Kapitel 16 - Wertvolle Sekunden
Gähnend betrat er am nächsten Morgen die Küche des Pineview Cottage.
Dunkle Ringe unter den Augen zeugten von einer schlaflosen Nacht, denn viele Gedanken und Fragen hatten ihn nicht zur Ruhe kommen lassen.
Immer wieder sah er den Arm des Jungen und Evelyns verbranntes Gesicht. Aber auch Dylans besorgte Stimme ging ihm nicht aus dem Kopf. Sein ehemaliger Kamerad war verzweifelt gewesen. Da war sich Ryker sicher. Spielte Eve ihm und allen anderen wirklich nur etwas vor? War die ganze Sorge um Liam und ihre mütterliche Art nur eine Maske, hinter der sich die verzerrte Fratze einer psychisch Gestörten verbarg?
Diese Fragen quälten ihn die ganze Nacht. Frustriert wälzte er sich hin und her. Nichts hatte geholfen. Es war ein Wunder, dass er es überhaupt geschafft hatte, sich in Hemd und Jeans zu schälen und nicht halbnackt vor Eve zu stehen.
Der Blick der jungen Mutter fiel nur kurz auf ihn, dann reichte sie ihm schon die dampfende Tasse Kaffee. Schwarz mit Ahornsirup, so wie er ihn am liebsten trank. Aber Eve gab noch ein paar Tropfen Milch dazu und schaffte es seltsamerweise, dass es dadurch noch besser schmeckte, was ihm ein leichtes Lächeln entlockte.
»Danke« , murmelte er in einem müden, aber gutmütigen Ton. »Und guten Morgen.«
Leicht am Rand seiner Kaffeetasse nippend, setzte er sich an seinen Platz am Tisch, wo bereits eine Quarktasche und ein frisch gebackenes Brötchen auf ihn warteten.
Ryker knabberte mehr am Frühstück, als dass er richtig aß. Es war zwar lecker wie immer, aber heute hatte er einfach keinen richtigen Hunger. Schließlich stand er nach ein paar Minuten auf. Er hatte nur noch die Reste des Gebäcks im Mund, als er sich mit einem beiläufigen Winken entschuldigte. Er musste sich ablenken und... distanzieren.
Der Detektiv brauchte sich nicht zu fragen, ob Mad es geschafft hatte, die Akten zu besorgen. Mad schaffte es immer. Er musste sich nur erneut davonstehlen und sie ausdrucken. Warum also... machte ihn der Gedanke daran so nervös?
'Dummer Mist. Bring es einfach hinter dich. Je eher du mit dem Dach anfängst, desto eher bist du fertig und kannst in die Stadt fahren, um die Akte auszudrucken.'
Doch schon bald machte ihm das Dach einen Strich durch die Rechnung. Es dauerte nicht lange, bis er feststellte, dass die Schäden schlimmer waren als zunächst angenommen. Das Dach war wohl schon vorher beschädigt worden, und der letzte Sturm hatte nicht nur einzelne Schindeln gelöst.
Manche waren zerbrochen, vermutlich durch umherfliegende Äste, deren Wucht bei starkem Wind nicht zu unterschätzen war. Fakt war: Die Reparaturarbeiten wurden dadurch erheblich erschwert, denn er musste die zerbrochenen Stücke unter den intakten herausfummeln, bevor er die neuen einsetzen und so verkeilen konnte, dass sich das Ganze gegenseitig stützte und hielt. Dazu musste er ganze Reihen entfernen und darunterliegende Rahmengeflecht freilegen.
Es war schon Nachmittag, als er zum ersten Mal von seiner Arbeit aufblickte, abgelenkt vom hellen Klang eines Kinderlachens, das sich mit dem wilden Bellen des Hundes vermischte. Zuerst drehte er nur den Kopf, um nach dem Rechten zu sehen, doch schließlich gönnte er sich eine Pause, drehte sich ganz um und setzte sich.
