32
Hayes wartet bis ich die Tür hinter mir geschlossen habe. Durch eines der schmalen länglichen Fenster neben der Garderobe sehe ich, wie er noch eine Weile in der Auffahrt steht und mit undefinierbarem Gesichtsausdruck die Fassade anstarrt. Irgendwann dreht er sich schließlich um und geht.
Ich will schon ohne weiteres die Treppen zu meinem Zimmer hochgehen, da halte ich inne und rufe in Richtung Küche: »Bin wieder da.« Das Gespräch zwischen meiner Mutter und meinem Vater stoppt. Doch bevor beide auf die Idee kommen könnten zu mir herauszukommen, sprinte ich nach oben und trippele über den Marmorboden zu meiner Türschwelle.
So intensiv die Zusammenarbeit mit Hayes gestern Nacht und heute Morgen auch war, ist unsere Verabschiedung kühl und kurz wie sonst auch gewesen. Aus irgendeinem Grund beruhigt mich dieser Umstand. Wir stecken in dieser ›Mission‹ unter einer Decke und haben einen Weg gefunden, miteinander klarzukommen, ohne uns nonstop anzuschnauzen – aber das war's dann auch.
Genervt kicke ich mir die Stiefel von den Füßen und ziehe mich bis auf die Unterwäsche aus. Gerädert schlüpfe ich unter meine kühle Decke und schließe die Augen. Mein Körper fordert die Stunden ein, die er an Schlaf missen musste... und das tut er sehr hartnäckig. Noch während ich daran denke, wie mein weiteres Vorgehen mit Martin aussehen wird, gleite ich in einen tiefen Schlaf.
»Uma. Du weißt genau, dass es so enden wird.«
Ich fühle eine starke Hand mit feingliedrigen Fingern meinen Nacken entlang streichen. Unwillkürlich erschauere ich. Ein mir nur zu bekannter herber Geruch steigt mir in die Nase und vernebelt meiner Sinne.
»Wie wird es enden?«, murmle ich und versuche mir dabei nicht anmerken zu lassen, was Hayes' Berührung in mir auslöst.
»So.«
Plötzlich spüre ich, wie kaltes Metall zwischen meine Rippen gleitet.
Mit rasendem Herzen schrecke ich aus dem Schlaf hoch. Ich starre in das bläuliche Licht des späten Nachmittags, während mein Puls mir in den Ohren rauscht.
Anstatt, dass meine bescheuerten Albträume ein Ende nehmen, werden es immer mehr. Vielleicht beginne ich sogar irgendwann mich an sie zu gewöhnen? Das wäre wirklich sehr praktisch, auch, wenn ich das nicht glaube.
Und, was zur Hölle hat es immer mit diesen Träumen von Hayes und dem Tod auf sich?! Doch noch viel wichtiger: Warum suggeriert mir mein Unterbewusstsein, dass ich es genieße von ihm berührt zu werden? Das ist doch Bullshit.
Obwohl ich gerade mehr als zehn Stunden geschlafen habe, fühle ich mich überhaupt nicht ausgeruht, im Gegenteil. Doch trotzdem bin ich gleichzeitig nicht müde genug um wieder einschlafen zu können.
Grummelnd rappele ich mich auf und schlurfe in die Küche zum Kaffeeautomaten. Meine Eltern finde ich dort nicht vor. Vermutlich sind sie auf der Veranda und trinken kühlen Lillet, oder etwas in der Art.
Mit einer Tasse tiefschwarzem Kaffees lasse ich mich in einer relativ freien Interpretation des Schneidersitzes auf meinem weichen Teppich nieder. Mit den Augen auf Halbmast trinke ich in kleinen Schlucken von der heißen Flüssigkeit bis ich spüre, wie das Koffein in meinen Kreislauf tritt.
Mit einem tiefen Seufzer lege ich meinen Kopf in den Nacken und lasse ihn kreisen, woraufhin es zwei mal laut knackst.
Als ich also endlich wieder vollständig im Land der Lebenden angekommen bin, wähle ich Martins Kontakt an, da mir gerade eingefallen ist, da er um diese Zeit für gewöhnlich Pause hat.
Es klingelt ein Mal, bis er rangeht. »Uma, wie schön! Alles klar bei dir?«
»Ja, passt. Selber?«
»Gut, gut... was machst du grad?«
»Mit dir telefonieren.«
»Witzig wie immer«, lacht er und ich verdrehe die Augen. »Ich bin ungefähr so witzig wie ein Stein.«
»Ja, genau deshalb muss ich ja lachen!«
»Martin, manchmal bist du schon echt blöd.«
Ein schmerzerfülltes Zischen dringt an mein Ohr. »Autsch, das hat gesessen.«
»Hoffentlich gescheit.«
»Das versichere ich dir!«, ruft er mit einem Grinsen in der Stimme.
Ich schlucke kurz und lege mir die Worte zurecht, die ich jetzt sagen will.
Hayes und ich haben gestern (beziehungsweise heute) nicht zum ersten Mal über verschiedene Möglichkeiten gesprochen, mich in das Krankenhaus zu schleusen. Letzten Endes kamen wir beide zu dem Schluss, dass es das Beste wäre, ich versuche einen Praktikumsplatz zu ergattern.
