- Kapitel 16 -
Kapitel 16 - der Verdacht
Es war der wohl schrecklichste Brief, den Nico je in seinem Leben bekommen hatte. Im Grunde genommen auch einer der Einzigen. Denn er enthielt eine sehr bittere Wahrheit. Die Wahrheit, vor der er sich die ganze Zeit gefürchtet hatte. Dass sein Vater vielleicht doch nicht nur an seinem Alkohol gestorben war. Und dieser Brief würde den endgültigen Beweis dafür liefern.
Sehr schnell hatte Nico das Blatt überflogen und spürte, wie ihm die Farbe nach und nach aus dem Gesicht wich. Er starrte einfach nur auf das Papier und die Zeilen vor ihm verschwammen, als er sich wieder einmal in eine andere Welt dachte und das Geschriebene verarbeitete. Wie konnte das nur passieren? Wie hatte er das nur zugelassen? Diese Fragen kreisten nun durch seine Gedanken.
Erst eine weit entfernte, weibliche Stimme holte ihn nach einer gefühlten Ewigkeit zurück ins Diesseits. „Nico?! Was ist los?" Es war natürlich Nikola, die mitbekommen haben musste, dass Nico den Brief geöffnet und gelesen hatte. Wahrscheinlich hatte sie auch realisiert, dass es nicht der beste Inhalt für einen solchen sein konnte. Sonst würde er kaum so reagieren.
„Wer hat denn geschrieben?", fragte sie ganz leise, als könnte jedes lautere Geräusch Nico Schaden zufügen. „Daphne mezereum. Seidelbast. Er wurde... vergiftet." Und als er dieses Wort in den Mund nahm, stiegen in ihm leichte, vor Salzigkeit brennende Tränen hoch. Als er hochschaute und nun in die unschuldigen Augen Nikolas blickte, sah er, dass auch sie ganz bleich wurde und ihn entgeistert anschaute. Als hätte er einen sehr schlechten Witz gemacht. Hatte er aber nicht. Würde er auch nicht. Nicht über so etwas.
„Und... wer... war es?" Wenn Nico das nur wüsste, würde er es ihr sicher sagen. Aber er wusste es selbst auch nicht. Woher auch? Doch Nico hatte Gewissheit. Er konnte sicher sagen, dass nicht der Alkohol allein seinen Vater getötet hat. Diese Tatsache ließ ihn fast etwas leichter fühlen, dann fiel ihm wieder ein, dass diese scheinheilige Realität nichts an seinem Trinkverhalten geändert hatte und sein Vater trotz allem tot blieb.
Aber Seidelbast? Wo konnte jemand denn um diese Jahreszeit Seidelbast auftreiben und sie dann in den Alkohol seines Vaters mischen? Unbemerkt? Oder war es vielleicht geplant? Jemand, der die Familie eng kannte und eng mit ihr verbunden war - so jemand musste es gewesen sein. Doch wer? Und was hätte diese Person davon? Schließlich wurde nichts aus dem Haus gestohlen, beschädigt oder auf andere Art und Weise gezeigt, was sie von Nicos Vater oder ihm selbst hielten. Nichts! Oder war er es selbst gewesen? Hatte er sich selbst umbringen wollen? Dem schrecklichen Alltag und Ungerechtigkeit auf dieser Welt entfliehen wollen? Einer Welt, von der selbst kaum noch etwas mitbekam oder die er sogar noch unterstützte.
Es war ein Gedanke, der Nico Angst bereitete. Es spielte auch gar keine Rolle, ob sich sein Vater nun selbst umgebracht hatte oder vergiftet wurde... Allein die Tatsache, dass es nicht, wie vermutet, nur der Alkohol war, der ihn aus dem Leben gerissen hatte, gab Nico ein eher mulmiges Gefühl. Was wenn er der Nächste war? Wenn es nun jemand auf ihn abgesehen hatte?
„Ich weiß es nicht, Nikola", antwortete er daher wahrheitsgemäß und sah sie an. Was wenn sie...? Nein! Diesen Gedanken schlug sich Nico direkt wieder aus dem Kopf, denn das konnte nicht sein. Das würde sie niemals tun. Aber wer denn sonst? Niemand kam ihn und seinen Vater je zuhause besuchen.
