Kapitel 29 - Dunkle Ahnungen
'Oh Nein .... Nein, Nein, Nein!'
Rykers Gedanken rasten. Er hörte kaum die trappelnden Kinderschritte, als Liam aus seinem Blickfeld verschwand und sich auf Schatzsuche begab. Die kleine rote Schachtel in Eves Händen fesselte seinen Blick und ließ ihn schwer nach Luft schnappen. Er spürte, wie seine Hände feucht wurden. Kalter Schweiß brach ihm auf der Stirn aus, während die Farbe aus seinem Gesicht wich.
'Was zum Teufel?! Ich reiß ihm den Kopf ab!'
Er zwang sich zu einem tiefen Atemzug, bevor er nach der Verpackung des überraschenden Geschenks griff, um es an sich zu nehmen. Er bemühte sich um eine ausdruckslose Miene, als er die Schachtel in seiner Hand drehte und genauer betrachtete.
Der Karton fühlte sich in seinen Händen rau an, abgenutzt. Die dunkleren, eingedrückten Ecken bestätigten den ersten Eindruck. Aber es war nicht das, was ihm einen Schauer über den Rücken jagte und nach der anfänglichen Neugier die Panik schürte.
»Ray?«, hörte er Rionas Stimme, die ihn neugierig ansah. »Alles okay?«
Blinzelnd hob er den Kopf und sah die junge Erbin des Cottages an. Er hatte nicht einmal gemerkt, dass sie seine Bewegungen verfolgte, während er die Schachtel in seinen Händen drehte. Rionas Frage hatte auch Eves Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt, und beide Frauen warfen ihm nun einen seltsamen Blick zu.
Einen Herzschlag lang glitt sein Blick zwischen den Cousinen hin und her, bevor sich ein leichtes Lächeln auf seine Lippen legte.
»Ja, keine Sorge«, versicherte er. »Das Päckchen kam mir nur auch komisch vor. Aber es ist bestimmt nichts.«
Seine Bedenken und die nächsten Gedanken behielt er jedoch für sich: Das Päckchen musste an der Hintertür abgestellt worden sein, während er und Liam durch die Vordertür hinausgegangen waren. Es schien Absicht gewesen zu sein, sie nach hinten zu stellen, wo Riona und er nicht ständig rein und raus liefen. Das war kein Zufall. Es war geplant und durchdacht.
Vor ihm tauschten Riona und Eve einen Blick aus, den nicht einmal er deuten konnte. Sie schienen mit dem Päckchen und seinem Inhalt nichts anfangen zu können - zu seinem Glück.
»Na ja«, hob er an und spürte, wie sein Lächeln ein wenig verrutschte. »Die brauchen wir jetzt nicht mehr, oder? Ich werfe sie in den Müll.«
Fast ein wenig zu hastig wandte er sich ab und lenkte seine Schritte wieder weg von der Küche und den beiden Frauen, deren Blicke er noch einen Moment in seinem Rücken spürte, bevor die Tür hinter ihm wieder ins Schloss fiel.
Auf der Terrasse blieb er stehen. Das Lächeln auf seinen Lippen erlosch mit dem Klicken des Schlosses sekundenschnell, und seine Mundwinkel fielen wie ein verwundeter Soldat. Prüfend glitt sein Blick über die Baumreihen hinter dem Cottage. Suchte nach einer Silhouette, einer Bewegung im Schatten.
Nichts.
Wütend und verärgert runzelte er die Stirn und kniff fast die Augen zusammen. Es war, als wäre der Winter über sein Gesicht hereingebrochen und hätte ihm jede Freundlichkeit und Wärme genommen.
Zorn durchströmte seine Adern, beschleunigte Puls und Herzschlag, als würde er um sein Leben rennen. Hastig riss er den Deckel von der Schachtel und drehte sie um, um den Fund noch einmal in Ruhe betrachten zu können. Als wolle er sich vergewissern, dass er sich nicht geirrt hatte.
