36
Für endlose Sekunden, die sich kaugummiartig ziehen, starre ich sie an. Worauf ich genau warte, weiß ich nicht. Vermutlich die Konfetti-Tröte und ein fettes ›HA, VERARSCHT!‹ von ihrer Seite – doch nichts davon geschieht.
Das Lachen, welches mir jetzt über die Lippen schlüpft, klingt selbst in meinen eigenen Ohren schrill. Alizée zuckt allerdings nicht einmal mit der Wimper.
Ich verstumme schließlich und tippe mir an die Stirn. »Also, entweder nimmst du mich auf den Arm, oder du willst mir Angst machen.« Ich beuge mich zu ihr herunter und flüstere drohend: »Bei letzterem bist du eindeutig an der falschen Adresse.«
Die blonde Schönheit schluckt hart, weicht jedoch nicht zurück. Mit fester Stimme erwidert sie: »Nichts davon trifft zu. Es ist einfach nur die Wahrheit. Das schwöre ich.«
Langsam bringe ich wieder Abstand zwischen uns, lasse sie dabei jedoch keine Sekunde aus den Augen. Sagt sie die Wahrheit? Oder lügt sie mich an? Verdammt, ich kann es nicht genau sagen...
Ich wünschte, Hayes wäre hier bei mir. Er wüsste bestimmt, was von ihren Worten und Alizée im Allgemeinen zu halten ist.
Sie streicht sich in einer entschlossen wirkenden Bewegung die Haare hinter die Ohren und legt anschließend beide Hände flach auf ihre Oberschenkel.
»Uma, bitte hör dir an, was ich zu sagen habe. Danach werde ich dich nicht aufhalten, wenn du gehen und nie wieder was von mir wissen willst.«
Ich verschränke die Arme und betrachte sie aus zusammengekniffenen Augen. Ihre Körpersprache scheint Ruhe und Entschlossenheit auszustrahlen, obgleich sie trotzdem nervös wirkt.
Ich kann in diesem Moment fast schon Hayes' Stimme in meinem Kopf hören, die mir rät, sie anzuhören. Informationen sind wertvoll und hierbei habe ich nichts zu verlieren – sofern ich mich nicht verwirren lasse und einen klaren Kopf behalte.
Also nicke ich knapp, woraufhin Alizée dieses Nicken ebenso knapp erwidert. Noch einmal legt sie den Kopf schief und lauscht auf eventuelle Bibliotheksbesucher in der Nähe, für deren Ohren ihre Worte nicht bestimmt wären.
Dann spricht sie: »Ich weiß, wie verrückt das alles klingt, was ich dir erzählt habe. Glaub mir, ich weiß es sogar sehr genau. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass es wahr ist. Bisher haben sich alle meine Visionen in irgendeiner Form bewahrheitet.«
»Was soll das heißen, ›in irgendeiner Form‹?«
»Damit meine ich, dass nicht immer alles eins zu eins so passiert, wie ich es sehe. Manchmal ja, manchmal nein. Aber eins steht fest: die Dinge, die sich mir zeigen, sind immer – ausnahmslos immer – ein Indikator für etwas, meistens eine Warnung.« Sie holt tief Luft.
»Ich habe gesehen, wie du in den Fahrstuhl gestiegen bist. Ich habe gesehen, wie du den Keller betreten hast, argwöhnisch. Ich habe gesehen, wie sich jemand von hinten an dich herangeschlichen und dir ein Tuch vor den Mund gepresst hat. Und am Ende habe ich dein blasses Gesicht gesehen, wie es hinter dem Reißverschluss eines Leichensacks verschwindet.«
Mein Magen hebt sich, doch ich widerstehe dem Impuls, mir die Hand auf den Mund zu pressen.
»Also, hätte das nicht einmal genau so passieren müssen?«, frage ich hart. Alizée nickt.
»Richtig. Weißt du... ich habe oft Visionen von dem Tod. Niemals mein eigener. Immer der von anderen. Meistens handelt es sich um Menschen, die ich in meinem Leben nie zuvor gesehen habe. Ich war sechzehn Jahre alt, als sich diese Gabe materialisiert hat. Die Pubertät lag seit Kurzem hinter mir und ich war nun eine Frau.«
Ich habe Fragen, sehr viele Fragen. Doch irgendwas sagt mir, dass es jetzt nicht schlau wäre, sie zu unterbrechen.
»Menschen begannen zu sterben, direkt vor meinen inneren Augen. Ständig. Tagsüber, in der Nacht. Ich bin in einem spirituellen Haushalt voller Frauen mit ähnlichen Gaben großgeworden, jedoch konnte mir keine helfen. Noch nie hatten sie eine so starke Ausprägung bei einem Familienmitglied erlebt. Und vor allem nicht so unglaublich viele Todesvisionen. Sie wussten nicht damit umzugehen, versuchten natürlich trotzdem ihr Bestes, um mir zu helfen.«
Wort für Wort verlässt ihren Mund, schwebt in der Luft zwischen uns und lässt sich in Form von Sorgenfalten auf ihrem Gesicht nieder. Alizée erzählt mir, wie sie in der Anfangsphase noch ständig vor dem Fernseher geklebt und die Nachrichten verfolgt hat, voller Angst, dass sich eine ihrer Visionen bewahrheitet hat.