Der kühle Herbstwind trug den Duft der Blätter und das Rauschen der Ferne zu ihm herüber und zerzauste leicht sein Haar. Die Aussicht von hier oben war atemberaubend. Die Baumwipfel wogten im Wind wie ein buntes Farbenmeer und das Rauschen erinnerte an Wellen, die ans Ufer schwappten. Ray hob die Hände an den Mund, zog die Handschuhe von den kalten Fingerspitzen und wärmte sie mit seinem Atem.
Der Tag war deutlich kühler als die Tage zuvor. Aber Liam schien das nichts auszumachen. Der Junge rannte mit Chief über die Wiese, einen kleinen roten Ball in der Hand, den er immer wieder dem Schäferhund zuwarf. Es war nicht zu übersehen, dass der kleine Wirbelwind den pelzigen Freund an seiner Seite über alles liebte. Und umgekehrt ebenso. Immer wieder streichelte und kraulte er den Rüden, nachdem dieser dem Kind den Ball freudig wedelnd vor die Füße gelegt hatte.
Ryker spürte, wie sich trotz der Kälte eine angenehme Wärme in seiner Brust ausbreitete, und mit einem leichten Lächeln beobachtete er das Spiel noch einige Minuten. Obwohl das helle Kinderlachen sein Herz erwärmte, jagte das Bellen ihm Schauer über den Rücken wie die ekligen Beine zahlreicher Kriechtiere. Die Nackenhaare stellten sich auf, und Ryker verdrängte das mulmige Gefühl, das ihn jedes Mal überkam, wenn er den Schäferhund sah.
»Genug Pause. Zeit, weiterzumachen« , ermunterte er sich schließlich, während sein Atem in weißen Wolken über seine Lippen kam. Wenigstens seine Finger hatten sich ein wenig erholt, also steckte er sie wieder in die Handschuhe und bewegte sie ein paar Mal, bevor er sich wieder an die Arbeit machte.
Ray bemerkte gar nicht, wie sich das Lachen und Bellen immer weiter vom Inn entfernte. Zu sehr war er in seine Arbeit vertieft, die seine ganze Aufmerksamkeit forderte. Er musste aufpassen, dass sich nicht aus Versehen einer der intakten Ziegel löste und vom Dach rutschte.
Er musste immer damit rechnen, dass Eve oder Riona nach draußen kamen oder Liam zu seiner Mutter ins Haus lief. Man durfte die Gefahren bei solchen Arbeiten nicht unterschätzen, und das vergaß man allzu schnell. Aber schon ein herunterfallender Ziegel konnte schlimme Verletzungen verursachen, und das wollte er auf keinen Fall riskieren.
Ryker war so in seine Arbeit vertieft, dass er vor Schreck das Gleichgewicht verlor, als ein erschrockener Schrei, gefolgt vom Jaulen des Hundes, die Luft zerriss.
Begleitet von einem lauten Klappern rutschte er einige Schindeln tiefer und versuchte, mit Händen und Füßen Halt zu finden. Sein Herz raste, denn bei einem Sturz aus dieser Höhe konnte er nur mit Glück lediglich auf Knochenbrüche hoffen. Sein Puls raste. Ryker erwartete den Sturz. Im letzten Moment fand sein Fuß Halt, als er in die Regenrinne rutschte.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Erst jetzt bemerkte er, dass er während der Rutschpartie die Luft angehalten hatte. Hastig sog er die Luft in tiefen, gierigen Zügen in seine Lungen. Dann fiel ihm wieder ein, warum er überhaupt ausgerutscht war. Der Schreck steckte ihm noch in den Knochen, dann flog sein Kopf herum.
Es dauerte einen Moment, bis er den Schäferhund auf dem Steg entdeckte. Schon von Weitem sah er, dass der Körper des großen Schäferhundes stocksteif war. Nervös lief er auf der Stelle von rechts nach links, den Schweif zwischen die Beine geklemmt. Sein Kopf war gesenkt und er starrte wie gebannt auf die Oberfläche des Sees vor ihm.
Rays Puls beschleunigte sich erneut und das Blut gefror ihm in den Adern.