»Hast du den Verstand verloren, Dylan?«, zischte er leise und betrachtete die karmesinrote Innenseite des Deckels. In einer der Ecken, so dass man es kaum sehen konnte, stand in geschwungenen, sorgfältig geführten Buchstaben ein einziges Wort geschrieben:
>>𝓗𝓞𝓜𝓔<<
Die Botschaft war klar: Sie sollte nach Hause zurückkehren.
Ryker zerdrückte die Schachtel in seinen Händen und verwandelte sie in eine zerknitterte Pappkugel. Der ehemalige Soldat starrte mit eisiger, wütender Miene auf die Baumreihen. Er war sich fast sicher, dass der Dummkopf seines Kameraden dort irgendwo sein musste. Was war in ihn gefahren? Wollte er seine Frau zum Umkehren bewegen? Oder wollte er ihr indirekt drohen? Ryker verstand es nicht, aber egal, was es war: Es war eine beschissene Aktion, die er so nicht dulden würde!
Wenn er seine Frau und seinen Sohn wirklich zurückhaben wollte, dann sollte er sich die Eier fassen und wie ein Mann hier auftauchen - persönlich!
Es war eine stumme Warnung, die Ryker noch unterstrich, indem er den jämmerlich zerknitterten Karton noch einmal zerriss. Mit großen Schritten verließ er die Terrasse, um den kläglichen Rest des unwillkommenen 'Geschenks' zu vernichten...
»Also, zurück zum Thema: Was wolltet ihr von mir?«, fragte Ryker, während er im Flur stehen blieb, um seine Schuhe auszuziehen. Er hatte sich mehr Zeit als nötig genommen, um die Schachtel zu entsorgen. Nicht ohne Grund: Er hatte einen Moment durchatmen müssen, um sich zu beruhigen, bevor er in das Innere der Pension zurückgekehrt war.
Es wäre dumm und unprofessionell gewesen, den beiden entgegenzutreten, solange er die Wut noch in sich trug. Zu viel stand auf dem Spiel, und Ryker konnte sich selbst nicht erklären, warum ihn dieses dumme Geschenk so wütend machte. Dylan hatte ihn angeheuert, um sie zu finden und auf sie aufzupassen, bis er sich um alles Weitere kümmern konnte. Ryker hatte gedacht, es ginge um die Scheidung und das Sorgerecht, im Zweifelsfall darum, dass Dylan noch einmal mit ihr reden wollte. Aber das? Das passte einfach nicht und war in mehr als einer Hinsicht unangemessen.
Also nutzte er die Minuten, atmete tief durch und lockerte die Schultern, bevor er in die Küche zurückkehrte und die Arme vor der Brust verschränkte. Sein Körper sank wie von selbst gegen die Kante des Esstisches, der ihm gerade bis zum Po reichte. In seinem Büro in Echo Bay hätte sich Ryker jetzt auf den Tisch gesetzt. Aber hier, mit dem Jungen im Haus, unterließ er es instinktiv, weil er nicht wieder von Eve gescholten werden und dem Jungen ein Vorbild sein wollte.
Liam war noch nicht von seinem Abenteuer zurückgekehrt. Nur ab und zu waren im Stockwerk über ihnen schnelle Schritte zu hören, ein Rascheln oder Klappern und das kindlich unbedachte Knallen einer zugeschlagenen Tür.
Die Stimmung in der Küche war dagegen immer noch angespannt, kippte aber, nachdem die beiden Frauen einen Blick gewechselt hatten, der seine Augenbraue fragend nach oben gleiten ließ.
Rio grinste verschmitzt wie ein Wolf. Eve hingegen senkte den Blick und begann, eine ihrer Haarsträhnen zwischen den Fingern zu drehen. Das tat sie öfter, wie er in den letzten Tagen gelernt hatte. Manchmal wenn sie nachdachte, aber vor allem, wenn sie nervös war. Sie wollte also etwas von ihm, und es fiel ihr schwer, ihn darum zu bitten.
