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Es ist, als würde all die unterdrückte Panik, der Wahnsinn, jetzt zurück an die Oberfläche kommen und seinen Platz in mir einfordern.
Schwer atmend lasse ich den Kopf zwischen den Schultern hängen und klammere mich immer noch an dem Waschbecken über mir fest. Mein Herz pumpt so heftig, dass mein Sichtfeld verwackelt. Mein Atem hallt laut von den Kacheln vor mir wider und mein Blickfeld zieren bereits schwarze Ränder.
Verdammt, ich bin gerade dem Tod um Haaresbreite von der Schippe gesprungen! Ich hätte da unten sterben können! Denn ich mache mir keine Illusionen: Polls hätte vielleicht noch gezögert, aber Geller definitiv nicht.
In meinem Kopf wirbeln die jüngsten Ereignisse umher, wie ein völlig außer Kontrolle geratener Hurricane. Im Keller finden geheime Operationen statt. Mehrere Ärzte des Krankenhauses sind involviert. Und ich bin mir sicher, dass das nur ein Bruchteil der ganzen Schweinerei ist, den ich da zu sehen bekommen habe.
»Um Himmels Willen!«
Ruckartig fahre ich zu dem Ursprung der Stimme herum, was ich in meinem Zustand definitiv nicht hätte tun sollen – mein Schädel dreht sich, als hätte ich ein Schleudertrauma erlitten. Stöhnend halte ich mir den Kopf und blinzele, bis ich etwas erkennen kann. Dann stöhne ich erneut, diesmal allerdings nicht aufgrund körperlichen Schmerzes.
»Du schon wieder«, grummele ich schwach. Alizée betrachtet mich eingehend, dann kommt sie näher und kniet sich vor mir hin. Ohne die dunkelblauen Augen von mir zu nehmen, schiebt sie sich das feine goldene Brillengestell den Nasenrücken hoch und runzelt die Stirn. »Du hast eine Panikattacke«, stellt sie fest. Ich verneine es nicht.
Ohne dass ich etwas dagegen tun könnte, legt sie mir ihre Hände auf die Schultern und atmet tief ein. Ihre stetigen ruhigen Handbewegungen suggerieren, dass ich mitmachen soll. Widerwillig atme ich gemeinsam mit ihr, ein und wieder aus.
Irgendwann stelle ich überrascht fest, dass es geholfen hat. Ich habe nicht länger das Gefühl, zu ersticken. Auch wenn es mir noch immer scheiße geht und mein Herz viel zu schnell und nervös schlägt.
Sie legt den Kopf schief, sodass das weißblonde Haar ihr in einer glänzenden Kaskade über die Schulter rutscht. »Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, du warst wieder im Keller.« Ihre weiche Stimme klingt, wie immer, komplett ruhig. Ich denke, das ist ein weiterer Aspekt, der zu ihrer unheimlichen Ausstrahlung beiträgt – einfach die Tatsache, dass sie immer ruhig und bestimmt klingt, als wäre sie sich ihrer selbst absolut sicher.
Mein Puls schießt zwar nach wie vor durch die Decke und mein Magen ist ein einziger Eisklumpen, doch langsam geht es mir wieder besser. Deshalb bin ich nun in der Lage, von ihr wegzurutschen und richte mich auf. Alizee kniet noch immer und legt unbeeindruckt den Kopf in den Nacken, ihre Iriden zwei sturmlose Ozeane. Wut kocht in mir hoch.
»Was, um alles in der Welt, verstehst du nicht an ›Halte dich von mir fern‹, du Verrückte! Lass mich einfach in Ruhe!«, rufe ich.
Keine Ahnung, was für eine Reaktion ich von ihr erwartet habe. Doch diese hier ist es gewiss nicht: Sie hält mir ihre offene Hand hin. Perplex starre ich abwechselnd ihre feinen Finger und das seelenruhige Gesicht an. »Nimm meine Hand, oder lass es sein. Tu, was du willst, mir ist es gleich. Ich mag vielleicht verrückt sein, aber ich bin nicht dein Feind. Du bist eine Kämpferin, Uma, das weiß ich aus erster Hand. Wenn du willst, kämpfe ich an deiner Seite. Wenn nicht, ist das auch in Ordnung. Entgegen deiner Annahme renne ich dir nicht hinterher, ich habe Besseres zu tun.«
Ihre Hand schwebt immer noch zwischen uns in der Luft, ein Angebot, welches ich im wahrsten Sinne des Wortes nur ergreifen müsste. Doch uns beide scheint es nicht überraschen, dass ich es nicht tue. Alizée zieht ihre Hand zurück, nickt mir ein letztes Mal zu, dann verschwindet sie ebenso lautlos aus der Umkleide, wie sie hineingelangt ist.
