Kapitel 21 - Geheimnisse & Zuneigung
Ein riesiger Stein rollte von ihren Schultern, als Jonathan weder ein Rasseln noch Wasser in der Lunge ihres Sohnes feststellte.
'Es ist alles in Ordnung', sagte sie sich innerlich und wiederholte es wie ein beruhigendes Mantra, in der Hoffnung, dass damit ihre Beine endlich aufhören würden, sich wie Gummi anzufühlen. Gleichzeitig fühlten sich ihre Wangen weiterhin heiß an, sobald ihr Bick den von Ray kreuzte. Heißes und kaltes Wasser, welches in ihrem Innern zusammentraf und unter dem dadurch entstehenden Druck den Deckel ihrer vorgetäuschten Selbstsicherheit verräterisch klappern ließ.
Die Erleichterung über die Gesundheit von Liam ließ jedoch schnell nach, als sie Rays seltsames Verhalten bemerkte. Schon zuvor war ihr immer mal wieder etwas aufgefallen. Dass er gelegentlich mit der linken Hand Arbeiten ausführte, statt mit der rechten. Dass er auch im Haus nie kurze Sachen anhatte, egal, wie warm es war. Ein Zögern in einer Bewegung, ein leichtes Humpeln... oder seine Reaktion, als er aus dem See gekommen war. Nicht nur das Zittern der Kälte – sondern die steifen Glieder, das Humpeln und verkrampfte Finger wie von Schmerzen. Manche Dinge zuvor waren nichts als Kleinigkeiten, die man leicht vergessen konnte. Nun jedoch, hatte sich alles wie kleine Steine aufgetürmt und einen Haufen gebildet, über den sie stolperte.
Etwas stimmte nicht.
Selbst sie, deren Blick normalerweise immer auf ihren Jungen fixiert war, bemerkte das.
'Du hast Deine eigenen Sorgen', flüsterte etwas in ihrem Innern. Die kleine, erschöpfte Stimme, deren Gedanken um viel zu viele Dinge kreisten und ihr so oft des Nachts den Schlaf raubten.
Trotzdem wollte sie gerne die Hand ausstrecken und ihn fragen: Was ist los?
In der Zeit, in welcher Ray hier war, hatte sie ihn noch nie derartig gereizt erlebt. Das hieß... bei ihrer ersten Begegnung vielleicht. Gerade noch hatte er gelächelt, gescherzt und Liam über das Haar gewuschelt. Jetzt knurrte er gereizt wie ein in die Ecke getriebenes Tier, das sogar bereit war, nach der Hand zu schnappen, die zu helfen versuchte.
Eve bemerkte den ernsten Umschwung, der sich in Dr. Tylors Miene abzeichnete. Die Sanftheit, die er zuvor noch bei dem Kind an den Tag gelegt hatte, als er Liam untersuchte, fiel für den Bruchteil einer Sekunde aus seinen Zügen. Sie zerbrach wie Glas an der steinernen Art, die Ray an den Tag legte. Wenn er schon bei dem Arzt so reagierte, warum sollte es bei ihr anders sein?
Der Blick des Doktors folgte dem anderen Mann nach, als er raschen Schrittes von ihnen forttrat.
»Wie Sie wollen. Aber ich kann keine Verantwortung für eventuelle Folgen übernehmen.« Dr. Taylor wandte den Blick bedauernd zu Eve. »Man kann niemanden zwingen, sich untersuchen zu lassen«, meinte er und er fuhr sich mit den Fingern von der Stirn aus durch das blonde Haar. »Aber wenn ich schon hier bin, könnte ich mich um Dich kümmern? Ich habe alles Nötige dabei?«, bot er an und klopfte dabei auf die lederne Arzttasche.
Scheinbar schien ihn Rays harsche Abfuhr nicht sonderlich zu belasten. Eve konnte sich vorstellen, dass es einige ältere Bewohner gab, die ebenso stur und wohl weniger 'empfindlich' waren, als die Städter. Immerhin hatte man hier draußen nicht so einfach die Möglichkeit, auf den Arzt zurückzugreifen und überlegte sich immer zweimal, ob man Dr. Taylor anrief oder den weiten Weg auf sich nahm. »Danke, das nehme ich gerne an. So müssen Sie-«
»Du«, korrigierte er flink.
