Kapitel 15 - Eine Hand wäscht die andere
Seit seiner Ankunft im Cottage waren einige Tage vergangen.
Zu Rykers eigener Überraschung hatte ihm die Zeit hier draußen gut getan. Er war seit seiner Ankunft entspannter und auch sein Verhältnis zu Eve hatte sich verbessert. Statt frostig war es neckisch zwischen ihnen. Zugegeben, die junge Frau hielt ihn auch auf Trab: Oft genug hatte er in den letzten Tagen mit den Augen gerollt, wenn ihr blonder Kopf durch die Tür lugte und sein Name von ihren Lippen kam.
Immer wieder kamen kleine Sonderaufgaben zu den anstehenden Reparaturen hinzu: Erst eine kaputte Glühbirne, dann ein verstopfter Abfluss, zuletzt die verzogene Treppe zum Dachboden. All diese Kleinigkeiten lenkten ihn von seinem Projekt der Autoreparatur oder den größeren Reparaturen ab, so dass er langsamer vorankam als geplant.
Aber seine Mühe wurde auch belohnt.
Oft stand plötzlich eine Flasche Wasser neben ihm auf dem Boden, auf einem Tischchen oder auf der Terrasse. Nie allein, immer mit einem kleinen Imbiss. Selbstgebackene Kekse, ein warmes Stück Kuchen oder Muffins. Immer wieder leckere Köstlichkeiten, die ihm den Tag versüßten, so dass ihn die kleinen Sonderaufträge später kaum noch störten. Um ehrlich zu sein, war bald sogar das Gegenteil der Fall: Manchmal kam es ihm seltsam ruhig vor, wenn es ein paar Stunden still war oder er das Klappern aus der Küche im Erdgeschoss nicht mehr hörte.
Das war es auch, was ihn diesmal nach unten lockte. Zumindest so lange, bis er den Gast zu Gesicht bekam.
Er mochte den jungen Mann nicht besonders. Das lag nicht nur an seinem zugegeben guten Aussehen, als auch an Rays persönlicher und genereller Abneigung gegen Weißkittel. Die andere Ursache des Kiesels in seinem Bauch war leicht zu erraten: Er war immer noch Detektiv, hatte einen Fall zu bearbeiten und musste auf den Jungen aufpassen. Dass sich hinter dem Grund, warum er den Kerl so misstrauisch beäugte, noch ein anderer verbergen könnte ... Unsinn. Das hätte sich Ray niemals eingestanden. Aber es war ein Fakt: Dr. Taylor störte ihn.
Irgendwie hatte der Kerl etwas, das er nicht mochte. Außerdem war seine Vertrautheit und Nähe zu Eve einfach... unangebracht. Soweit Ray wusste, waren Evelyn und Dylan noch nicht geschieden und sie war eine Verdächtige. Zumindest redete er sich ein, dass es daran lag, dass er den Arzt einfach nicht mochte.
Jedenfalls war er froh, als der junge Arzt wieder in seinen grauen Wagen stieg und der Kies unter den Reifen knirschte. Ryker ließ sich murrend gegen den Rahmen sinken und sah zu, wie der Wagen die Einfahrt hinaufrollte und schließlich im Wald verschwand.
Was ihn mehr beunruhigte als der Doktor, waren die Bilder, die wie Gespenster in seinem Kopf herumschwirrten. Er hatte sie gesehen, die Brandwunden. Dylan hatte gesagt, Eve hätte Liam wehgetan. Zweifellos hatte er das gemeint. Aber warum sollte nicht nur dem Jungen sondern sich selbst so etwas antun?
Natürlich gab es Möglichkeiten wie etwa psychische Störungen. Bevor er hierher gekommen war, hatte er sich eingehend damit beschäftigt, um sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Das Münchhausen-Stellvertretersyndrom, auch bekannt als Factitious Disorder Imposed on Another (FDIA), war zum Beispiel solch eine psychische Störung, bei der eine Person, typischerweise eine Mutter oder eine andere Hauptpflegeperson, absichtlich Krankheitssymptome bei einem Kind erzeugte oder vortäuschte.
Einige Mütter vergifteten ihre Kinder, um sie krank und schwach zu machen. Aber das hier? Nein, das passte einfach nicht ins Bild. Sie hätte ihre Rolle als Heldin in den Augen des Jungen verloren, wenn sie ihm absichtlich so wehgetan hätte UND dazu noch sich selbst.
