Um nicht mehr ganz so aufzufallen, stelle ich mich an den Rand des Platzes. Aus meiner Jackentasche hole ich mein Handy und schaue nach, ob ich irgendwelche Nachrichten erhalten habe. In meiner Klassengruppe hat der ein oder andere einen Weihnachtsgruß verteilt, aber sonst nichts allzu Besonderes.
Auf einmal tippt mich jemand an meiner Schulter an, weshalb ich leicht erschrecke. Zuerst vermute ich, dass es mein Bruder ist - immerhin macht er seinen Job als kleiner Bruder, mich zu nerven, immer gern und auch gut. Doch entgegen meiner Erwartung blicke ich nicht in sein Gesicht, sondern in das von Tobi.
"Was- Was machst du denn hier?", frage ich etwas verwirrt. Noch dazu ziehen mich seine Augen in ihren Bann, da sich die Lichter der hell leuchtenden Sterne, die über ein Seil über den Häusern schweben, in ihnen spiegeln. Als ich merke, dass ich ihn bereits zu lange anstarre, blinzele ich mehrmals.
"Ich hab dich schon vorhin gesehen und wollte nicht gehen, ohne einmal Hallo gesagt zu haben", erklärt er. "Also hi." Daraufhin muss ich schmunzeln und erwidere seine später gekommene Begrüßung mit einem einfachen "Hey".
"Wie feiert ihr Weihnachten?", möchte ich sofort von dem Jungen wissen, damit keine unangenehme Stille zwischen uns entsteht. Obwohl ich dadurch schon wieder diejenige bin, die das Gespräch lenkt, ist es besser, wie wenn wir uns gegenüberstehen und uns nichts zu sagen haben.
"Wir essen gleich erstmal einen Braten und dann gibt's die Geschenke. Ich hatte eigentlich keine Wünsche, weswegen ich wahrscheinlich Geld bekomme", beantwortet Tobi meine Frage, worauf ich nicke. "Und ihr?"
"Wir feiern ja bei meiner Oma und meinem Opa mit der ganzen Familie. Da essen wir normal immer Schnitzel, dann spiele ich ein bisschen Klarinette und danach dürfen wir unsere Geschenke auspacken", erkläre ich. "Ach, und dann machen wir auch noch Schrottwichteln."
"Cool", kommentiert er und steckt seine Hände in beide Jackentaschen. Es sieht so aus, als ob er noch etwas weiteres sagen wollte, doch er kommt nicht dazu, es auszusprechen, da die Stimme meiner Mutter dazwischenfunkt.
"Janina, kommst du?", ruft sie, weshalb ich mich etwas von Tobi abwende und nach hinten schaue. Dort stehen meine Eltern und mein Bruder beisammen und warten darauf, dass ich mich in Bewegung setze.
"Ich sollte wohl gehen. Ich hab sie heute schon lange genug warten lassen", lache ich kurz, was er mir gleich tut. "Also... Vielleicht sieht man sich ja noch in den Ferien. Wenn nicht, dann auf jeden Fall in der Schule."
"Ja", stimmt er zu, "bis dann." Ich lächle ihm noch ein letztes Mal zu, bevor ich schließlich zu meiner Familie gehe und wir mit dem Auto zu dem Haus meiner Großeltern fahren.
***
Mittlerweile haben wir das Essen, welches unglaublich lecker war, und das Klarinettespielen schon hinter uns und die Kinder meiner Tante und das meiner Patentante warten auf die Erlaubnis, die Geschenke auszupacken. Mike und ich sind natürlich auch ganz gespannt, doch wir zeigen es nicht.
Als mein Opa nun schließlich sagt, dass wir an den Baum gehen dürfen, rasen die Kleinen förmlich auf die Päckchen zu und reißen das Geschenkpapier davon. Ich gehe ganz gemächlich auf meinen Stapel zu und betrachte ihn. Dieses Jahr ist er etwas klein ausgefallen. Natürlich bedeutet das nichts, aber wenn man dann den Stapel meiner Cousine sieht, könnte man schon eifersüchtig werden.
Nachdem ich das Papier vom ersten Päckchen befreit habe, kommt ein Buch zum Vorschein. Da ich eine ziemliche Leseratte bin, freue ich mich sehr darüber. Als nächstes erscheinen neue Ohrringe, die ich auch gebrauchen kann. Und sonst bekomme ich noch ein paar neue Hosen und etwas für die Schule.
Das neue Album von Shawn und der Hoodie sind nicht dabei. Natürlich bin ich froh, dass ich überhaupt etwas bekommen habe, denn in anderen Ländern ist das nicht verständlich. Doch ich habe mir diese beiden Dinge so sehr gewünscht, weshalb ich dementsprechend ziemlich enttäuscht bin. Jedoch lasse ich es mir nicht ansehen.