Eve lächelte etwas schräg und war froh darüber, dass er diese ernste Stimmung mit leichtem Scherz auflockerte. »DU«, setzte sie neu an und betonte es besonders, »musst dann den weiten Weg nicht erneut für uns fahren.«
»Ach, das macht mir nichts aus.« Jonathan winkte ab, während er ihr nun bot, sich auf den Platz zu setzen, den Ray eben freigemacht hatte und mit derselben Vorsicht, wie wenige Tage zuvor, die blonden Strähnen aus ihrem Gesicht strich.
»Es sieht schon viel besser aus Mama. Du bist bald wieder ganz hübsch«, sagte eine müde Stimme und Liams kleinere Hand tätschelte ihren Arm. Eve wären beinahe Tränen in die Augen gestiegen, weil ihr Sohn so unglaublich mitfühlend war – selbst jetzt.
»Danke, mein Schatz.« Ihre Stimme klang ein wenig brüchig und zog das Lächeln auf Dr. Taylors Lippen ein wenig mehr auseinander, sodass sich kleine Falten in seinen Augenwinkeln bildeten.
»Deine Mama ist auch jetzt schon hübsch«, meinte er charmant und zwinkerte ihr dabei zu.
Eves Lächeln kippte schräg und dann rutschte sie sichtlich peinlich berührt auf ihrem Hintern hin und her, weil sie nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte. Der Stich saß wie ein reißender Dorn in ihrer Brust, auch wenn es tröstend gemeint war.
'Mitleid, weiter nichts.'
Und sie hasste es.
»Ich gehe nach oben. Heiß duschen«, erklang Rays Stimme, die eine dunklere Tonnuance besaß als sonst. Eve konnte sehen, wie er mit geballten Fäusten die Treppen hinauf stapfte.
Auf dem Weg musste er dort wohl Riona begegnet sein, denn jene kam mit einem irritierten »Was ist dem denn über die Leber gelaufen?«, nur wenig später dieselben Stufen herunter und deutete mit dem Daumen über ihre Schulter hinter sich.
»Vielleicht mag er keine Ärzte«, meinte Liam und war dabei nicht im Bilde darüber, wie zielgenau er damit ins Schwarze getroffen hatte.
Die Untersuchung lief schnell und nur wenig schmerzhaft. Inzwischen zuckte Eve nicht mehr bei jeder Berührung der einst verbrannten Haut zusammen. Das Auftragen der Salbe bot dennoch eine angenehme Kühle und milderte das stete Gefühl von andauernder Spannung ein wenig.
🍂🗝️🍂
»Vielen Dank, dass du so schnell gekommen bist...«
»Nichts zu danken, Eve. Ihr dürft mich also jederzeit anrufen, wenn es Probleme gibt – ganz egal welcher Art«, bot Jonathan an, während Eve ihn zur Tür begleitete.
»Danke, aber sicher hattest Du Dir den Tag anders vorgestellt.«
Dr. Taylor lachte und winkte dann schnell ab. »Ach, das ist mein Beruf. Ich habe es mir nicht anders ausgesucht. Hier in einer so kleinen Gemeinde halten sich die wenigsten an Öffnungszeiten einer Praxis.«
Er lachte dabei und erzählte Eve anschließend von einem Vorfall, bei dem ein heimatloser Streuner in einen Schuppen einbrechen wollte und dabei von einem dort eingenisteten Waschbären übel zugerichtet wurde. Es war mitten in der Nacht, als er angerufen wurde.
An diesem Punkt konnte Eve nicht mehr anders, als zu lachen.
»Nun, ich hoffe, dass wir nicht auch eine dieser Geschichten werden, die dann in aller Munde sind.«
»Ach, das seid ihr doch ohnehin schon«, meinte Dr. Taylor und schmunzelte vielsagend dabei. Es war kein Geheimnis, dass sich alle immer gerne das Maul zerrissen. Die wenigsten taten dies mit bösen Intensionen. Hier draußen gab es einfach zu wenig zu erzählen.
