihrer Kleidung und Tränen liefen über seine Wangen, die ungesund blass aussahen... "Mama!", schrie Liam atemlos, als wäre er viele Kilometer gelaufen, und der Junge schluchzte jämmerlich. "Chief! Chief ist weg!"
Eve konnte förmlich spüren, wie das Blut aus ihren Zügen wich.
'Mama! Chef ist weg! Mama! Chief ist weg! Chief.Ist.Weg!', hallte es wie ein Echo durch ihre Gedanken. Doch es war, als würden diese Worte krachend wie Hammerschläge auf sie niederprasseln.
"Was...?", stammelte sie, und Eve versuchte, sich zusammenzureißen, um den Schock und die düsteren Vorahnungen, die sie überkamen, zu verdrängen.
Ryker, der alles gehört und bis jetzt geschwiegen hatte, um nicht zu stören, machte auf dem Absatz kehrt und ging eilig auf die Hundehütte zu. Sein Kopf hob und senkte sich immer wieder, sein Blick streifte sichtlich über den Wald und haftete sich dann wieder an den Boden zu seinen Füßen.
Eves Gedanken rasten, dann riss sie sich zusammen und atmete tief durch.
"Ganz ruhig, Schatz", sagte sie, und obwohl Eves Stimme sanft und ruhig klang, konnten diese Worte ihr eigenes Herz nicht beruhigen. "Die Hundeklappe war offen. Es hat heute Nacht gestürmt, ich bin sicher, dass Chief nur im Haus ist."
Sie strich ihrem Sohn übers Haar, richtete sich auf und legte Daumen und Zeigefinger an die Lippen. Der schrille Pfiff durchbrach den Schleier der morgendlichen Geräusche.
"Chief! Bei Fuß Chief!", befahl sie laut und hoffte, dass Liam nicht hörte, dass ihre Stimme eine Oktave zu hoch klang.
'Das hat er nicht getan. Das würde er nicht tun', sagte sie sich. Trotzdem schnürte sich ihr Hals zu. Es fühlte sich an, als läge ein kratzendes Seil darum, das sich langsam aber sicher immer weiter zuzog. Eine dunkle Ahnung machte sich in ihrem Magen breit, obwohl ihr Herz und ihr Verstand mit aller Kraft dagegen ankämpften. 'Er würde unserem Hund nichts tun. So weit geht er nicht.'
Aber da war noch eine andere, dunkle Stimme des Zweifels in ihr, die flüsterte: 'Und wenn doch? Dylan ist ein Navy Seal. Er ist bereit, absolut alles zu tun, um sein Ziel zu erreichen. Er hat euch sogar hierher verfolgt. Er schleicht um das Haus wie ein Stalker. Was, wenn Chief ihm in die Quere gekommen ist? Er tötet sogar Menschen ... warum sollte er vor einem Hund zurückschrecken?'
Was, wenn Chief jetzt irgendwo im Gebüsch lag... vielleicht erschossen? Oder mit gebrochenem Genick? Und sie hatten es bis jetzt nicht einmal bemerkt? Vielleicht lag er schon seit gestern Nacht irgendwo? Warum hatte sie es nicht bemerkt? Der Gedanke drehte ihr den Magen um.
Ihr war schwindlig vor Sorge und Selbstvorwürfen. Sie drückten ihr eiskalt ins Blut, weil Chief bis jetzt nicht schwanzwedelnd aus dem Haus gerannt war.
Liams Hände krallten sich in den Stoff ihrer Kleidung.
"Ich habe schon nach ihm gerufen", jammerte Liam neben ihr und drückte sein Gesicht an ihren Bauch, während er die Arme um sie schlang. "Was, wenn er Angst bekommen hat und weggelaufen ist?"
'Chief würde nicht einfach weglaufen', schoss es Eve durch den Kopf, aber sie sprach es nicht aus. Chief war ein ausgebildeter Assistenzhund. Er war darauf trainiert, auch in Stresssituationen bei den Menschen zu bleiben. Im Straßenverkehr, zwischen hupenden Autos oder drängelnden Menschen. Er lief nicht wegen etwas Regen oder einem Donnergrollen davon. Aber das konnte und wollte sie Liam nicht sagen.