Er konnte gerade noch die unruhigen Wellen auf dem Gewässer des Sees erkennen, bevor der Kopf des Jungen unter der schwankenden Oberfläche verschwand.
»Scheiße!«, der Fluch glitt ihm so schnell von den Lippen, dass er ihn nicht schlucken konnte.
Wilde Wellen schlugen um den Steg. Zeugen des verzweifelten Kampfes, der sich dort abspielte. Der Junge konnte nicht einmal schreien. Kinder ertranken schnell und lautlos.
»EVELYN!«, brüllte er, während Ray sich wieder aufrappelte. Taumelnd kam er auf dem Dach wieder auf die Beine und eilte mit schnellen Schritten zu der Leiter, die einige Meter hinter ihm am Giebel lehnte. Hektisch, mehr rutschend als einen sicheren Halt oder Tritt suchend, kletterte er nach unten. Er nahm mehrere Sprossen auf einmal und sprang schließlich die letzten anderthalb Meter auf den Boden. Ein heftiger Ruck fuhr ihm durch den Rücken, als er landete und sich auf dem Gras abrollte. Trotzdem blieb ihm beim Aufprall kurz die Luft weg.
»EVE!«, brüllte er wieder, nachdem er vor Schmerz zischend die Luft angehalten hatte. Diesmal schrie er lauter als zuvor nach der Mutter. In seinen Gedanken und in seiner Brust war kaum noch Platz für etwas anderes als Liam. Wie vom Teufel gejagt, rannte er über die Wiese auf den Steg zu. Achtlos warf er seine Jacke in das Laub am Ufer.
Erst als er das glitschige Holz betrat, verlangsamte er seine Schritte ein wenig - jedoch nur, um nicht auszurutschen und durch einen Sturz die letzte Chance zu verspielen, den Jungen vielleicht noch rechtzeitig zu erreichen. Die von der Feuchtigkeit und den Jahren geschwächten Bretter unter seinen Füßen ächzten laut, aber er hörte es nicht einmal. Ohne weiter nachzudenken, rannte er auf den Hund zu und stürzte sich hinter Liam ins eiskalte Wasser.
Das Wasser war wie eine Wand aus eisiger Kälte, die sich sofort in Nerven und Muskeln bohrte. Nadelstiche wären diesem Gefühl nicht gerecht geworden. Unter dem Schock versteiften sich seine Muskeln wie durch einen Stromschlag. Er wollte sich bewegen, in der Hoffnung, es würde aufhören. Seine Instinkte verlangten nach Luft, danach, frische Luft in seine Lungen zu saugen und sich zu retten. Raus aus dem eiskalten Wasser und wieder an Land.
Die Nadeln bohrten sich durch seine Haut. Drangen immer tiefer und zogen ihm förmlich die Wärme aus dem Körper. Die Zeit wurde knapp. Die Augenblicke unter der Wasseroberfläche kamen ihm unendlich lang vor. Das Kind war schon zu lange im Wasser, der kleine Körper sank mit jeder Sekunde tiefer. Die Uhr tickte.
Das Wasser stach Ray in die Augen, als er sie öffnete. Er musste mehrmals blinzeln und zwang sich, sie offen zu halten. Einen Moment lang sah er sich orientierungslos um, dann lenkte er seinen Blick unter sich. Zum Glück war der See an dieser Stelle nicht so tief - aber das spielte keine Rolle, wenn es um ein ertrinkendes Kind ging. Ray sah die Welt wie durch einen verschmutzten Filter, bevor er die kleine Hand direkt unter sich entdeckte.
'Liam!'
Ein einziger Gedanke, der durch seinen Kopf schoss und seinen Körper zur Reaktion zwang. Mit kräftigen Armzügen tauchte er tiefer. Sein eigener Körper war sein Feind, denn er zog ihn in die entgegengesetzte Richtung.
