29
Am darauffolgenden Tag nehme ich immer wieder ein Buch in die Hand, nur um denselben Absatz an die fünfzig Mal zu lesen, ohne ein einziges Wort davon zu verstehen. Meine Fähigkeit, mich zu konzentrieren, geht gegen null und ich bin mir ziemlich sicher, dass es etwas mit heute Abend zu tun hat.
Das Treffen mit Hayes. Bei ihm zu Hause.
Ehrlich gesagt war ich nie oft in der Gegend, in der sein Haus steht, da es außerhalb bei den Maisfeldern ist. Ich meine mich zu erinnern, dass es normale kleine Häuser sind, die man dort vorfindet – weder besonders schick, noch sehr ärmlich. Einfach... normal.
Ich muss gestehen, dass ich automatisch davon ausgegangen bin, er würde in einem richtig schmucken Gebäude leben. Seine Kleidung lässt diesen Schluss jedenfalls zu. Aber es scheint als hätte ich mich in der Hinsicht getäuscht. Dieser Mann ist vielschichtig, so viel durfte ich bereits feststellen.
So wenig Interesse ich auch daran haben mag, Zeit mit ihm zu verbringen, so neugierig bin ich gleichzeitig auf die nächste Schicht, die Hayes mir heute von sich zeigen wird.
Bevor ich gehe, werfe ich mich in eine elastische Skinny-Jeans und ein übergroßes Holzfällerhemd, kombiniert mit meinen tannengrünen Schnürstiefeln. Nachdem ich mir Handy und Geldbeutel in eine abgewetzte Stofftragetasche geschmissen habe, mache ich mich auf den Weg.
Etwa fünfzehn Minuten später stehe ich schließlich vor einer schmalen Schotterstraße, die durch ein Maisfeld führt und an dessen Ende ich einige kleine Häuser sehen kann. Vor mir auf dem Boden kann ich eindeutige Spuren eines Traktors erkennen. »Na dann«, grummele ich vor mich hin und betrete die schmale Straße.
Ich blicke mich zu beiden Seiten um und lausche auf merkwürdige Geräusche aus den Feldern. Außer eines sanften Rauschens, welches durch den lauen Wind verursacht wird, höre ich nichts. Während ich durch den hohen Mais wandere, versuche ich meine Paranoia abzuschalten und mich davon zu überzeugen, dass nicht jeden Moment ein Axtmörder herausspringen und mich in kleine Stücke hacken wird. Die anbrechende Dämmerung macht es auch nicht gerade besser. Es ist alles gut.
Irgendwann verlasse ich endlich das Feld und erreiche eine breitere Querstraße, die geteert ist und von den Häusern gesäumt wird, die ich schon aus der Ferne sehen konnte. Dahinter erstreckt sich ein relativ tiefes Tal, das von verschiedenen Wiesengräsern und Blumen übersät ist. Wenn ich einen Sinn für die Schönheit der Natur hätte, würde ich in diesem Moment vermutlich durchdrehen vor Begeisterung. Es ist wirklich verdammt hübsch. Nur leider kann ich sowas rein gar nichts abgewinnen, weshalb ich nur ungerührt auf das Haus vor mir zuhalte.
Leider ist es nicht das, in welchem Hayes wohnt und die Nummern der Häuser sind auch nirgends ausgeschildert. Das heißt also, ich darf mir die Briefkästen genauer unter die Lupe nehmen. Ganz fantastisch.
Plötzlich klingelt mein Handy in der Tasche und ich hole es heraus. Es ist Hayes.
Ich gehe ran, doch bevor ich irgendwas sagen kann, kommt er mir zuvor. »Ich kann dich sehen, Uma.«
»Klingt auch gar nicht gruselig«, brumme ich augenrollend.
Er geht nicht auf meine Bemerkung ein und sagt: »Dreh dich nach links. Siehst du das Haus ganz am Ende? Das, was ein wenig abseits neben dem großen Kirschbaum steht?«
Ich schirme meine Augen gegen das grelle Licht der untergehenden Sonne ab und starre angestrengt in die Ferne. »Ja, ich seh's.«
»Gut, ich komme gleich runter.« Ohne ein weiteres Wort legt er auf. Genervt trotte ich auf das dunkelbraune zweistöckige Haus in der Ferne zu.
Als Hayes die Tür öffnet, bleibe ich wie angewurzelt stehen, sodass der Kies unter meinen Sohlen hochspritzt. Auch er wirkt so entgeistert, wie man es nur im Angesicht der Tatsache sein kann, dass wir gerade praktisch im Partnerlook unterwegs sind.