Den Rest des Tages überstehe ich einigermaßen reibungslos. Ich beglückwünsche mich für die Entscheidung, in die Pädiatrie gegangen zu sein, wo es in der Tat friedlicher war, als an allen anderen Orten im Krankenhaus, an denen ich mich zuvor aufgehalten habe. Besonders wohlgefühlt habe ich mich bei den Neugeborenen – nicht, dass ich selbst irgendwann einmal vorhabe, so ein schreiendes Paket herauszupressen. Trotzdem muss ich gestehen, dass mir der Gedanke gefällt, von neuem Leben umgeben zu sein. Möglich dass es daran liegt, dass ich mich manchmal ein bisschen tot fühle.
Völlig erschlagen und gleichzeitig höllisch nervös schlurfe ich den Flur entlang und bete, dass Martin mir nicht über den Weg läuft. Seinen Anblick könnte ich jetzt einfach nicht ertragen. Allein bei dem Wissen darum, dass er nicht so unschuldig ist, wie er bisher immer getan hat, dreht sich mir der Magen um.
Ohne weitere Zwischenfälle gelange ich endlich nach draußen. Sobald die Türen sich hinter mir schließen, gebe ich meinen kontrollierten Stechschritt auf und beginne zu rennen. Ich umklammere den Beutel mit meinen Habseligkeiten unter der Achsel und sprinte davon, bloß weg von hier.
Es ist Abend, sodass mir kaum Menschen über den Weg laufen. Die, die es doch tun, starren mich natürlich befremdet an. In Bonding Hills wird schließlich nicht gerannt, ohne dass es einen Grund hat, für den es sich lohnt, die Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. Doch in diesem Moment habe ich keinen Kopf für die Klatschsucht der Leute. Mir ist es schlicht egal.
Als ich schließlich schwer atmend die abgelegenen Maisfelder erreiche, durch die der mir nur allzu bekannte Pfad mit den immer präsenten Traktorspuren führt, verlassen mich meine Kräfte schließlich. Keuchend stütze ich mich auf meinen Knien ab und versuche, wieder zu Atem zu kommen. Bunte Punkte tanzen vor meinen Augen und meine Lunge brennt. Ungeduldig warte ich ab, bis es mir wieder gut genug geht, dass ich weitermachen kann.
Fürs Rennen reicht meine Kraft nicht mehr, also jogge ich, meine Angst vor dieser Strecke beiseite schiebend. Heute habe ich wahre Angst kennengelernt. Die Furcht vor irgendwem, der sich womöglich in den dichten Feldern verstecken und nur auf mich warten könnte, erscheint mir in diesem Moment nahezu lächerlich.
Dennoch stoße ich erleichtert einen Schwall Luft aus, sobald ich den Feldweg hinter mir gelassen und den Schotterweg zu Hayes' Haus betreten habe. Der Kies spritzt auf, als ich auf den letzten paar Metern zu seiner Haustür beschleunige.
Sobald ich sie erreicht habe, lehne ich mich keuchend an die Außenwand und klingele Sturm. Bitte, lass ihn zu Hause sein!
Kurz später höre ich es klicken und die Tür wird aufgerissen. Augenblicklich richte ich mich auf und sehe mich Hayes gegenüber... Hayes mit nichts als einer karierten Pyjama-Stoffhose bekleidet. Der Anblick seines nackten, mit vereinzelten blassen Sommersprossen gespickten Oberkörpers sollte mich wirklich nicht so aus dem Konzept bringen, vor allem in Anbetracht der Situation, in welcher ich mich gerade befinde. Trotzdem kann ich den Blick mehrere Sekunden nicht von der leicht gebräunten, glatten Haut losreißen, unter der sich die Muskelstränge deutlich abzeichnen.
