Kapitel 23 - Wahrheit & Tarnung
Mit einer sanften Bremsung brachte er den alten Pick-up vor dem Café zum Stehen. Die Tür klapperte leise, bevor sie sich öffnete und Eve ausstieg.
»Ich komme gleich nach. Bis dahin drücke ich dir die Daumen«, versprach Ryker und lächelte sanft. Eve war völlig durch den Wind. Heute Morgen hatte sie ihm Liams Kakao hingestellt, und Ri musste dem Jungen seinen Kaffee vor der Nase wegschnappen. Außerdem hatte Eve die Zimtschnecken fürs Frühstück in den Ofen geschoben und dann vergessen, diesen anzuschalten. Also gab es keine süßen Stückchen sondern stattdessen einen schmollenden Liam an diesem Morgen. So nervös hatte Ray die junge Frau seit er im Cortage war noch nie erlebt. Es war niedlich, gleichzeitig tat sie ihm leid.
»Du schaffst das, Eve«, zwinkerte Ray ihr zu, und das ganze Auto schien zu beben, als die Tür ins Schloss fiel und er Eve beim Betreten des Cafés zusah.
Zum Glück lag der kleine Handwerksladen nur wenige Minuten vom Café entfernt, fast am Ende der einzigen Straße und damit am "Stadtrand". Silvershore war einfach winzig, abgelegen und wirkte manchmal wie ein vergessener Fleck auf der Landkarte.
Auch das kleine Haus, ein zweistöckiger Bau mit Holzfassade, machte auf den ersten Blick keinen einladenden Eindruck. Die dunklen Bretter waren zum Teil vergilbt, von Algen und Flechten überzogen und zeugten von mangelnder Pflege. An der rechten Giebelseite wucherte Efeu bis zum Dach hinauf, hatte die Fensterbänke und -rahmen in Besitz genommen.
Sein Vater wäre bei diesem Anblick aus der Haut gefahren. Er hätte geschimpft und geflucht, wie man ein zweifellos einmal schönes Bauwerk so verwildern und sich selbst überlassen konnte. Und seine Mutter hätte ihn wahrscheinlich angeschnauzt, dass sie im Urlaub seien. Er solle aufhören, an die Arbeit zu denken. Sie wollten sich erholen ...
Bei diesem Gedanken zog sich seine Brust ein wenig zusammen. Ein trauriges Lächeln begleitete die verdrängten Erinnerungen. Als Inhaber einer Baufirma waren die Gedanken seines Vaters nie zur Ruhe gekommen. Überall, wo sie waren, gab es schließlich Häuser und Objekte, die die Aufmerksamkeit seines Vaters auf sich zogen, mussten sich einer kritischen Bewertung unterziehen. Meistens lösten sie anschließend beinahe einen Familienstreit aus.
Früher, bevor er zur Armee ging und ein Seal wurde, hatte ihn das genervt. Heute wagte er kaum noch, an die alten Zeiten zu denken, denn er würde alles dafür geben, seine Eltern nochmal bei sich zu haben. Selbst wenn sie stritten. Man wurde sich des Wertes mancher Dinge und solcher Erinnerungen erst so richtig bewusst, wenn man es verloren hatte.
»Guten Tag«, rief er, begleitet vom Läuten einer Glocke, die hinter der Eingangstür sein Kommen ankündigte. Sofort hob sich der Kopf eines älteren Mannes. Sein Haar war schon grau, fast weiß. Ein dichter Bart zierte seine Gesichtszüge, reichte ihm bis zur Brust und ersetzte mit seiner voluminösen Fülle wohl das fehlende Deckhaar. Das Karohemd unter der alten, ausgewaschenen blauen Latzhose war ebenfalls ausgefranst und hatte seine besten Tage längst hinter sich.
»Ich wollte fragen, ob die Lieferung für das Pinewood Cottage angekommen ist«, fuhr er fort und trat an den Ladentisch. Die braunen Augen des Ladenbesitzers musterten ihn unverhohlen von oben bis unten, als müsse er noch entscheiden, ob er ein exotisches Tier oder ein gemeiner Ladendieb war.
»Wer sind Sie?«, brummte er schließlich mürrisch, ohne dass sich der Alte einen Zentimeter bewegt hatte. »Ich kenne die Frauen vom Cottage. Und Sie habe ich noch nie gesehen. Weder hier noch dort.«
»Ray ... Ray Viltarin. Ich mache ein paar Reparaturen am Inn. Ich bin erst seit kurzem hier in Silvershore«, stellte er sich geduldig vor und streckte dem Mann die Hand entgegen.