»Das ist jetzt ein Scherz, oder?«, durchbreche ich die Stille. Ich kann meine Augen noch immer noch von dem rot-schwarz karierten Hemd lösen. Seine Beine, welche sonst immer in irgendwelchen schicken Anzughosen stecken, sind heute durch eine dunkle Jeans verhüllt. Und als wäre all das nicht genug, trägt er auch noch klobige Stiefel. Wenigstens sind die nicht auch noch grün, wie meine.
Er runzelt währenddessen die Stirn und betrachtet seinerseits meine Aufmachung. »Ich schwöre, das war keine Absicht.« Seine schwarzen Augen huschen zwischen meinem und seinem Hemd hin und her. Dann schüttelt er den Kopf und winkt mich herein.
Bevor ich das Haus betrete, nehme ich mir einen kurzen Moment um die Fassade zu betrachten. Sie ist unglaublich unspektakulär und knallrote Geranien zieren die Fenster. Ich weiß nicht was ich erwartet habe, aber das ist es sicher nicht.
Drinnen angekommen will ich mir die Stiefel von den Füßen streifen, doch Hayes winkt nur ab, sodass ich es schulterzuckend bleiben lasse.
»Willst du was trinken?«
»Weiß nicht. Was kannst du mir anbieten?«, frage ich, während ich meine Augen durch den mit Holz vertäfelten Flur gleiten lasse. Hayes folgt meinem Blick und erläutert: »Hier hat bis vor Kurzem ein altes Ehepaar vom bayerischen Land gelebt. Scheinbar wollten sie sich ein Stück Heimat in dieses Haus holen.«
Das würde auch die traditionell wirkenden Teppiche und Porzellanteller an den Wänden erklären. Doch abgesehen von diesen kleinen Details erkenne ich nichts Persönliches vom jungen Bürgermeister. Keine Fotos, keine gerahmten Urkunden... wirklich nichts. Und von den wenigen Dingen, die hier sind, ist scheinbar nichts wirklich seins.
»Irgendwie wirkt es nicht so, als würdest du hierher gehören«, murmle ich, als ich ihm in die kleinen Küche folge.
Er öffnet den Kühlschrank und entgegnet: »Tue ich auch nicht. Das hier ist nur gemietet.«
»Das heißt nicht, dass du dich hier nicht häuslich einrichten darfst.«
Er hebt die massigen Schultern und holt zwei Flaschen dunkles Bier heraus. Dann sagt er so leise, dass ich ihn fast nicht hören kann: »Für mich heißt es genau das.«
»Bitte?«, hake ich nach, während ich ihm dabei zuschaue, wie er unsere Flaschen entkorkt. Ohne mir in die Augen zu schauen gibt er mir Meine. »Je stärker man sich an einen Ort bindet, desto schwieriger ist es, wieder wegzukommen. Und du weißt nie, wann du wegmusst.«
»Das klingt sehr... feige.«
Unbeeindruckt erwidert er: »Es ist wahr.«
Ohne uns abzusprechen nehmen wir beide an dem quadratischen Holztisch am Fenster Platz. Langsam ist es so dunkel, dass man die eigene Hand nicht länger vor Augen sehen kann. Hayes schaltet das Licht ein und setzt sich anschließend wieder mir gegenüber.
Während ich ihn so vor mir habe, fällt mir auf, dass irgendwas an ihm... anders ist. »Was ist?«, brummt er und nimmt einen Schluck aus seiner Flasche. Ich schüttle nur den Kopf und tue es ihm gleich, jedoch ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen.
Schließlich wird mir klar, was so anders ist: es sind seine Haare. Normalerweise liegt das dunkle, rötliche Haar ordentlichen nach hinten gekämmt an. Doch jetzt hängt es ihm in wirren Wellen in die Stirn.
»Du siehst komisch aus«, stelle ich fest. »Freut mich zu hören«, sagt er ungerührt. Dann: »Aber wir sollten aufs Thema ›Staatsstreich‹ zurückkommen.«
Staatsstreich... warum finde ich es bemerkenswert, dass er es nicht vergessen hat, wie ich unsere Mission bei unserem ersten Treffen in seinem Büro genannt habe?
Er lehnt sich ein wenig zu mir vor, sodass die Deckenleuchte helle Punkte ins Schwarz seiner Augen malt. »Du kannst lächeln.« Er sagt es in einem Tonfall, als würde er feststellen, dass es plötzlich angefangen hat zu regnen. Mein Herz schlägt bei einem Schlag kräftiger als üblich. Wie lächerlich.
»Klar kann ich das. Ich habe Muskeln im Gesicht.«
»Das ist beruhigend. Manchmal denke ich, du bist nicht von dieser Welt.«
Ich runzele die Stirn. »Warum solltest du das denken?« Er nimmt seinen Blick von meinem und lehnt sich zurück.
»Ich denke, es ist irgendwas in deinen Augen.«
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