"Alles in Ordnung, mein Schatz. Du hast recht: Vielleicht hat er sich nur vor dem Gewitter erschreckt", kamen die beruhigenden Worte über ihre Lippen. "Du weißt ja, wie unheimlich solch ein Gewitter hier draußen sein kann. Ganz bestimmt kauert er unter einem Busch und wartet, dass wir ihn finden."
Dabei warf sie Ryker einen Blick zu. Dieser kniete vor der Hundehütte und blickte finster auf den feuchten Boden ringsum.
Er sagte nichts. Das brauchte er auch nicht, denn sein Gesichtsausdruck sagte ohne ein Wort absolut alles.
"Pass auf, Schatz, du gehst rein und schaust erst einmal überall nach. Auch bei Oma Edana. Nicht, dass er irgendwo eingesperrt ist, okay?"
Liam löste sich von ihr, nickte langsam und rannte dann umso schneller ins Haus.
Eve schlang die Arme um sich selbst, während sie zu Ryker und der Hundehütte eilte, und versuchte, all die schweren Gedanken zu verdrängen. Als könnte sie sich damit an sich selbst festhalten – oder ihre in alle Richtungen zerfasernden Gedanken und Gefühle ordnen.
Das konnte doch alles nicht wahr sein. Warum war das alles bloß so ein einziger Albtraum? Warum konnte es nicht einfach aufhören und wieder so sein wie vor ein paar Tagen?
"Ich habe ihn letzte Nacht noch bellen gehört." Angespannt versuchte sie sich zu erinnern, wann das gewesen war. "Ich dachte, er wäre aufgeregt wegen des Gewitters ..."
Verdammt. Normalerweise hätte sie nach ihm gesehen, und Eve fühlte sich schrecklich deswegen. Gestern lief einfach alles aus dem Ruder. Sie war so erschöpft wegen des stundenlangen Weinens, und wollte nur noch schlafen. Draußen donnerte es, und immer wieder war sie zwischen Dösen und ihren aufgewühlten Gedanken aufgewacht. Tausendmal starrte sie auf ihr Handy und die Uhr. Die Nacht kam ihr unendlich lang vor. Wann hatte sie Chief das letzte Mal bellen gehört? War es gegen zwei? Um vier?
„Scheiße", stöhnte Eve, „ich weiß einfach nicht mehr, wann und wie spät es war. Ich dachte, wenn er nicht mehr draußen bleiben will, oder es ihm zu kalt wird, würde er sich entweder in die Hütte zurückziehen oder durch die Hundeklappe ins Haus kommen", sagte Eve mit nun merklich rauerer Stimme. „Er schläft sonst immer vor dem Kamin ..."
"Bei der Hundehütte sind Fußabdrücke."
Eve starrte Ryker an.
Badum. Badum. Badum.
Ihr Herz pochte mit einem Mal wie dröhnende Schläge in ihren eigenen Ohren.
Badum! Badum! Badum!
"Nein...", flüsterte sie. Diese Erkenntnis war der letzte Atemzug alter Gefühle und verblasster Hoffnungen, die in diesem Moment in ihr starben. "Dieser... dieser verdammte Mistkerl!" Sie war wütend - und gleichzeitig bohrte sich eine grobe Faust in ihre Eingeweide.
Chief war nicht irgendein Hund. Er begrüßte sie jeden Morgen, wachte über sein kleines, menschliches Rudel und zeigte jeden Tag, wie dankbar er war, bei ihnen sein zu dürfen. Dabei war es andersherum: Sie war dankbar, dass sie ihn hatten.
Besonders am Anfang, als es Eve schwerfiel, sich an die neue Einschränkung zu gewöhnen, hatte Chief ihr sehr geholfen. Sie erschrak ständig, weil sie Bewegungen oder Menschen in ihrem toten Winkel nicht sehen konnte. Eve hatte sich an allem Möglichen gestoßen, war gestolpert und am Anfang gefühlte tausendmal fast die Treppe hinuntergefallen. Dann holte Eve sich auf Anraten ihrer Ärztin den Hund.