Wieder kam ihm unvermittelt der Gedanke, dass es süß war - gleichzeitig zuckte er innerlich sofort von diesem Denken zurück, wie von einer heißen Herdplatte. Verdammt, so durfte er nicht über Eve denken.
Wieder krampfte sich seine Brust zusammen, als dieses undefinierbare, seltsame Gefühl in seine Brust kroch und seine Augenbrauen zuckten und sich eine dumpfe Stille im Raum ausbreitete.
»Ray ... könntest du vielleicht am Samstagabend auf Liam aufpassen?«, fragte Eve schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit so leise, dass er sie kaum hörte, während sie seinem Blick auswich.
Täuschte er sich, oder war bei ihren Worten eine leichte Röte auf ihren Wangen zu sehen? Schämte sie sich zu fragen? Warum?
Und weshalb musste sie dabei so... bezaubernd aussehen? Ach, Scheiße.
Er merkte nicht einmal, wie er den Kopf schräg legte. Seine Hände drückten fester gegen seine durchtrainierten Oberarme und in den Stoff seines Hemdes, sodass jener unter dem Griff einige Falten warf.
»Natürlich kann ich auf den Kleinen aufpassen", hob er an, während sich seine Augenbrauen fragend zusammenzogen. Es passte einfach nicht zu Eves bisherigem Verhalten, ihn darum zu bitten, ein Auge auf Liam zu werfen. Bisher, vor allem nach dem Vorfall am See, war sie kaum von der Seite ihres Sohnes gewichen. Deshalb verursachte diese Bitte ein seltsames Gefühl in seinem Bauch.
»Siehst du, Eve«, unterbrach Riona ihn plötzlich flötend und klatschte ihre Handflächen vor Freude aneinander. »Ich habe dir doch gesagt, dass Ray auf Liam aufpassen würde, wenn du ihn darum bittest.«
Nur kurz wanderte sein Blick zu Ri, doch die würdigte ihn keines Blickes und redete munter weiter, während sich ihre Lippen zu einem verschmitzten Grinsen verzogen. »Jetzt kannst du dich nicht mehr drücken! Ray kann den Babysitter spielen und wir können ausgehen, ohne uns Sorgen machen zu müssen.«
Rykers Augen sprangen bei diesen unbeschwerten Worten zu Eve zurück. Er sah, wie sie kurz zusammenzuckte und ihr Gesicht verzog, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Aber er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich zu fragen, was das zu bedeuten hatte.
'Moment mal ... Ausgehen?'
Nicht zum ersten Mal an diesem Tag erlosch das Lächeln auf seinen Lippen. Er spürte ein leichtes Ziehen im Rücken und in seinem Arm, als sich seine Muskeln anspannten.
»Ist das wirklich... okay für dich?«, fragte Eve und ihre Augen hafteten sich an ihn als... erhoffte sie sich irgendetwas von ihm, das er nicht verstand.
Es war nur ein Herzschlag, in dem seine Maske winzige Risse bekam und das Schauspiel des unbeteiligten, desinteressierten Handwerkers gefährlich ins Wanken geriet. Ein Herzschlag, in dem er seine Gefühle nicht ganz unter Kontrolle hatte. Sein Gesichtsausdruck fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Doch der Moment verging rasch und mit dem nächsten >>Tack<< der Küchenuhr hatte sich seine Mimik bereits wieder gefestigt und die graublauen Iriden verschlossen jegliche Emotion dahinter.
»Kein Problem«, kam es dennoch seltsam gepresst über seine Lippen. Es war eine Lüge, die ihm wie ein Stein im Magen lag, der sich nicht wegschieben ließ, so sehr sich Ryker auch bemühte. »Ich kümmere mich gern um den kleinen Wirbelwind.«
🍂🗝️🍂
Einige Stunden waren vergangen, seit die Schachtel mit dem seltsamen Inhalt gefunden worden war. Doch der Schlüssel beschäftigte vor allem Liam noch eine ganze Weile. Als wäre der Teufel hinter ihm her, war der Junge durch das Haus und den Garten gerannt und hatte jedes Schloss ausprobiert, das er finden konnte.