Dr. Taylor griff nach seinem Mantel und legte sich jenen über den Arm. Der Weg zum Auto war nicht weit, und draußen war die Sonne für ein paar kleine Strahlen durch die Wolken gebrochen.
»Wo ich jetzt darüber nachdenke, hast du Recht: Ich musste tatsächlich ziemlich weit fahren und unerwartet meinen Nachmittag opfern«, setzte er dann neu an und blieb an der Türschwelle stehen. »Aber ich wüsste vielleicht eine Möglichkeit, wie du das wieder gut machen könntest?«
»Ach? Und was schwebt Ihnen vor, Doktor?« Eve zog skeptisch eine Augenbraue ein wenig höher.
Jonathans Lächeln wirkte fast schon zu schelmisch für den Arzt, der vorhin noch so ernst und sachlich seine Patienten untersucht hatte.
»Du könntest einen Kaffee mit mir trinken.«
»Sicher. Ich hatte Dir doch ohnehin noch etwas Gebäck zum Dank versprochen? Ich kann Dich natürlich zu uns einladen und-«
Da brach der Arzt in ein kurzes Lachen aus, schüttelte den Kopf und griff nach Eves Hand.
»Das meinte ich nicht.« Dieses Mal lächelte er, suchte aber dennoch ganz gezielt ihren Blick. »Ich meinte, ich würde Dich gerne zu einem Kaffee einladen. In der Stadt oder im Dorf. Du und ich. Nur zu zweit.«
Eve wollte schon lachen und hätte ihm beinahe auf die Schulter geklopft. Aber in seinem Gesicht war kein Hauch von Scherz oder Schalk. Seine Lippen zuckten nicht vor unterdrücktem Lachen. Da begriff sie langsam: Das war sein Ernst.
Und erst da griffen die Räder von Eves Verstand langsam ineinander. Ihr Mund formte ein fassungsloses 'O' und passte zu dem »Oh«, das wenig anmutig von ihren Lippen fiel. Dann klickte es richtig und ihre Augen wurden ein wenig größer. »Oh!«
»Ein 'Oh' ist kein Nein, nehme ich an?« Die blonden Brauen des Arztes ruckten höher, während sein Mundwinkel amüsiert zuckte. Eher so, als betrachtete er ein panisches Eichhörnchen mit nervös zuckendem Schwanz auf seiner Fensterbank.
Jetzt wurde Eve feuerrot im Gesicht, da war sie sich sicher. Mist. Normalerweise hätte sie sofort abgelehnt. Nicht nur, weil es nur ein dummer Scherz sein konnte, sondern weil es ihren aktuellen Grundsatz erschütterte: keine Männer in ihrem Leben. Nicht auf diese Art.
'Es ist nur ein Kaffee. Wann warst du zuletzt mal irgendwie weg?'
In ihrem Nacken kitzelte förmlich das Wissen um Rionas breites Grinsen, welches sie nicht sehen musste, um zu wissen, dass es dort war.
»Nein... ich meine, ja«, stöhnte Eve, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und lachte verlegen. »Also, nein, das ist es nicht«, meinte sie weniger stammelnd. »Sofern das wirklich Dein Ernst ist.«
»Es ist mein Ernst«, bestätigte Jonathan und streckte die Hand aus, um nach der von Eve zu greifen. In einem seltsamen ersten Instinkt wollte sie ihre Finger schon zurückziehen. Aus irgendeinem Grund kam ihr der Gedanke, dass sich die Berührung von Ray ganz... anders angefühlt hatte.
Die Hände des Doktors waren weicher, als er ihre Hand sachte in seine nahm und mit dem Daumen über ihren Handrücken strich. »Wie wäre es, wenn ich Dich ausnahmsweise anrufe?«
War ihr Mund trocken?