»Also, Martin... ich habe schon seit drei Jahren mein Abitur. Bisher kam ich aus... privaten Gründen nicht dazu herauszufinden, was für mich interessant sein könnte. Berufs- oder studientechnisch meine ich. Wäre es irgendwie möglich, dass ich ein Praktikum im Krankenhaus mache?«
Er antwortet nicht sofort. Schließlich räuspert er sich und sagt: »Ich denke, wir kriegen das hin. Wann könntest du anfangen?«
»Eigentlich egal.«
»In einer Woche?«
»Klingt gut.«
»Super, dann treffen wir beide uns nochmal bevor ich die ganzen Formalitäten für dich erledige und ich erkläre dir, was auf dich zukommt. Im Notfall kannst du so immer noch einen Rückzieher machen.«
»Rückzieher? Das gibt's nicht in meinem Wortschatz.«
Martin lacht. »Alles andere hätte mich auch gewundert. Aber sicher ist sicher. Du willst ja bestimmt vorher wissen wie sich das alles gestalten wird, richtig?«
»Also schön, dann machen wir's so«, grummele ich. »Danke«, schiebe ich noch hinterher.
»Natürlich, Uma. Du bist mir mittlerweile eine gute Freundin geworden und ich helfe gern, wenn ich kann... okay, ich schätze, ich kann im wahrsten Sinne des Wortes nicht anders. Aber trotzdem! Ich mag dich.«
Mit gerunzelter Stirn starte ich auf den Teppich vor mir. Martin ist doch nicht nervös...?
Als ich daraufhin nichts erwidere, sagt er stockend: »Gut, dann – verabschiede ich mich mal. Meine Pause ist gleich vorbei und ich muss zur Visite.«
»Tschüss. Und danke nochmal.«
»Mach's gut! Immer wieder gern.«
Eine Weile lausche ich noch nachdenklich dem Freizeichen, dann sperre ich mein Handy und lege es weg.
Ich beschließe, diese Neuigkeit gleich mit dem Bürgermeister zu teilen. In letzter Zeit telefoniere ich mehr als in meinem gesamten bisherigen Leben.
»Uma«, sagt er in dem üblichen irischen Singsang.
»Hayes«, imitiere ich seinen Tonfall. Ein Schnauben dringt an meine Ohren. »Das war der schlechteste irische Akzent, den ich jemals gehört habe.«
»Das lässt sich bestimmt noch toppen. Willst du ganze Sätze? Das lässt sich bestimmt einrichten«, sage ich trocken.
»Gott bewahre, nein!«
»Schade. Du verpasst definitiv etwas.«
»Und das ist auch verdammt gut so.«
Einige Sekunden herrscht Stille. Schließlich sage ich: »Also, zum Geschäft: Du hast die neue Praktikantin des Bonding Hills Hospitals an der Strippe.«
»Das ist äußerst günstig. Wann fängst du an?«
»In einer Woche.«
»Perfekt. So haben wir noch genug Zeit, uns zu besprechen.«
Aus irgendeinem Grund widerstrebt mir die Idee, erneut mit Hayes allein zu sein. Ob es an meinem Traum liegt, in dem er mir wortwörtlich ein Messer in den Rücken gerammt hat, kann ich nicht genau sagen. Irgendwie gefällt mir die Idee nicht, dass er jetzt zu dem einzigen Menschen gehört (außer Dave und seinem hirnamputierten Freund), der davon weiß, was in jener Nacht in diesem Auto geschehen ist. Es macht mich verwundbar. Und ich weiß nicht ob ich schon dazu bereit bin, dies vor Hayes zu sein. Ich brauche Distanz.
Deshalb sage ich jetzt: »Ich weiß nicht, ob das wirklich notwendig ist. Alles Wichtige haben wir doch gestern erst besprochen.«
»Ich finde, es ist sogar sehr wichtig. Uma, wir arbeiten eng zusammen. Mir ist klar, dass dir das vielleicht nicht immer in den Kram passt und ich auch nicht zu deinen Lieblingsmenschen gehöre. Aber es geht nun mal nicht anders. Wenn all das hier vorbei ist, geht jeder seiner Wege, versprochen.«
Es ist mittlerweile nicht einmal mehr so, dass ich ihn verabscheue. Irgendwie mag ich ihn sogar auf eine verdrehte Art und Weise. Vielleicht ist auch genau das das Problem... ich weiß es nicht.
»Uma, ist es wegen dem was du mir erzählt hast? Wenn ja, sei unbesorgt. Persönliches behandle ich stets mit Respekt.«
»Das weiß ich zu schätzen«, entgegne ich unverbindlich, was ihn allerdings nicht sonderlich zufriedenstellen zu scheint. »Okay, Herr Bürgermeister, ich lege jetzt auf. Tschüss!«
»Uma, um das Treffen werden wir nicht herumko –«
Den Rest höre ich nicht mehr. Prompt gibt mein Handy ein helles ›Ping‹ von sich.
›Haben Sie mich gerade allen Ernstes weggedrückt?!‹
Ich lasse die Textnachricht unkommentiert und werfe mein Handy auf das Bett.
Hayes O'Connors und meine Interaktionen werden sich von nun an aufs Minimum beschränken. Ich habe ihn schon viel zu weit in mein Leben gelassen.
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