𝑾𝒐𝒓𝒕𝒆 𝒇𝒖𝒆𝒓 𝒎𝒊𝒄𝒉
Seine schweren, schlurfenden Schritte durchbrechen unsanft die Stille, in der ich gefangen war und in der ich nichts anderes gehört habe, als das fortwährende, regelmäßige Geräusch meines eigenen Atems und ein leises Schluchzen, das ich ab und zu von mir gegeben habe.
Im Halbdunkel erkenne ich zunächst nur seine Umrisse, während er mir zielsicher näher kommt.
Eigentlich kommt er gar nicht mir näher, ich bin nicht sein Ziel, sondern die alte, nasse Holzbank, auf der ich schon seit ein paar Minuten zitternd sitze und wie hypnotisiert vor mich hinstarre. Hypnotisiert von meinen Gedanken und Gefühlen, als könnte ich sie vor mir schweben sehen und wenn ich nur die Hand ausstrecke, dann würde ich sie greifen können.
Mein Zeitgefühl hatte mich schon nach den ersten zwei Minuten im Stich gelassen und seitdem hat sich niemand sonst dieser Bank genähert, außer einer kleinen, pechschwarzen Krähe mit zerzaustem Gefieder, die auf der Suche nach Würmern stur in den Boden gepickt hatte, bis sie durch das entfernte Bellen eines Hundes aufgeschreckt davonflog.
Seitdem nichts.
Und jetzt er.
Er hat die Parkbank mittlerweile schon fast erreicht und jetzt kann ich ihn auch deutlicher erkennen.
Er ist groß, macht weite Schritte, bei denen er jedoch nicht richtig die Füße hebt, weshalb seine Schuhe jedes Mal über den Kies schleifen und ein knirschendes Geräusch erzeugen.
Seine Jeans ist zerrissen, er trägt eine schwarze Motorradjacke und seine Haare sind, bis auf einige dunkelbraune Strähnen, unter einer grauen Wollmütze versteckt.
Erst als der den Kopf ganz leicht schräg legt und mich mit seinen Augen zu fixieren scheint, wird mir bewusst, dass ich ihn etwas zu lange beobachte.
Ich wende meinen Blick eben in dem Moment von ihm ab, in dem er genau vor der Bank stehen bleibt, die Regentropfen, die sich auf dem dunklen Holz angesammelt haben, kurz ansieht und sich dann an neben mich setzt.
Unbewusst rücke ich ein Stück von ihm weg und wieder kehrt Stille ein, die jedoch nicht lange andauert.
"Hey.", sagt er. Seine Stimme ist tief, etwas rau.
"Hey.", entgegne ich leise und sehe ihn erneut an.
Er wirkt nicht wie jemand, der einfach so eine Konversation mit einem Fremden beginnt. Es ist eher das Gegenteil, was mich leicht verwirrt, aber auch in einer Art fasziniert, dass ich völlig vergessen, warum ich eigentlich hier bin.
Er blickt zu mir rüber und ich glaube, ein Lächeln auf seinen hellroten Lippen zu erkennen. Wenn auch nur für eine Sekunde.
"Wie heißt du?"
"Was?", frage ich. Dumme Frage. Schließlich habe ich ihn verstanden, aber noch immer bringt er mich aus dem Konzept. Er ist das Fragezeichen, eine Unbekannte Variable und doch kann ich nun nicht mehr aufhören, ihn anzusehen.
Er muss etwa in meinem Alter sein, aber seine Augen wirken alt, wie die des alten Mannes, der Tag für Tag in der Straßenbahn sitzt und die Leute beobachtet, die ein- und aussteigen.
"Bist du etwa schwerhörig?", witzelt er und diesmal zeichnet sich tatsächlich ein Lächeln in seinen Gesichtszügen ab.
"Nein."
"Na dann. Wie heißt du?", fragt er erneut.
"Beth.", sage ich zögernd. "Und du?"
Sein Lächeln verschwindet und er sieht wieder nach vorn auf die alten knorrigen Eichen, die in der Dunkelheit fast gespenstisch wirken und auf meine Seite der Bank einen Schatten werfen.
"Ist unwichtig."
Lässig lehnt er sich gegen die Lehne der Holzbank, als würde er auf einer Couch sitzen und kramt in seiner Jackentasche herum.
"Warum weinst du?", fragt er und zieht schließlich ein kleines blaues Plastikfeuerzeug aus der Tasche, beginnt aber sofort damit, in der anderen Jackentasche weiter zu wühlen.
Mit dem Handrücken wische ich mir die übrigen Tränen von den geröteten Wangen. "Ich weine nicht."
"Na klar."
Beschämt sehe ich zu Boden.
"Auch eine?"
Er hält mir eine Schachtel Zigaretten hin und sieht mich abwartend an.
Ich zögere und schüttel dann mit dem Kopf.
"Nein, danke."
"Wie du meinst.", sagt er, während er sich eine in den Mund steckt und sie mit dem Feuerzeug anzündet.
"Sicher, dass du nicht darüber reden möchtest?"
Zwischen seinen Lippen tritt weißer Rauch hervor, wenn er redet, so wie Atem, der in der kühlen Luft verdunstet. Erneut zieht er an seiner Zigarette.
Meine Hände zittern. Mein Herz klopft.
"Ich...meine Eltern haben sich schon wieder gestritten. Das passiert in letzter Zeit oft. Ich will einfach nicht, dass sie sich trennen.", erzähle ich ihm schließlich und rutsche nervös auf der Bank hin und her.
Darüber zu reden weckt Erinnerungen und ich würde am liebsten wieder weinen, wäre da nicht dieser namenlose Junge, der auf der anderen Seite der Bank sitzt und mich nun nachdenklich ansieht.
"Hm.", macht er.
Hm. Das ist genauso eine dumme Antwort wie "Alles wird wieder gut" oder "Wird schon nicht so schlimm sein".
Ich weiß nicht einmal selbst, was ich als Antwort gerne gehört hätte, vielleicht ja sowas wie "Ich verstehe das" oder "Ich bin für dich da", aber zum einen ist er ein Wildfremder, der raucht und Motorrad fährt und zum anderen kennt er weder meine Eltern, noch mich.
Wie sollte er mich also verstehen?
Wir schweigen, bis er zuende geraucht hat, da ich nicht weiß, was ich noch sagen soll und es ihn vermutlich auch nicht interessiert, denn sonst hätte er sicher etwas anders als "Hm." gesagt.
Er wirft seine Zigarette schließlich auf den nassen Boden vor seinen Füßen, steht auf und will sich gerade zum gehen abwenden, als er sich noch einmal zu mir umdreht und etwas sagt, was mich doch daran Zweifel lässt, ob es ihn interessiert.
"Weißt du Beth, ich glaube in fünf oder zehn Jahren, da wirst du wieder an diese Zeit denken, in den Spiegel sehen und eine Person wiedererkennen, die durch so vieles durch musste und trotzdem noch immer auf beiden Füßen steht."
Und dann geht er, ohne sich noch einmal umzudrehen und lässt mich dort alleine sitzen, zusammen mit seinen Worten, die noch immer in meinem Kopf nachhallen, wie ein Echo.
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