Ein Muskel an seinem Kinn zuckte und seine Kiefermuskeln spannten sich an. Rykers Blick fiel auf seine Jeans, wo sich deutlich die Umrisse seines Handys abzeichneten.
Es musste Unterlagen über den Vorfall in Oregon geben. Er brauchte diese Akten. Nur so konnte er herausfinden, was dort passiert war und woher diese Verletzungen wirklich stammten. Und bevor er hier verrückt wurde und nicht mehr wusste, wo oben und unten war ... sollte er sich besser beeilen, sie zu bekommen.
🍂🗝️🍂
Die Fahrt zum Baumarkt am nächsten Tag erwies sich als ideale Gelegenheit für diese Recherche. Diesmal achtete er auch darauf, dass sein Handy aufgeladen war und suchte sich einen Platz am Rande der Strecke mit klarem Empfang.
Das Einzige, was ihm jetzt noch fehlte, war die richtige Quelle.
Sein Blick klebte am Display, während er durch seine Kontakte scrollte und immer wieder kurz innehielt, wenn er einen Namen entdeckte, der ihm vielleicht weiterhelfen könnte - doch schließlich verwarf er alle wieder.
'Das dauert alles viel zu lang', dachte er im Stillen und tippte unzufrieden mit den Fingern auf das Lenkrad. Mit gerümpfter Nase lehnte er sich in den unbequemen Fahrersitz zurück. Seine Kontakte in den Krankenhäusern könnten ihm helfen, aber es nahm zu viel Zeit in Anspruch, bis man ihm diese zuspielen könnte. Ein paar Tage - Minimum. So lange wollte er nicht warten, er hatte schon Hummeln im Hintern. Außerdem musste alles passen, damit es niemand bemerkte.
»So eine Scheiße«, murmelte er leise zu sich selbst. Ryker fuhr sich mit der Hand über die Augen und spürte, wie jede nervige Feder durch den durchgesessenen Fahrersitz drückte. Doch am Ende kam er immer wieder an den gleichen Punkt. Es ging einfach nicht anders, wenn es schnell gehen sollte.
»Ich hatte gehofft, es ohne ihre Hilfe zu schaffen«, murmelte er in die Dunkelheit des Führerhauses. Dann fluchte er und stieg aus. Sitzen bleiben konnte er bei diesem Anruf nicht - dazu war er zu bepackt und zu unruhig. Also lehnte er sich an den Pick-up. Ryker zögerte ein paar Herzschläge, dann überwand er sich und wählte die Nummer.
»Verfluchte Scheiße!«, dröhnte nach gefühlten Minuten eine raue Frauenstimme aus dem Lautsprecher. »Wer zum Teufel ist da? Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?!«
Ein leichtes Lächeln legte sich auf Rykers Gesicht. Sie hatten eine Weile nicht miteinander gesprochen, aber sie hatte sich nicht im Geringsten verändert. Sie war immer noch die gleiche, stets schlecht gelaunte und aufbrausende Frau, die er vor einigen Jahren schon kennen gelernt hatte.
»Als ob du um diese Zeit schon schläfst, Mad-Dog«, begrüßte er sie und hörte, wie am anderen Ende der Leitung der Atem angehalten wurde, bevor ein wenig damenhaftes Knurren ertönte.
Mad-Dog, eigentlich Madeline, trug ihren Spitznamen nicht ohne Grund. Schließlich war sie alles andere als das, was man von einer braven Dame erwarten würde. Madeline nahm nie ein Blatt vor den Mund, sagte, was sie dachte, und noch schlimmer - sie scheute sich nicht, sich die Hände schmutzig zu machen. Mehr als einmal hatte er sie blutüberströmt gesehen. Das letzte Mal, als er ihr zur Flucht verholfen hatte. Seitdem beschränkte sich ihr Kontakt auf Telefonate. Ryker wusste nicht einmal, wo sie sich aufhielt, und vielleicht war das auch besser so.
»Oh nein ... Ryker Valtarin. Von allen Hunden, deren Stimme ich nie wieder hören wollte, ist deiner immer noch der Unliebsamste!«, bellte sie und Ray seufzte leise. Wie er es sich gedacht hatte. Das würde nicht einfach werden. »Gib mir einen Grund, warum ich nicht gleich wieder auflegen sollte, Ryker.«
Er neigte den Kopf leicht zur einen, dann zur anderen Seite. »Weil du nicht auflegen kannst. Du weißt, ich brauche nur einen Knopf zu drücken, und in ein paar Minuten hast du nicht nur die Polizei, sondern auch jede Menge unangenehmen Besuch vor der Tür.«
Das wütende Zischen war kaum zu überhören.