Manchmal geschah dies. In der Zeitung erkannte sie ein Gesicht, im Fernseher flimmerte ihr ein nur allzu bekannter Tatort entgegen.
»Es hat mich zerstört. Jedes einzelne Mal. Ich gab mir die Schuld, da ich keinen Weg gefunden habe, sie vorzuwarnen und damit zu retten. Irgendwann erkannte ich, dass das schlicht nicht in meiner Macht liegt. Diese Erkenntnis hat unglaublich lange gebraucht, bis sie zu mir durchgedrungen ist. Manchmal zeigten sich mir die Namen der Opfer im Traum einfach nicht und ich lernte, damit zu leben. Doch es gab andere Male, bei denen es doch so war – wie bei dir, Uma. Ich sah dich, den Keller, kannte deinen Namen.«
Mit jeder Sekunde, in der sie vor mir sitzt, lichtet sich der Schleier, der auf ihr liegt und sie so undurchschaubar für mich macht. Langsam, langsam setzen sich die Fragmente zusammen und tragen zu dem Bild von ihr bei, welches ich mir zu Anfang partout nicht erschließen konnte. Selbst jetzt ist dies nicht der Fall.
Doch mir wird nun klar, was mich rein instinktiv vor Alizée hat zurückschrecken lassen. Da ist eine so unendlich tiefe Traurigkeit in ihr, dass sie nicht allein von ihr stammen kann. Es ist fast so, als wäre sie ein breiter Fluss, der von vielen kleineren gespeist wird.
Von all diesen Gedanken lasse ich mir jedoch nichts anmerken. Ich traue ihr trotzdem noch nicht vollständig über den Weg und weiß im Allgemeinen noch nicht, was ich von dieser Gruselstunde hier halten soll.
»Sagtest du nicht vorhin, dass deine Visionen sich nicht immer eins zu eins bewahrheiten? Hätte es also nicht sein können, dass das auch bei mir der Fall ist?«, will ich jetzt wissen. Doch Alizée schüttelt den Kopf.
»Da der Teil, bevor du angegriffen wurdest, genau so passiert ist, halte ich das eher für unwahrscheinlich.«
»Das heißt, deiner Auffassung nach hätte ich heute tatsächlich dran glauben müssen?«
»Ja.«
Allein die Vorstellung macht mich wütend. Ich habe dem Tod schon so oft ein Schnippchen geschlagen: Ich wurde vergewaltigt, habe es anschließend trotzdem irgendwie hingekriegt, jeden Morgen aufzustehen; ich wurde gefangen gehalten und mein Schädel wäre währenddessen dank einer Kugel beinahe wie eine Wassermelone explodiert... trotzdem stehe ich noch hier – und da soll ich einfach von irgendeinem durchgeknallten Idioten im Leichenkeller abgemurkst werden?! Scheiße, nein!
»Ich kann verstehen, wenn du mir nicht glauben magst, Uma. Wir zwei müssen auch nie wieder ein Wort miteinander wechseln, wenn du das nicht möchtest. Ich habe meine Pflicht getan und dir aus Respekt meine Geschichte erzählt. Damit du verstehen kannst, warum ich dich wie eine Irre aus dem Keller gezogen habe.«
Ich fasse einen Entschluss: nämlich den, dass ich keinen Entschluss fassen werde. Bevor ich irgendwas tue, muss ich mich mit Hayes beraten. Er ist gewissermaßen der Headmaster von diesem ganzen Undercover-Zirkus, also muss auch er mir sagen, wie ich weiterhin vorgehen soll.
Außerdem vertraue ich seinen Instinkten. Nicht ihm, wohlgemerkt.
Ich räuspere mich und sage: »Pass auf: Das waren ganz schön viele Infos, die du mir da gegeben hast. Ich muss das alles noch verdauen... zusammen mit der Möglichkeit, heute ganz knapp dem Sensenmann entkommen zu sein.«
Sie nickt bedächtig, sodass lange weißblonde Strähnen ihr Gesicht umrahmen.
»Das verstehe ich. Lass dir Zeit. Wenn du noch Fragen haben solltest, scheue dich nicht davor, auf mich zuzukommen.«
Ohne ein weiteres Wort schiebt sie sich an mir vorbei und geht. Ich sehe ihrer immer kleiner werdenden Gestalt hinterher, bis sie den Gang verlässt, scharf nach links abbiegt und aus meinem Sichtfeld verschwindet.
Meine Worte an sie waren keine Lüge. Ich weiß tatsächlich nicht, was ich von ihr und allem, was sie mir erzählt hat, halten soll und muss es verdauen. Einerseits klingt ihre Story einfach nur verrückt.
Andererseits sind in Bonding Hills schon verrücktere Dinge geschehen.
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