»Uma, was ist passiert?«, reißt mich seine drängende Stimme schließlich wieder aus meiner Starre. Blinzelnd schrecke ich hoch. »Es... ist wichtig. Ich muss mit dir... reden«, japse ich atemlos. Er runzelt die Stirn. »Bist du hierher gerannt? Hat dich jemand verfolgt?« Unwirsch schiebt er mich nach drinnen und scannt die Umgebung vor der Tür.
»Nicht verfolgt«, nuschele ich kurz angebunden, was ihn zwar ein wenig zu erleichtern scheint, doch die Anspannung nicht ganz aus seiner Haltung treibt. Nach einem letzten misstrauischen Blick nach draußen schließt er die Tür hinter uns ab.
»Hayes, heute im Krankenha –«
»Komm erstmal wieder zu Atem, Uma«, unterbricht er mich und dirigiert mich bestimmt zur Küche, wo ich mich auf meinen angestammten Platz am Tisch beim Fenster fallen lasse und schwer atmend den Kopf in die Hände stütze. Seine Hand, die dabei immer noch auf meiner Schulter liegt, hilft mir nicht unbedingt dabei, ruhiger zu werden. Und als auch noch seine zweite Hand dazukommt und beginnt, meinen Nacken zu massieren, stockt mein Atem vollends.
»Was tust du da?«, zische ich. Kurz stoppen seine Finger in der Bewegung. Dann macht er weiter und murmelt hinter mir: »Du bist vollkommen verspannt.«
»Und du bist vollkommen verrückt geworden!«
Mit einem leisen Lachen nimmt er schließlich seine Hände von meinem Rücken. »Ist ja gut, ich bin schon weg.« Er entfernt sich von mir und nimmt auf dem Stuhl gegenüber meinem Platz. Als seine Augen meine finden, wird er wieder ernst. »Warum bist du hier?« Ich zögere.
›Mein Gott, sag's ihm einfach!‹, schreie ich mich selbst an. Doch dann halte ich inne. Seit wann habe ich bitte Angst vor Hayes O'Connor?! Die Antwort ist simpel: Seit mir wichtig geworden ist, was er von mir denkt. Seit ich ihn mag.
Verdammt, ich wusste von Anfang an, dass dieser Mann nichts als Ärger für mich bedeutet.
Er seufzt tief, als ich ihm immer noch einer Antwort schuldig bleibe. »Uma?« Ich schlucke und weiche seinem Blick aus. Mir ist nie aufgefallen, wie mein Name aus seinem Mund klingt. Der irische Akzent lässt ihn ungewöhnlich klingen... Aber es ist nicht nur das. Sondern auch die Art und Weise, wie er ihn sagt.
Plötzlich spüre ich die federleichte Berührung seines Zeigefingers an meinem Kinn. Zu perplex um mich abzuwenden, lasse ich es zu, dass er mein Gesicht zu sich dreht. Seine Onyx-schwarzen Augen halten meine fest. Die schwache Deckenleuchte spiegelt sich in seiner Iris und malt kleine Sterne in die Dunkelheit.
»Was ist los?« Er flüstert beinahe. Immer noch ist da diese Hemmung in mir, ihm zu sagen, was heute passiert ist. Dass das wirklich bescheuert ist, ist mir mehr als bewusst. Schließlich bin ich zu ihm gerannt, um mit ihm darüber zu sprechen, so dringend war es für mich. Und jetzt will ich plötzlich kneifen? Reiß dich zusammen, Uma!
Also straffe ich die Schultern und sage ruhig: »Ich war heute im Keller. Und ich konnte Beweismaterial sicherstellen.« Den letzten Satz habe ich zugegebenermaßen angefügt in der Hoffnung, ihn dadurch womöglich zu besänftigen.
Hayes' Miene ist steinern, sein Kiefer angespannt, der Blick auf einen Punkt über meinem Kopf gerichtet, kurz: Ich kann in diesem Moment absolut nicht einschätzen, was in ihm vorgeht. Doch sobald seine Augen, diese dunklen und doch brennend heißen Augen, auf meine treffen, ist es glasklar.
Er ist außer sich vor Wut.
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