»Mama, ich bin müde«, ertönte es mit einem Mal und eine kleinere Hand griff nach der von Eve, um sie aus dem Griff des Arztes zu ziehen. »Und mir ist kalt«, fügte er weiter hinzu und sein Kopf drehte sich zu Jonathan. »Tschüss Doktor.«
Eve starrte ihren Sohn mit offenem Mund an und dann brach die Stimmung ein wie ein Kartenhaus, als die verkeilten Steine ein Lachen aus ihren Lippen ließen, ehe sie Jonathan einen entschuldigenden Blick zuwarf.
»Du hast es gehört, mein Sohn ist sehr müde«, meinte sie vielsagend. Es war offensichtlich, dass Liam hatte stören wollen. Auch jetzt warf er dem Arzt aus leicht zusammengekniffenen Augen misstrauische Blicke zu und Eve musste sich ein Glucksen über diesen süßen, beschützerischen Akt verkneifen. »Wir telefonieren die Tage?«
»In Ordnung«, lenkte der Arzt ein und hob kurz ergebend die Hände, »Ich würde dem tapferen Mann im Haus niemals seinen Schlaf missgönnen.« Sein Blick legte sich länger auf Eve und trieb ihr in seiner Intensität erneut die Röte in die Wangen.
»Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder«, raunte er dann und der Klang seiner Stimme hatte weniger Schalk als von dem herben Honig, von dem Riona gesprochen hatte.
Sie winkte ihm mit Liam am Arm nach, bis der Wagen brummend in den Reihen der Bäume verschwunden war.
Ein anerkennendes Pfeifen ging Rionas Stimme von der Couch voraus:
»Es stimmt wohl tatsächlich, was man sagt: Liebe geht durch den Magen. Du musst mir mal ein paar Deiner Zimtschnecken für die Arbeit mitgeben.«
Eve starrte dem Auto noch einen Moment hinterher, ehe sie sich umwandte und Riona einen rügenden Blick zuwarf.
»Das ist nicht lustig«, sagte sie ernst und spürte, wie Liam an ihrem Arm zupfte. »Darf ich nach oben gehen?«, bat er und Eve hätte am liebsten gefragt, ob er plötzlich nicht mehr müde war. 'Frecher Lausejunge', dachte sie, ohne einen Anflug von echter Bitterkeit.
Sanft legte sie ihm die Hand auf den Schopf und streichelte darüber, ehe sie nickte. »Natürlich. Geh nur. Aber zieh dich warm an und nimm die Decke mit.«
Liam nahm alles unglaublich gut auf. Er hatte so viel durchgemacht und war trotzdem tapferer, als mancher Erwachsene es vielleicht gewesen wäre. Vieles verstand er zwar nicht, aber er war ohne zu weinen mit ihr hierhergekommen und hatte sich damit abgefunden, Oregon zu verlassen.
»Alles in Ordnung?« Diesmal klang Rionas Stimme sanfter und weniger scherzend. Die Schritte von Liam verklangen im oberen Stockwerk, während Eve sich neben ihre Cousine auf die Couch sinken ließ.
»Ich ... ich weiß nicht. Das Leben hier tut uns beiden gut. Aber ... «, sie suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. Es war neu für sie, sich jemandem so anzuvertrauen. Lange Zeit musste sie mit all ihren schweren Gedanken und Gefühlen allein zurechtkommen.
»Ich fühle mich immer wieder wie eine Schiffbrüchige in einem Sturm, die sich verzweifelt an ein Stück Treibholz klammert«, sagte sie leise, und Eve spürte, wie ihre Stimme durch die Steine der Gefühle rauer wurde, die sich unter der Wasseroberfläche verbargen.
»Ehrlich gesagt weiß nicht, ob ich ... bereit bin für diese Art von Neuanfang«, gestand sie Riona und blickte an die Decke aus dunklem Holz.
Neben ihr drehte sich Ri zur Seite und zog die Beine leicht an. Ihre blonden Haare bildeten zerzauste Strähnen um ihre Finger, als sie den Arm auf die Lehne des Sofas legte und den Kopf in die Hand stützte.
»Du bist mehr als bereit, Eve. Du hast nur Angst«, sagte sie leise und legte ihre Finger über Eves, um ihre Hand zu halten. Diese kleine Geste der stillen Unterstützung bedeutete Eve so viel, dass sie schwerer schlucken musste und die Augen schloss.