Mehr als einmal hatte Ryker beim Entladen des Lastwagens dem Wirbelwind ausweichen müssen, sonst wäre er nicht nur über den Jungen gestolpert, sondern auch über den Hund, der hinter ihm hertollte.
Aber Ray ahnte schon, wie die Schatzsuche enden würde: erfolglos.
Er kannte die meisten Schlösser im Haus und draußen, denn allein die Türen hatten ihm viel Arbeit bereitet. Zwar gab es auf dem Dachboden alte Truhen und Kisten, die zu einem solchen Skelettschlüssel gepasst hätten, aber die Schachtel und ihr mysteriöses Erscheinen ließen ihn nicht daran zweifeln, dass sich dafür kein passendes Schloss finden lassen würde. jedenfalls nicht hier...
Die erfolglose Suche hatte Liam am Ende so erschöpft, dass ihm schon während des Abendessens die Augenlider zufielen und Eve ihren Sohn früher als sonst ins Bett brachte. Allgemein schienen alle von diesem Tag erledigt zu sein, und so nutzte auch Ryker die Gelegenheit, sich vom Esstisch zu entfernen und sich in sein Zimmer zurückzuziehen. Schließlich hatte er noch Arbeit vor sich...
Kühle Luft strömte durch das gekippte Fenster in das Gästezimmer, das ihm in den letzten Tagen zur Heimat geworden war. Dahinter herrschte die Schwärze der Nacht, nur erhellt von kleinen Sternenflecken und das leise Säuseln des Windes mischte sich mit dem Rascheln des Laubes. In der Ferne rief eine Eule.
Ryker saß aufrecht in den Kissen, den Rücken an die Bettkante gelehnt. Nur die kleine Nachttischlampe erhellte den kleinen Raum mit ihrem dämmrigen, warmen Schein. Kurz flackerte sein Blick bei dem leisen Ruf einer Eule zum Fenster. In früheren Zeiten und in ländlichen Gegenden wie dieser bedeutete ein solcher Ruf Gefahr, manchmal sogar Tod.
Er war nicht abergläubisch. Normalerweise jedenfalls nicht. Aber der einsame Ruf der Eule machte seine Stimmung nicht besser. Das Geschehene zerrte an seinen Nerven und machte ihn mürbe, denn er hatte immer mehr Fragen, als er Antworten fand. Es war, als läge ein Nebel über dem Ort, der immer dichter wurde, statt sich zu lichten.
Das Bettgestell knarrte leise, als Ray sich kurz aufrichtete, um das Kissen in seinem Rücken zurechtzurücken.
»So ein Unsinn«, murmelte er leise zu sich selbst und schüttelte energisch den Kopf. Die Papiere neben ihm raschelten leise mit seiner Bewegung und verrutschten zu einem heillosen Durcheinander. Sein Blick blieb prüfend an der weiß lackierten Tür mit dem kupfernen Griff hängen. Ray lauschte nach einer Bewegung im Flur, hörte aber nur die gedämpften Stimmen von Riona und Eve im Erdgeschoss.
Gut, offenbar würde er vorerst seine Ruhe haben. Trotzdem hatte er vorsichtshalber die Tür abgeschlossen, falls einer der beiden spontan auf die Idee kommen sollte, ihn noch einmal zu stören. Unverhofft kam oft, hieß es in einem anderen Sprichwort, und so nett es auch war, dass Eve ihm ab und zu noch einen Gute-Nacht-Snack brachte, heute konnte er das nicht gebrauchen. Da war er lieber vorsichtig, zumal ihn diese Dokumente zweifellos in Erklärungsnot bringen würden. Vor allem gegenüber Evelyn - oder besser gesagt Kaylen.