Für einen Moment verengten sich die Augen des alten Mannes, als der Ladenbesitzer erst auf seine Hand und dann in sein Gesicht sah. Die Sekunden zogen sich unangenehm in die Länge, und Ray war fast versucht, die Hand wieder sinken zu lassen, bis sich der Gesichtsausdruck des alten Mannes endlich ein wenig entspannte.
»Ah, der Handwerker, über den man in der ganzen Stadt spricht«, hörte er die raue Stimme, während das dichte weiße Barthaar unter dem Lächeln zuckte. Die Hand, die seine ergriff, war schweißfeucht und von rauer Hornhaut überzogen. »Ich bin Hank.« Trotz seines Alters war der Händedruck fest.
»Du hast einen guten Riecher. Komm, Junge, die Lieferung kam letzte Nacht. Ich war überrascht, als ich die Bestelladresse gesehen habe. Ich habe die Sachen ins Lager räumen lassen«, fuhr der Ältere fort, während er mit langsamen Schritten hinter der Theke hervortrat und ihm mit einer Handbewegung bedeutete, ihm zu folgen.
Mehr als eine halbe Stunde dauerte es, die schweren Kisten aus dem Lager ins Auto zu schleppen. Obwohl es kühl war und ein eisiger Wind wehte, trieb ihm die Arbeit Schweißperlen auf die Stirn, die sich einen Spaß daraus machten, in seine Augen zu tropfen.
Das salzige Zeugnis seiner Anstrengung zwang ihn immer wieder zum Blinzeln, während der alte Ladenbesitzer ihm wiederholend seine Hilfe anbot, was er stets freundlich, aber bestimmt ablehnte. Stattdessen drückte er ihm einen Zettel in die Hand, Werkzeug, das er noch brauchte.
Während Hank, wie er inzwischen wusste, sein Werkzeug zusammensuchte, lud er die letzten Kartons auf die gut gefüllte Ladefläche des wandelnden Schrotthaufens.
Erst als das Werkzeug verstaut war und er dem Älteren versprochen hatte, sich bei ihm auf ein Bier zu treffen, ließ man ihn endlich gehen.
Unruhig trommelten seine Finger auf das Lenkrad. Es hatte länger gedauert als erwartet, bis die Ladung fertig war. Dann hatte er eine gefühlte Ewigkeit suchen müssen, um einen Laden zu finden, in dem er Wein oder Sekt kaufen konnte, damit die Frauen auf den Erfolg anstoßen konnten. In Echo Bay gab es gefühlt an jeder Ecke ein entsprechendes Geschäft. Aber er war nicht in Echo Bay. Er war in Silvershore, irgendwo im Nirgendwo, und hier gab es keinen Spirituosenladen.
So kam Ryker in den Genuss, den kleinen Supermarkt an der Ecke auskundschaften zu dürfen. Eine junge Frau, etwa in seinem Alter, mit braunen, leicht gewellten Haaren, einer Stupsnase und einer dicken Hornbrille blickte ihn von der Kasse aus neugierig an.
Der Laden war winzig, die Auswahl auf das Nötigste beschränkt. Was man zum täglichen Leben brauchte, Mehl, Konserven, Milch und Nudeln. Ein einziger Kühlschrank enthielt Dinge wie Eier und eine spärliche Auswahl an Tiefkühlkost. So war es nicht verwunderlich, dass die Auswahl an Getränken und Alkohol in einem spärlich gefüllten, wackeligen Regal zu finden war. An diesem Punkt hielt Ryker inne.
'Verdammt... was trinken Frauen bei solchen Anlässen?', fragte er sich und stöhnte hörbar, während er sich durch die Haare fuhr und seinen Blick über die Flaschen gleiten ließ. Es gab kanadischen Wein und Rum, Whisky, Gin, Cider.
Er hätte Eve fragen sollen, was genau er nehmen sollte. Schließlich griff er einfach nach drei verschiedenen Flaschen. Irgendetwas würde schon passen. Zumindest hoffte er das.