"Danke für die lieben Geschenke", sage ich deshalb zu meiner Familie und achte darauf, dass die Kleinen, die noch an das Christkind glauben, nichts mitkriegen. Bei deren freudigen Blicken werde ich etwas neidisch.
Na ja, ich sollte nicht darüber nachdenken und mit dem, was im Moment vor mir liegt, glücklich sein. Weil die Schatulle, in der die Ohrringe sich befinden, sehr klein ist und ich Angst habe, sie zu verlieren, beschließe ich, sie in meine Jackentasche zu legen. Also gehe ich hinaus auf den Gang und suche in der Garderobe nach meiner Jacke.
Als ich die Schatulle hineinfallen lasse, fühle ich zu meiner Überraschung noch etwas anderes in der Jackentasche. Meine Augenbrauen zusammenziehend, greife ich danach und stelle fest, dass es ein kleiner Brief ist. Wie kommt der denn dahin?
Die Antwort erhalte ich, als ich den Brief umdrehe und die Worte "Für Janina. Von Tobi" lese. Sofort ist die Enttäuschung wegen der Geschenke verflogen und ein Lächeln breitet sich in meinem Gesicht aus. Tobi hat mir einen Brief geschrieben und ihn mir zukommen lassen. Wahrscheinlich hat er ihn mir vorsichtig in die Tasche gesteckt, während ich mich nach meinen Eltern umgeschaut habe.
Aufgrund meiner Neugier, was er so geschrieben hat, schaue ich mich einmal um, um sicherzustellen, dass mich keiner fragt, was das für ein Zettel ist, und mache den Brief auf. Nachdem ich den Zettel auseinandergefaltet habe, ist folgendes zu lesen:
Hey, Janina!
Zuerst möchte ich dir und deiner Familie frohe Weihnachten wünschen. Ich hoffe, ihr habt schöne Feiertage.
Wahrscheinlich fragst du dich, warum ich jetzt auf einmal mit einem Brief bei dir ankomme. Das liegt daran, dass es mir einfach leichter fällt, als mit dir zu reden. Ich weiß, klingt komisch, ist aber so. Und na ja, ich muss dir etwas sagen.
Seit letzter Zeit fühle ich mich in deiner Anwesenheit irgendwie anders. Ich kann es nicht wirklich beschreiben, aber es ist schön. Manchmal habe ich so ein Kribbeln im Bauch und würde ich mich nicht zusammenreißen, hätte ich ein Dauergrinsen. Ich mag es, bei dir zu sein, und ich glaube, ich empfinde etwas mehr für dich als nur Freundschaft...
Tut mir leid, wenn ich dich jetzt überrumpelt habe, doch ich wollte, dass du die Wahrheit kennst. Vielleicht hab ich damit unsere Freundschaft völlig zerstört, aber ich hoffe natürlich, dass wir weiterhin miteinander reden können.
Tobi
PS: Für den unwahrscheinlichen Fall, dass dir es sogar gleich ergeht, möchte ich dich fragen, ob wir uns vielleicht bald treffen könnten. Du weißt schon, wie ein Date... Würde mich jedenfalls freuen.
Wow, nun bin ich wirklich sprachlos. Tobi und ich haben beide Gefühle füreinander! Es war immer nur ich diejenige, die ein Gespräch angefangen hat, weil er einfach zu schüchtern war. Ich bin ja so froh, dass es nicht aus den Gründen, die ich mir vorhin ausgemacht habe, so war.
Damit er nicht lange auf eine Antwort warten und sich dauernd Gedanken machen muss, hole ich auf der Stelle mein Handy heraus und schreibe ihm: "Wie wäre es in zwei Tagen?" Grinsend stecke ich es wieder weg und mache mich auf den Weg zurück ins Wohnzimmer.
Dort geht es dann ans Schrottwichteln, wobei wir alle nicht aufhören können zu lachen. Mein Opa bekommt nämlich das Puzzle von Lillifee, das ich nun endlich losgeworden bin. Bei mir kommt ein Mäppchen mit Stiften heraus, was ja noch relativ nützlich ist.
Später am Abend, als wir alle Plätzchen essen, wird mir eines klar: Es ist gar nicht so schlimm, dass ich das Album und den Hoodie nicht erhalten habe. Der Brief von Tobi bedeutet mir so unglaublich viel, dass er die beiden Sachen eh übertroffen hätte. Tobi hat mir heute Abend das beste Geschenk überhaupt gemacht,
An Weihnachten geht es nicht um materielle Dinge, denn es ist das Fest der Liebe. An Weihnachten sollte man die Zeit mit seinen Liebsten verbringen und glücklich miteinander sein. Das ist mir jetzt endlich bewusst geworden.
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