Ein leiser Seufzer entwich seinen Lippen, als er sich schließlich wieder an das Kopfende des Bettes lehnte und die Beine locker übereinanderschlug. Er kratzte die Blätter zusammen und klopfte kurz gegen sein Bein, um den Stapel zu ordnen, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf die dunklen Worte auf dem unschuldig weißen Papier. Normalerweise ging er mit solchen Dingen ruhig und neutral um. Diesmal fiel es ihm aus irgendeinem Grund schwerer als sonst. War es Mad's Mail, die Unruhe in seinen Körper pflanzte, wie eine verdorbene Saat?
»Es ist nur ein Job«, murmelte er sich zu und starrte mit verkniffener Ernsthaftigkeit auf die Papiere. >>Kaylen Conner<< las er den richtigen Namen der jungen Mutter, die einfach nicht in das Bild passen wollte, das Dylan ihm vermittelt hatte. Ein ganzer Schwall von Blättern war mit ihrem Namen versehen und ließ den Stapel ungleich größer erscheinen als den ihres Sohnes, der neben ihm auf den Lacken lag.
Natürlich war die Frau älter als ihr Sohn, das stand außer Frage, aber dennoch war die Fülle der Dokumente auffallend. Er hatte in seinem Leben schon viele Krankenakten gesehen, studiert und gelesen. Noch mehr, seit er die Detektei besaß. Aber diese Menge an Papieren konkurrierte mit seiner eigenen Akte.
Hoffte er, eine Bestätigung zu Dylans Warnungen und Befürchtungen in diesen Akten zu finden? Oder fürchtete er sich insgeheim davor? Stimmte es, dass Evelyn psychische Probleme hatte und eine Gefahr für ihren Sohn darstellte? Würden diese Akten nun allem wiedersprechen, was er die letzten Tage beobachtet hatte?
Ryker bemerkte nicht, wie er den Atem anhielt, als er langsam die schwarz gedruckten Worte las.
Kaum merklich runzelte er die Stirn, als er auf das Datum schaute. Der Fall auf dem Ausdruck vor ihm war schon älter. Fast sechs Jahre, um genau zu sein. Die Zeit, in der er selbst aus dem Dienst ausgeschieden war. Aber das war nicht das Interessante an dem Bericht des Sanitäters.
»Kreislaufkollaps durch Dehydrierung«, fasste er den Unfallbericht leise murmelnd zusammen, als wolle er sich alles genau einprägen. Rykers Stirn runzelte sich noch deutlicher. Er drehte das Blatt sogar um, obwohl er wusste, dass die Rückseite nicht bedruckt sein konnte, bevor er auf die nächste Seite blickte, die bereits einen neuen Fall enthielt.
»Unmöglich«, murmelte er leise vor sich hin.
Der Bericht war so lückenhaft, dass er wie eine Fälschung wirkte. Es gab keine Stellungnahme oder Analyse, wie es zu dem Vorfall gekommen war. Die Zeile war einfach leer. Man hätte es vielleicht auf mangelnde Dokumentation oder einen schlampigen Sanitäter schieben können. Aber in diesem Fall glaubte er nicht daran. Die Krankenhäuser waren verpflichtet, diese Formulare bei jedem Einsatz auszufüllen, und ein Arzt hatte das Formular unterzeichnet.
Die Behandlung fand an einem Abend statt. Eine kurze Untersuchung, dann wurde sie schon wieder entlassen - laut Formular auf eigenen Wunsch.
»Da ist doch was faul.«
Es passte einfach nicht. Ganz zu schweigen davon, dass man nach einer Dehydrierung manchmal sogar ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Was hatte das zu bedeuten? Merkwürdig war auch der Monat des Vorfalls. November war nicht gerade die Zeit, in der man wegen zu wenig Trinken zusammenbrach.
Ray schüttelte irritiert den Kopf.
Suchte er nur nach Fehlern und machte aus einer Mücke einen Elefanten?
Der Ermittler knirschte nachdenklich mit den Zähnen und tippte unruhig mit den Fingern auf das Papier. Das passierte ihm oft, wenn er grübelte.
Doch seine Zweifel verflogen nicht.