»Natürlich habe ich Angst«, flüsterte sie leise. Vielleicht, weil sie nicht wollte, dass Ray oder Liam es oben hörten. Vielleicht auch nur, weil es ihr so schwer fiel, es sich einzugestehen. »Ich musste immer stark sein. Für Liam und... weil es mich sonst kaputt gemacht hätte. Aber es waren immer nur wir beide. Es gab niemanden sonst in meinem Leben. Dylan hätte nie zugelassen, dass ...«, sie stockte, dann öffnete sie die Augen und fuhr sich stöhnend über den Nasenrücken. »Ich kann so etwas nicht. Das konnte ich noch nie. Wenn Dylan mich damals nicht zum Abschlussball eingeladen hätte ... «
»Dann hättest du einen anderen, wunderbaren Mann kennengelernt. Aber das spielt keine Rolle. Es bringt nichts, in der Vergangenheit zu leben«, sagte Ri jetzt. »Hör zu. Dr. Taylor oder Jonathan«, sie lächelte sichtlich, »... ist nicht wie die Männer in meiner Bar. Er ist sicher nicht auf eine Nacht aus.« Erst jetzt bogen sich ihre vom Lipgloss glänzenden Lippen wieder nach oben. »Ich glaube, er mag einfach und ehrlich deine süßen Zimtrollen«, neckte sie und stieß Eve in die Seite, damit klar wurde, was sie meinte.
»Ri!«
»Lass mich ausreden«, bat sie und ihr Gesicht wurde wieder etwas ernster. »Du hast all die Jahre wie eine Witwe gelebt, obwohl du einen Ring am Finger trägst. Bald bist du geschieden. Dann kannst du endlich etwas tun, was dir guttut. Du darfst wieder Schmetterlinge im Bauch haben und andere Männer attraktiv finden.« Während sie sprach, wurde Rionas Stimme zunehmend eindringlicher. Eine stille Wut färbte die Töne immer dunkler. »Hör auf, dich einem Mann verpflichtet zu fühlen, dem du die ganze Zeit egal warst! Wenn ich daran denke ...! Scheiße!«
Ri ballte die Hände zu Fäusten, denn sie hätte am liebsten noch schlimmer geflucht. Als Eve ihr erzählt hatte, was geschehen war, wäre sie fast explodiert. Man konnte jetzt lächelnd meinen, es wäre besser für Dylan, nicht hier auf der Türschwelle zu stehen. Aber all diese Wut hatte keine Chance gegen einen Seal und einen Mann von Dylans Statur ... Eve wusste das nur zu gut.
»Ich ... weiß«, murmelte Eve und fuhr sich seufzend mit den Fingern über die Narben in ihrem Gesicht. Sie bereute so vieles. Trotzdem wusste sie manchmal nicht, ob sie schreien oder weinend zusammenbrechen wollte. »Ich meine ja nur ... wir sind noch nicht so lange hier. Ich weiß nicht mal, ob er die Scheidungspapiere unterschrieben hat. So wie ich ihn kenne, wird er es mir nicht leicht machen.«
»Und wenn schon«, schnaubte Ri und kräuselte die Nase. »Geh einfach mit dem Doc einen Kaffee trinken. Hab ein bisschen Spaß und denk zur Abwechslung mal nicht an Liam oder deinen blöden Ex.«
»Das sagst du so einfach.« Eve seufzte und ihr Blick aus dem gesunden Auge glitt wie angezogen in Richtung Treppen. »Du hast gesehen, wie Liam reagiert hat...«
»Du machst dir zu viele Sorgen, Eve. Lass dir diese Chance nicht entgehen. Du sollst Dr. Taylor ja nicht gleich heiraten. « Die junge Frau verdrehte die Augen und schlug die Beine übereinander, bevor sie mit den Augenbrauen wackelte. »Nur ein bisschen an ihm lecken vielleicht. Etwas Zucker tut jedem hin und wieder gut.«
Da konnte Eve nicht anders, als leise zu lachen. »Nun, von Zucker habe ICH genug«, meinte sie und verzog die Lippen. »Er will sicher nur nett sein. Wie heißt der psychische Knacks, bei dem sich Ärzte in ihre Patienten vergucken?(*)«
»Was fragst du mich das?«, gluckste Ri und winkte ab. »Aber das ist Quatsch. Schließlich sind hier fast alle Patienten von Dr. Taylor. Und manche nennen ihn nicht einmal beim Vornamen.«
Sonderlich überzeugt war Eve dadurch trotzdem nicht. »Ich... verstehe einfach nicht, warum er das tun sollte. «
»Was?« Riona strich sich die Strähnen des blonden Haares hinter das Ohr und griff nach der Kanne mit duftendem Tee, um sich etwas in die Tasse einzuschenken, die ehemals Liam oder Ray gehört hatte.