Dabei hatte er im Moment gar nicht die Möglichkeit, seine Drohung wahr zu machen. Aber sie schien ihm zu glauben, und das genügte für den Augenblick.
»Was willst du, Viltarin?«
»Ich brauche ein paar Akten, Mad«, hob er an, wurde aber sofort unterbrochen.
»Schon wieder? Ray, ich kann mich nicht ständig in die Server der Behörden hacken!«, brauste sie auf. »Letztes Mal wäre ich beinahe erwischt worden und musste in kürzester Zeit so viel Abstand wie möglich zwischen Wyoming und mich bringen! Also nein! Vergiss es, nicht noch einmal, mein Lieber! Such dir einen anderen!«
»Das ist keine Datenbank der Behörden, Mads!«, unterbrach er jetzt den Wortschwall, der fast ohne Atempause aus der Höhe kam. »Das wird ein Klacks für dich: Ich möchte, dass du dich in die Datenbank eines Krankenhauses hackst und zwei Akten kopierst. Lade sie herunter und schicke sie mir so schnell wie möglich per E-Mail.«
»Krankenhausakten? Was willst du mit Patientendaten?«, hakte Mad neugierig nach und brachte ihn damit zum Seufzen. Doch die ungewöhnliche Anfrage schien Mad-Dogs Interesse geweckt zu haben, denn im Hintergrund hörte er ihre Finger über die Tastatur fliegen.
»Tut mir leid, aber das geht dich nichts an. Also, machst du es oder ist es zu schwer für dich?«, entgegnete er herausfordernd und konnte sich die Reaktion schon fast bildlich vorstellen.
Tatsächlich klatschten kurz darauf die Finger deutlicher auf die Tastatur, hämmerten förmlich darauf ein. Das Geräusch vermischte sich mit einem wütenden Schnauben. Vor seinem inneren Auge sah er, wie die dunkelhaarige Hackerin mit den wilden, kurzen Haaren und den bunten Strähnen sich auf die Lippe biss und versuchte, ihren Ärger über seine Worte zu verbergen.
»Ich darf doch sehr bitten«, zischte sie schließlich nach einigen Momenten des Schweigens. »Welches Krankenhaus, welche Patientenakten? Du musst mir schon ein bisschen mehr geben.«
Triumphierend stahl sich ein breites, selbstzufriedenes Lächeln auf die Lippen des Privatdetektivs.
»PeaceHealth Harbor Medical Center«, antwortete er jetzt. Eine Hand wusch die andere, das wusste er besser als manch anderer. »Die Namen sind Kaylen Conner und Liam Conner. Schick mir alles, was du finden kannst.« Er zögerte kurz, dann fügte er hinzu: »Wenn es Polizeiberichte zu den Akten gibt oder irgendwelche Berichte an andere Stellen, auch die.«
Ein Zischen ging durch das Telefon. »Hört sich nach einer interessanten Geschichte an. Aber wer wüsste besser als ich, dass man seine Nase nicht tiefer als nötig in die Angelegenheiten anderer Leute hineinstecken sollte.« Wieder klickte es. »Also, das geht klar. Ach, und Ryker? Das ist das letzte Mal, dass ich dir helfe. Ich will, dass du dich nie wieder bei mir meldest, nur damit das ein für alle Mal klar ist.«
Sein Grinsen wurde noch breiter.
»Danke, Mad-Dog, du bist ein Schatz«, neckte er sie und ließ den Hörer sinken, ohne auf den Rest ihrer Worte einzugehen. Er hörte seinen Namen aus dem Lautsprecher wie das Bellen eines wütenden Hundes und wusste, dass sie zweifellos vor Wut in die Leitung schrie. Sie hasste es, wenn er so mit ihr sprach. Aber es war ihm egal, er legte auf.
Ihre Beziehung hatte nur auf einer Grundlage basiert: Gefallen. Manche davon nutzten sich nicht so schnell ab wie andere. Aber dieses Mal sollte es wirklich sein letzter Anruf sein.
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