Im Gegenteil: Mit jeder Seite, die er las, wurden die Falten auf seiner Stirn tiefer und sein Gesichtsausdruck härter. Sein Magen knurrte wie ein Bär, aber nicht wegen des Hungers, sondern wegen des Unbehagens, das sich schließlich von dort aus in jeder Faser seines Körpers ausbreitete.
Immer wieder stolperte er über die Diagnose Gehirnerschütterung, verbunden mit dem Hinweis der Ärzte, dass bei der Behandlung eine Vielzahl von Blutergüssen in unterschiedlichen Heilungsstadien festgestellt worden waren. Manchmal gab es noch das dazugehörige Formular, auf dem die Stellen auf einer Skizze eingezeichnet waren. Bei den meisten fehlte dieses jedoch. Genauso wie es viele Lücken in den Formblättern gab. Außerdem konnte er nicht immer eine Begründung des Unfallherganges finden.
Nur wenige enthielten eine Erklärung: Sie habe sich gestoßen, sei ungeschickt an einer Schrankkante hängengeblieben oder eine Treppe hinuntergefallen.
Ray ließ die Blätter für einen Moment sinken, sein Blick wanderte zurück zur Zimmertür und seine Gedanken schweiften ab. Natürlich war ihm aufgefallen, dass Eve in manchen Situationen unbeholfen wirkte. Die junge Frau griff nach etwas, stolperte über einen Teppich oder blieb beim Treppensteigen an einer Stufe hängen. Dennoch hatte er das Gespräch zwischen dem gut aussehenden Medizinstudenten und ihr belauscht:
'Es ist sicher noch ungewohnt...', hatte der Arzt gesagt. Die Worte bedeuteten, dass Eve nicht immer auf einem Auge blind gewesen war und dass diese Umstände mit der Verletzung in ihrem Gesicht zusammenhängen könnten. Aber dafür waren die Berichte einfach zu alt. Es passte einfach nicht zusammen.
Manchmal wand sich der Verstand um eine Erklärung wie eine Schlange, wenn man sich der Lösung einfach nicht stellen wollte.
Ray strich sich nachdenklich über das Kinn und den Bart, der seine Kinnpartie zierte, während er ein paar Seiten weiterblätterte und einige dieser unvollständigen Meldungen und Behandlungen übersprang.
»Kaylen Conner, gebrochenes Handgelenk nach Treppensturz«, las er schließlich.
Interessiert hielt er inne, um genauer nachzulesen. Dieses Formular war zumindest ein bisschen sorgfältiger ausgefüllt als die anderen. Endlich ein Dokument mit mehr Inhalt. Der Fall lag knapp zwei Jahre zurück. Den Blick auf das Datum geheftet, blätterte er eine Seite weiter.
»Schmerzen und Hämatom am rechten Rippenbogen«, murmelte er leise. »Diagnose: Fraktur der sechsten Rippe.« Sein Blick fiel auf das Datum.
Blinzelnd musste er noch einmal hinschauen, bevor er sicher war, dass er sich nicht vertan hatte. Keuchend stieß er den Atem aus, den er gerade erst angehalten hatte. Beide Fälle lagen nur neun Tage auseinander.
Und schlimmer noch: Beide Male hatte Dylan seine Frau ins Krankenhaus gefahren und ihre Entlassung veranlasst.
Ray erstarrte. »Nein. Das kann nicht sein«, keuchte er, und seine Finger zitterten, während er sich die Formulare wieder und wieder ansah. Aber es änderte sich nichts.
»Fuck!«, fluchte er leise vor sich hin, als die dunkle Ahnung in ihm zu keimen begann. Langsam ergab sein ungutes Gefühl einen Sinn. Die Puzzleteile, die vorher völlig durcheinander vor ihm gelegen hatten, begannen sich zu einem Bild zusammenzufügen, das er bisher nicht in Bezug gezogen hatte, nur weil Dylan sein Kamerad und Freund gewesen war:
Häusliche Gewalt.