»Naja... Kaffee trinken gehen. Mit mir.«
Auf Rionas Gesicht zeichnete sich sichtlich Unverständnis ab. Also deutete Eve auf sich selbst. »Sieh mich an«, sagte sie, und Eve verstand nicht, wie Ri das nicht verstehen konnte. »Was will ein Mann mit einer Robbe wie mir?«
»Jetzt reicht es aber!« Ri stellte die Tasse mit einem lauten Klirren wieder auf den Tisch, so dass der Tee gefährlich in die Tasse schwappte. »Hör auf, so schlecht von dir zu denken und zu reden!«, sagte sie härter und wandte sich nun ganz Eve zu.
»Eve«, ihre Stimme bekam den Klang einer besorgten Verwandten. Ein besonderer Klang, der gleichzeitig von liebevoller Strenge und Zuneigung geprägt war. »Was glaubst du, was ein Mann sucht und braucht?«
»Ri-« setzte Eve an, doch ihre Cousine unterbrach sie sofort.
»Nein, nix 'Ri'«, sie hob die Hand und ihre Finger drückten sachte Eves Oberarm. »Ich weiß, was du sagen willst: Sie suchen etwas wie Sally. Blond, schlank und mächtig Holz vor der Hütte«, meinte Ri und ihre Augenbrauen formten eine strenge Linie.
»Ach komm schon Ri. Niemand verliebt sich als Erstes in innere Werte. Das ist romantisiertes Gerede«, brummte Eve.
»Natürlich nicht. Wer etwas anderes behauptet, als dass zuerst Ausstrahlung und das Auge entscheiden, lügt sich in die Tasche. Und du hast recht: Manche suchen genau solche Ziegen wie Sally«, bei Erwähnung des Namens, verzog sie die Lippen, als hätte man ihr eine gammlige Zitron ein den Mund geschoben.
»Aber Oma mag es süß und ich mag es deftig. Jeder hat seine Vorlieben, das will ich gar nicht bestreiten.« Riona zuckte mit den Schultern. »Das hilft ihr vielleicht, oberflächliche Männer abzuschleppen. One-Night-Stands oder kurze Liebschaften. Aber wenn es wirklich darauf ankommt, ist etwas anderes viel wichtiger als ein paar pralle Brüste und ein knackiger Arsch.« Rionas Blick glitt von Eve ab und blieb an einem kleinen Beistelltisch hängen, auf dem einige Fotos in verschiedenen Rahmen standen. Fotografien, manche noch schwarz-weiß oder in braunen Schattierungen. Von ihrer Großmutter und deren Mann, von ihren Eltern und eines zeigte sogar Ri und Eve, als sie noch Kinder waren.
Aber Eve bemerkte, dass Rionas Blick an einem ganz bestimmten Bild hängen blieb: Ein junger Mann hatte den Arm um eine jüngere Riona gelegt, die noch lange Haare und ein breites, verliebtes Lächeln hatte. Ein Märchen ohne »Sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende«, wie so viele andere.
»Wenn man mehr als nur ein bisschen Spaß sucht, braucht man jemanden, der zu einem steht, in guten wie in schlechten Zeiten. Nicht nur leere Worte und einen heißen Körper«, flüsterte Riona, als würde sie das eher zu sich selbst sagen.
