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Die schmale Türe des kleinen Buchladens stand offen, Pflanzen vor der Türe ließen das Bild im sandsteinbraun erhellter wirken, ein wenig glücklicher und brachten mehr Farbe ins Bild. Nur wenige Meter vom Eingang entfernt war ein Geländer aus Stein angefertigt und wenn man dort hinab sah, schlugen die Wellen aus gespenstiger Höhe an die Klippe. Doch man konnte nicht die Gischt auf dem Gesicht spüren, nur den Hauch der zarten Wassertropfen, wenn sie sehnsüchtig in Richtung des Himmels flogen und vergeblich wieder zurück ins Wasser stürzten.
Das Aroma des Salzes im Meer wurde mit dem Wind über die Wellen gefegt und mit Geraschel der Blätter und farbgeprägten Blüten drang der sanfte Geruch in den Raum.
An der Theke gelehnt stand Minghao, in ein Buch vertieft, manchmal warf er einen sehnsüchtigen Blick nach draußen, in die unerreichbare Ferne des Horizonts. Manchmal murmelte er leise italienische Wörter, als würde er mit sich selbst sprechen.
Gerade als als er wieder ins Buch vertieft war, die Szenen vor seinem inneren Auge wie einen Film vor sich sehen konnte, hörte er das Rascheln der Blätter und Blüten der Pflanzen.
Er hob den Blick.
Vor ihm stand ein junger Mann. Er sah nicht viel älter aus als er selbst. Dieser sah sich neugierig um, bis jetzt schien er Minghao noch nicht bemerkt zu haben.
»Hallo«, sagte der Fremde mit einem holprigen Italienisch und mit einem schwerwiegenden chinesischen Akzent, als er Minghao endlich bemerkte.
»Hallo«, antwortete Minghao, jedoch mit seinem eigenen gebrochenen Chinesisch, welches er sich vor vielen Jahren selbst erlernt hatte.
Der Blick des Fremden war überrascht, dann wurde sein Ausdruck und sein Blick weich. »Ich suchte einen Buchladen. Zum Glück fand ich diesen, jedoch war es schwer, durch diesen Irrgarten schmaler Gassen hierher zu gelangen. Irgendwann gab ich es auf und ließ mich mit dem Geräusch der Wellen leiten.«
Minghao lauschte seinen Worten, horchte seiner Art und Weise, wie er aus der Vergangenheit sprach und schwieg einen Moment, als der Fremde zu Ende gesprochen hatte.
»Habt Ihr interessante Bücher hier?«
Minghao wunderte sich über die veraltete Anrede, dennoch antwortete er mit derselben Höflichkeitsform. »Ja. Welche Bücher interessieren Euch?«
»Dies ist mir gleich. Sucht Euch ein Buch für mich aus. Ich vertraue Euch.«
Minghao fiel es schwer seine Überraschung zu verstecken. Es kam nicht jeden Tag jemand in seinen kleinen Buchladen, welcher ihn ein Buch für sich aussuchen ließ. Also legte er sein eigenes Buch auf den Tresen, schloss es und streifte vorsichtig seine Handschuhe ab, die aus dünner und durchsichtiger Seide bestanden.
Er musterte den Unbekannten. Seine schneeweißen Haare wehten leicht wegen des Windes, der durch die offene Tür hereinspaziert kam. Seine Augen strahlten, als wäre das Universum in ihnen. Sein Lächeln sagte mehr als eintausend Worte.
Minghao brach den Blickkontakt ab. Er wandte sich den Büchern zu, strich vorsichtig mit seinen empfindlichen Fingerkuppen über die Buchrücken. Er wusste nicht, wer der Fremde war. Er sah ihn im inneren Auge vor sich, drehte sich nicht zurück, um seltsam zu wirken, sollte er ihn deswegen noch einmal ansehen.
Minghao erinnerte sich an den Ausdruck in den dunklen Augen des Unbekannten, die Sehnsucht nach dem Unerforschten. Die Güte und Geduld. Das Streben nach Freiheit.
Minghao erinnerte sich. Dann stoppte sein Schritt wie von selbst, seine rechte Fingerkuppe des Zeigefingers an einem gebundenen Einband.
Silence of the Sea. Minghao überraschte der Titel nicht. Als hätte er dieses Buch bereits in seinen Fingern erwartet. Mit Vorsicht zog Minghao das Buch aus dem Regal und sah einen Augenblick hinab, auf den blauen Einband mit der aus silber geschwungenen Schrift. Das Silber schimmerte, als würden hunderte von Schuppen ineinandergewachsen jedes einzelne Wort bilden.
Minghao hatte beinahe vergessen, dass er dieses Buch besaß. Doch nun hielt er es in den Händen, sah es mit eigenen Augen. Dann hob er seinen Blick und überreichte dem Fremden das Buch. Dieser trat näher, war irgendwann nur noch wenige Schritte von Minghao entfernt.
»Danke«, sagte der Fremde. »Wie lautete Euer Name?«
Ihn überraschte die Frage, denn welch Kunde fragte nach dem Namen eines Verkäufers? Trotzdem beantwortete er die Frage ehrlich: »Minghao. Und Eurer?«, stellte er sogleich eine Gegenfrage.
»Junhui.«
»Wer seid Ihr?«
Junhui antwortete nicht. Sein Schweigen erfüllte den Raum, als wäre er mit Wasser gefüllt, dennoch konnte man atmen.
Junhui nahm das Buch entgegen, ohne Minghaos Frage zu beantworten.
»Wie lange werdet Ihr hier bleiben?« Ihm war bewusst, dass Junhui nicht für immer bleiben würde, selbst wenn dieser es ihm nicht sagen würde. Manche Dinge musste man nicht aussprechen, um sie zu wissen.
Doch auch diese Frage wurde ihm nicht beantwortet. Junhuis kalte Finger streiften die Minghaos, ihm war es, als würde klares Wasser über seine Finger fließen, als würde sanftes Wasser ihn zu sich ziehen. Eine Einladung und zur gleichen Zeit eine Warnung.
»Womit soll ich Euch bezahlen? Ich habe kein Geld, welches ich Euch geben könnte.«
»Ihr könnt dieses Buch behalten. Ihr könnt weiterhin hierher kommen. Mit mir sprechen, Bücher lesen. Wenn Ihr fortgeht – bezahlt mich dann.«
Junhui nickte, bevor er sich umwandte und ging. Sein weißes, im Wind wehendes Haar war das Letzte, was Minghao sah.
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