»Scheiße... scheiße, scheiße, scheiße«, murmelte Ray und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. In jedem anderen Fall hätte er diese Möglichkeit in Erwägung gezogen. Theoretisch konnte es einem Detektiv mit weniger Skrupeln egal sein, aus welchem Grund er einen Job machte oder ob er einem Schwein oder einem Unschuldigen half. Auftrag war Auftrag. Aber Ryker war ein Mann, der es sich leisten konnte, sich seine Fälle auszusuchen - und zwar nicht nach der Belohnung. Er besaß Moral und hätte niemals dreckige Arbeit angenommen.
Aber hier hatte er nicht einmal darüber nachgedacht, ob Dylan ihm etwas verheimlichen könnte. Aber jetzt?
Plötzlich war der Gedanke gar nicht mehr so abwegig. Eve war weggelaufen. Mit ihrem Sohn, der entgegen Dylans Behauptung nicht misshandelt, sondern von ihr behütet und umsorgt wurde wie ein König. Sie versteckte sich, weit weg von der Zivilisation. Nahm einen anderen Namen an. Das passt nicht nur zu einer Kindesentführerin... sondern auch zu einer Mutter, die vor ihrem Mann floh.
Und auch die Akte, allein in ihrer Fülle, schrie danach. Die Prellungen, Blutergüsse, Gehirnerschütterungen und vor allem die gebrochene Rippe ließen diesen Schluss fast so sicher erscheinen wie das Amen in der Kirche. Was vorher noch abwegig schien, ließ ihm plötzlich bittere Galle in der Kehle hochsteigen.
'Könnte Dylan ihr das angetan haben? Könnte er sie geschlagen haben?'
Allein der Gedanke daran ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren und gleichzeitig kochen vor Zorn. Wie gut kannte er Dylan wirklich? Konnte er ihm das zutrauen?
Nein. Nein das DURFTE nicht wahr sein!
Verdammte Scheiße!
Wenn seine Vermutung mit dem Schlüssel stimmte, dann war Dylan schon hier. Das erklärte die verdammte Kiste, anstatt dass er persönlich vor seiner Haustür aufgetaucht war.
Stöhnend ließ Ryker das Blatt Papier aus der Hand fallen. Er spürte, wie es raschelnd in seinen Schoß plumpste, als er die Rückenlehne herunterrutschte und sich auf das Kissen legte. Seine Hände fuhren über seine Augen und in sein dichtes braunes Haar, während ein Hauch von Verzweiflung in ihm aufstieg.
»Worauf habe ich mich nur eingelassen?«, sprach er leise vor sich hin, den Blick an die Decke geheftet. »Das ergibt alles keinen Sinn. Er hat genug eigene Kontakte. Aber es war ihm so wichtig, dass er mich um Hilfe bittet...«
Langsam senkte sich sein Blick wieder und fiel auf den himmelblauen Bettbezug, auf dem nun die Blätter ruhten. Dylan wusste zweifellos, dass es Ryker nicht zulassen würde, dass er einer Frau und einem Kind schadete. Hatte Dylan geglaubt, er würde es einfach nur nicht rausfinden? Hatte Dylan erwartet, dass er Kaylen und den Jungen finden, ihm die Info zuspielen und dann wieder verschwinden würde? War all die panische Sorge nur gespielt?
»Nein«, flüsterte Ray und war sich dessen tatsächlich sicher. Niemand konnte so gut schauspielern. Vor allem nicht Dylan. Ray hatte die Verzweiflung seines ehemaligen Kameraden beim ersten Gespräch fast durch das Telefon greifen können. Aber Papier konnte nicht lügen. Was war hier los? WAS war die Wahrheit?
Stöhnend schlug er sich wieder mit der Hand vor das Gesicht. Seine Gedanken drehten sich im Kreis und waren schließlich so durcheinander wie die Stäbe beim Mikado.
Was sollte er jetzt tun?
Eve konnte er es nicht sagen, gleichzeitig würde es nicht mehr lange dauern, bis Dylan unweigerlich vor der Tür stand und diese tickende Zeitbombe in die Luft ging. Eines war sicher:
Er saß gewaltig in der Scheiße.
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