Aber es gelang ihm, die kleine Hand zu packen, als seine Lungen schon brannten. Ray zog den kleinen Körper an sich, legte einen Arm um den Jungen und bewegte gleichzeitig seine Beine und den freien Arm, um an die Oberfläche zu kommen. Obwohl Liam klein war, bedeutete sein Gewicht eine große Anstrengung. Ihre durchnässte Kleidung zog beide zusätzlich nach unten. Ray hatte die Oberfläche fast erreicht, als er den übermächtigen Reflex nicht mehr unterdrücken konnte.
Seine Lippen öffneten sich, um nach Luft zu schnappen. Doch er sog nur Wasser in den Mund, schmeckte das Seewasser auf der Zunge und sah die verbliebenen Luftblasen an die Oberfläche treiben. Einen Moment lang kämpfte er gegen seinen Überlebensinstinkt. Ein Teil von ihm wollte den Jungen loslassen. Nur an sich denken. Atmen! Doch sein Blick senkte sich, fiel auf den kleinen Körper in seinen Armen und weckte seine letzten Kraftreserven.
Unter einem tiefen Keuchen durchbrach sein Kopf die Wasseroberfläche. In seinen Armen mischte sich ein hustendes Röcheln von Liam mit seinem eigenen, als die Luft endlich wieder in seine Lungen strömte. Hektisch und wild ruderten seine Arme, versuchten sich und den Jungen über Wasser zu halten, während sein Blick wild umherwanderte. Kleine Hände krallten panisch in den durchnässten Stoff seines T-Shirts, während sich sein Arm instinktiv fester um den Jungen schloss.
Wie durch einen Schleier konnte er das Ufer erkennen, wo Evelyn gerade angelaufen kam. Der Hund bellte laut und rannte alarmiert und besorgt über den Steg.
Schwer nach Atem ringend, schwamm Ray langsam auf das Ufer zu und hörte ein lautes Platschen von Schritten, die ins Wasser eilten, bevor es in ein Rauschen überging. Als er den Kopf ein wenig drehte, mehr um zu sehen, ob er noch auf Kurs war, erkannte er, dass die Geräusche von Eve kamen.
Die junge Mutter war kreidebleich und starrte sie mit schreckgeweiteten Augen an. Dann - endlich! - spürte er wieder Boden unter den Füßen. Mehr stolpernd als festen Schrittes schob er sich durch das Wasser, bis er auf Höhe der jungen Frau war, die selbst schon bis zum Bauchnabel im eisigen Wasser stand.
Halb taumelnd schaffte er es gerade noch, Evelyn ihren Sohn in die Arme zu drücken. Sie schloss die Arme um ihr Kind, und der Blick der Mutter schien sich ganz auf ihren Sprössling zu konzentrieren.
Da schoss ihm wieder der quälende Schmerz in den Rücken. Sein ganzer Körper schrie auf und erinnerte ihn daran, warum er nicht mehr dienen oder sich körperlich überanstrengen durfte. Ein Zittern überlief ihn und stolpernd landete der Ex-Seal wieder im kalten Wasser. Er tauchte kurz unter, bevor er sich wieder auf alle Viere stemmen konnte und sich mühsam zum Kiesufer schleppte.
Die kleinen Steinchen stachen unangenehm in seine Handflächen. Wasser rann über seine Haut, die von einer feinen Gänsehaut überzogen war, tropfte aus seiner Kleidung und durchnässte den Kies.
Mund um Mund spuckte er Wasser in die Steine, bis er statt Seewasser nur noch Galle hervorwürgte. Mit verzerrtem Gesicht tastete seine Hand instinktiv nach seinem Rücken, während ihn ein weiterer eisiger Luftzug zum Zittern brachte. Vorhin war es schon kalt gewesen. Jetzt, nass und dem Wind schutzlos ausgeliefert, war es die reinste Folter. Noch immer schwer atmend und hustend, bewegte er sich erst nach einigen Herzschlägen. Er ließ sich seitlich fallen und stützte sich auf die Ellbogen, um stark blinzelnd den Blick zu heben. Seine Augen brannten wie Feuer, ebenso wie seine Lungen.
»Geht«, krächzte seine Stimme, und seine Brust bebte unter dem nächsten, unterdrückten Hustenanfall. »Geht es ihm gut? Ist er okay?«
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