Sie riet ihr, sich einen Assistenzhund anzuschaffen - zum Schutz und auch als emotionale Unterstützung für den Jungen. Und die Ärztin behielt Recht: Chief war das Beste, was ihnen seit Langem passiert war. Nicht nur, weil dieser treue, liebenswerte Hund sofort ihr Herz erobert hatte.
Chief führte sie, schob sie, wann immer es nötig war, ein wenig zur Seite oder sorgte dafür, dass sie genügend Abstand zu Schränken und gefährlichen Ecken hielt. Natürlich war Liam begeistert, einen Hund im Haus zu haben, und offensichtlich genoss auch Chief die Gesellschaft des Jungen. Nachdem sie sich an ihren Zustand gewöhnt und sich damit abgefunden hatte, dachte sie nicht eine Sekunde daran, Chief wieder abzugeben. Er war kein ‚Köter', wie manche Leute meinten. Nicht 'nur ein Tier'.
Im Haus rief Liam laut nach Chief. Immer wieder, zunehmend verzweifelter. Sicherlich würde er Riona wecken und sie würde schimpfen, denn schließlich war die junge Frau erst am frühen Morgen von ihrer Schicht in der Bar nach Hause gekommen. Aber Riona würde es verstehen. So wie Eve ihre Cousine kannte, würde Riona sich vielleicht sogar einfach umdrehen und wieder einschlafen - sie war schon immer mit einem tiefen Schlaf gesegnet gewesen.
Aber das spielte keine Rolle. Sie hätte auch Rionas Groll ertragen, denn Chief gehörte zu ihrer Familie. Sie alle liebten ihn. Auch deshalb schossen ihr jetzt Tränen in die Augen, und ihre Brust wurde eng.
"Wenn Dylan Chief etwas angetan hat ...", zischte Eve und ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass sich ihre Fingernägel in die Handflächen bohrten. "Dann bringe ich ihn um!"
Rykers Lippen formten eine eiserne Linie. "Lass das meine Sorge sein", grollte er, so dunkel wie die Wolken in dieser Nacht am Himmel gewesen waren.
"Was ... sollen wir jetzt tun?" Eve war so wütend, und gleichzeitig fühlte sie sich verloren. Ihr Blick schweifte über den Waldrand und die Zweige, die sich ihnen wie sehnsüchtige Arme entgegenstreckten. "Wir sollten ihn suchen. Vielleicht hat er sich irgendwo verletzt oder ..." Ihre Stimme brach ab. Sie hatte das Gefühl, Kieselsteine im Hals zu haben.
Ryker umfasste ihre Schultern und rieb ihr beruhigend über die Oberarme. "Vor allem musst du ruhig bleiben. Sonst merkt Liam deine Sorge ... und das macht alles nur noch schlimmer."
"Schlimmer? Ray, wenn wir Chief nicht finden ... wie soll ich ihm das erklären?", stieß Eve hervor und erstickte fast an den Worten.
Ray führte sie mit einem Arm um ihre Schultern zurück zum Haus. Unter ihnen schmatzte der Boden, und Eve spürte das Regenwasser, das ihre Haut bis zu den Waden benetzte. Beide waren sie noch barfuß, es war Herbst und kalt. Ein Zittern durchlief ihren Körper und sie atmete einige Male tief ein und aus.
Rays Hand auf ihren Schultern wurde etwas fester, während er weiterhin über sie strich.
In diesem Moment war sie froh, nicht allein zu sein. Was, wenn Ray weg und sie die ganze Nacht und auch heute Morgen allein gewesen wäre?
"Fürs Erste sagen wir, er könnte weggelaufen sein", sagte Ray ernst. "Wir ziehen uns jetzt an und dann suchst du mit Liam die nähere Umgebung ab." Für einen Moment verstummte Ray und wenn sein Blick nicht schon vorher hart wie Eisen gewesen war, dann war er es spätestens jetzt.
Innen empfing die beiden die Wärme des Hauses wie eine Decke, schaffte es aber diesmal nicht, sie mit einem Hauch von Behaglichkeit einzuhüllen.
Ray suchte ihren Blick, als sie die Tür hinter sich schlossen, also wollte er für die kommenden Worte ihr Einverständnis abholen.
"Ich fahre nach Silvershore – und knöpfe mir Dylan vor."
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