Etwas ruckartig bremste er schließlich vor dem kleinen Gebäude mit den riesigen Fenstern, wo er Eve abgesetzt hatte. Sein Blick fiel auf die Uhr in dem alten Auto und entlockte ihm ein mürrisches Brummen. Über eine Stunde hatte er für alles gebraucht. Er war zu spät, viel zu spät. Was ihn irritierte, war das ungute Gefühl in seinem Bauch.
Wenn er in all den Jahren etwas gelernt hatte, nicht nur als Detektiv, sondern auch als Seal, dann, dass er auf sein Bauchgefühl hören musste. Bisher hatte es ihn noch nie im Stich gelassen, im Gegensatz zu seinen Sinnen und seinem Körper.
Er kannte dieses Gefühl. Von den Einsätzen in der staubigen, brütenden Hitze, die die Luft zum Flimmern brachte und einen in der Nacht mit bitterer Kälte strafte. Von den Fällen, die ihm alles abverlangten und bei denen sein eigenes Leben auf Messers Schneide stand.
Wann immer er in eine brenzlige Situation geriet, spürte er es vorher. Das mulmige Gefühl. Das nervöse Kribbeln. Die Gänsehaut, die sich in seinem Nacken ausbreitete. Wie von selbst spannte sich sein Körper, während sein Blick zu den großen Fenstern glitt.
Es war ein Café. Ein Ort, der nichts Düsteres ausstrahlte. Keine Gefahr, keine dunklen Ecken. Niemand mit einer Waffe, der sich irgendwo versteckte und auf ihn zielte. Warum hatte er dann dieses Gefühl?
'Wegen Eve. Weil du versprochen hast, als moralische Stütze dabei zu sein, und es nicht gehalten hast', flüsterte sein Unterbewusstsein mit einem seltsam bedauernden Unterton. Für einen Moment erstarrte er mitten in der Bewegung, die Fahrertür zu öffnen, und seine Finger schlossen sich fester um den Griff. In seiner Brust schlug sein Herz verräterisch schnell, wie das eines Kindes, das beim Naschen ertappt worden war.
Energisch schüttelte er den Kopf.
»So ein Quatsch! Du schuldest ihr nichts! Das ist alles nur Show!«, zischte er leise und seine Züge verhärteten sich unter dem dichten Bart. Seine Lippen formten einen schmalen Strich und ließen sein ohnehin meist finsteres Gesicht in diesem Moment fast noch kälter wirken. Harsch riss er an der Klinke, die unter dem harten Zug jämmerlich quietschte. Die Tür sprang krachend auf und ließ ihn fast fluchtartig aus dem Auto springen.
Mit jedem Tag, mit jeder Stunde, die er hier verbrachte, schien sein Leben mehr und mehr im Chaos zu versinken. Der Halt, den er sich erarbeitet, aufgebaut hatte, zerbröselte unter seinen Füßen und schien plötzlich nicht stabiler zu sein, als Eis auf einem See im Frühling.
Sein Verstand schien langsamer zu arbeiten, denn immer wieder ertappte er sich dabei, wie er Eve und Liam länger ansah, als er sollte. Vor allem die junge Mutter schien seinen Blick zu fesseln, ohne dass er verstand, warum. Er redete sich ein, dass es wegen des Auftrags war. Er musste wissen, wie sie wirklich tickte und ob die Informationen in seinem Auftrag der Wahrheit entsprachen. Aber diese Lüge fühlte sich inzwischen flau auf seiner Zunge an, weil es genau das war: eine Ausrede. Und eigentlich wusste er das, auch wenn er sich weigerte, es sich einzugestehen.
Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er lächelte und den Bezug zu dem verlor, worauf es ankam - seinen Fall. Er war hier, um den Jungen und seine Mutter zu finden, sie zu beschatten und das Kind zu beschützen, bis Dylan zu ihnen stieß. Daran musste er sich gerade viel zu oft erinnern. Verdammt, er war Privatdetektiv und arbeitete am Rande der Legalität. Falsche Identitäten und diese Schauspielerei gehörten dazu, aber es fiel ihm schwerer, als es sein musste. Seine Vorsicht und seine Beobachtungsgabe waren seine Lebensversicherung. Wenn er beides verlor ... konnte er sich gleich seinen Grabstein meißeln.
Krachend schlug er die Tür ins Schloss und sog die kühle Luft in seine Lungen. Er musste vorsichtig und vor allem sachlich bleiben. Er musste sich auf das konzentrieren, was vor ihm lag. Sich auf seine Aufgabe konzentrieren. Das war es, was zählte. Der Auftrag.
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