Diesmal war es Eve, die nach Rionas Hand tastete, als diese feuchte Augen bekam. Als Riona beschlossen hatte, zu ihrer Großmutter nach Kanada zu ziehen, war Ri mit einem Mann namens Riley zusammen gewesen. Er hatte ihr ewige Liebe geschworen und ihr die Sterne vom Himmel versprochen. Dass er sie nach Kanada begleiten und heiraten würde. Doch als der Tag kam, stand Riona allein in der Abflughalle des Dubliner Flughafens. Er kam nicht.
»Schönheit und leere Worte allein sind nichts wert. Man braucht jemanden, der einen hält und führt, wenn man den Weg verloren hat. Jemanden, der dich auffängt, wenn du fällst, und dir Wärme, Ehrlichkeit und Respekt gibt. Wir leben nicht im Märchen. Das Leben ist oft genug beschissen und wir alle brauchen jemanden, der mit uns durch diese Scheiße watet, ohne uns zurückzulassen, nur weil es gerade einfacher ist.«
Eve wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Es war immer so leicht gesagt, aber... wie Riona sagte. Das Leben war nicht immer leicht. Sie wusste das doch alles. Aber es war nun mal so viel leichter dahin gesagt, als man es lebte. Treue, Loyalität oder Liebe waren Dinge, die man sich wünschte, die aber nicht so selbstverständlich waren, wie es in Beziehungen sein sollte. Erst wenn es hart auf hart kam, musste sich jemand beweisen... und zu oft blieb dann eine Person mit gebrochenem Herzen zurück.
Plötzlich legten sich Ri's Hände sanft an ihre Wangen und Eve wäre fast zusammengezuckt. Stattdessen trafen sich in ihren Blicken zwei Landschaften von Seelen voller Gefühle, Enttäuschungen und steiniger Wege. Zwei Seelen, die irgendwie verbunden waren und den Schmerz verstanden, der sich wie eine unsichtbare, blutende Wunde hinter dem Lächeln der anderen Frau verbarg.
»Du bist eine tolle Frau, Eve. Das musst du dir selbst klar werden. Du bist eine unglaubliche Köchin, ein herzensguter Mensch und eine wunderbare Mutter. Du bist vielleicht nicht das, was manche als perfekt sehen mögen, aber das ist auch unwichtig. Aber du bist trotzdem schön. Und wir brauchen keinen Mann, der uns das sagt, um glücklich zu werden. Nur einen, der das Glück hat, es zu erkennen.« Damit stupste Ri ihr sachte gegen das Kinn.
»Außerdem solltest genau DU wissen, dass man nicht nach Oberflächlichkeiten gehen sollte, oder nicht?«, fügte sie etwas sanfter hinzu. »Vielleicht ist Dr. Taylor einfach nicht so blind wie manche anderen Idioten. Also komm schon. Du bekommst morgen den Zuschlag für den Laden, und dann kannst du dir hier ein neues Zuhause aufbauen. Es ist dein Leben und ein guter Mann wird es als Ehre empfinden, es mit dir zu teilen! Außerdem kannst du erst einmal deine Freiheit genießen.«
Erst als Ri ihr jetzt mit dem Daumen über die Wange strich, um die nassen Spuren zu verwischen, merkte Eve, dass ihr Tränen über die Wange liefen. Hastig hob sie die Hände und wischte das Zeugnis eines stillen Schmerzes weg, der nicht so leicht heilen würde. Aber es war ein Anfang.
»Ri, du klingst wie eine Figur aus einem deiner kitschigen Romane«, sagte Eve und lachte, auch wenn es noch etwas holprig klang. Trotzdem fiel ein wenig Sonnenlicht durch die Ritzen ihrer schützenden Wand, als sie Ri in die Arme schloss und die beiden Frauen sich drückten.
»Danke ... manchmal könnte man fast meinen, du wärst die Ältere«, flüsterte Eve leise. »Ich hab dich lieb, Ri.«,
»Ich dich auch, Dummerchen«, gab ihre Cousine zurück und drückte sie erneut. »Mach dir keine Sorgen. Früher oder später wirst du bestimmt den einen Mann finden, der weiß, was er an dir hat.«
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