Obwohl es noch eine Person gab. Eine Person, von der er eigentlich nicht glaubte, dass sie so etwas tun würde, der er aber mittlerweile schon alles zutraute. Larissa. Sie war da gewesen. Nikola konnte sie beschrieben. So eine Ähnlichkeit konnte sie sich nicht ausdenken. Außerdem hatte Larissa letztens bei ihrer Auseinandersetzung nicht bestritten, dass sie gekommen war. Wollte sie sichergehen, dass ihr Opfer auch tot war? Was hätte sie denn von dem Tod seines Vaters? Absolut nichts. Hatte sie es vielleicht gar nicht auf ihn abgesehen sondern auf Nico? Was, wenn sie darauf aus gewesen war, Nico zu töten? Aber warum das? Zu dieser Zeit war nur der Kuss zwischen ihnen vorgefallen. Kein Grund, ihn deswegen umzubringen. Oder doch? Gegenüber Nikola sprach Nico diesen Verdacht allerdings nicht aus. Erstens wusste er nicht, ob er stimmte, schließlich konnte es auch nur Zufall gewesen sein, dass Larissa da war. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Auf der anderen Seite wollte er Nikola keine Angst mit der Theorie machen, dass er die potenzielle Mörderin kannte. Und dass diese im Nachbarhaus wohnte.
So beschloss Nico, alles auf sich wirken zu lassen und sich endlich an sein neues, stark verändertes Leben zu gewöhnen.
Auch die Hitlerjugend hatte sich verändert. Noch nie war er gerne dorthin gegangen, aber seit dem Ausraster von Elias vor einigen Wochen war es nicht mehr dasselbe wie vorher. Dieser ignorierte ihn jetzt weitgehend oder gab ihm Aufgaben, die sonst keiner gerne erledigte. Aber er ließ es über sich ergehen, denn Mattheo kam aus einem unbestimmten Grund nicht besser weg als er selbst und musste alles mit ihm zusammen machen.
Doch heute war es viel schlimmer. Mattheo erschien nicht. Zuerst glaubte Nico noch, dass er sich verspätete, aber dem war nicht so. Das wäre auch ein sehr ungewöhnlich für ihn gewesen. Die HJ hatte längst begonnen und von seinem besten Freund fehlte jede Spur. Dies blieb natürlich nicht unbemerkt und schon bei der Anwesenheit ging es los...
„Mattheo Schleicher?" Elias las den Namen mit besonderer Achtsamkeit und Vorsichtigkeit vor und schien ihn sogar extra zu betonen. Logischerweise kam keine Antwort, worauf sich alle Köpfe fragend zu Nico umdrehten und ein Flüstern durch die Mengen ging. Mattheo war immer da. Nico konnte sich nicht entsinnen, dass er je und vor allem ungemeldet gefehlt hatte.
Mit einem seiner berüchtigten Todesblicke brachte Elias jedes noch so leise Gemurmel zum Verstummen und blickte nun in die verwirrten Gesichter der vielen ratlosen Jungen.
Nun wandte er sich persönlich an Nico. „Weißt du, wo er ist, Nicholas? Ihr hängt doch sonst auch ständig zusammen." In seiner Stimme lag die bekannte Kälte, die er nur gegenüber Nico auszudrücken schien. Die mit jeder weiteren Stunde kälter zu werden drohte. Erschrocken schüttelte er mit dem Kopf. „Nein, tut mir leid. Ich habe ihn auch gestern nicht getroffen, ich weiß nicht, was mit ihm los ist..." Leider fügte er in seinen Gedanken hinzu, denn er wollte sich nicht ausmalen, was für ein Ärger Mattheo bei seiner nächsten HJ-Stunde drohte.
Florian und Leonard, zwei Jungen, mit denen er sich noch einigermaßen gut verstand, beugten sich zu ihm rüber.
Florian, ein Junge, der besonders in den Schießübungen gut abschnitt und daher bei Elias überaus beliebt war, blickte ihn an. Oft konnte es vorkommen, dass er und Nico miteinander konkurrierten, aber sie verstanden sich am Ende des Tages immer gut. „Ist aber ungewöhnlich, dass Mattheo nicht da ist..." Auch wenn es seine große, muskulöse Statur nicht vermuten ließ, aber Florian war ein sehr sensibler Mensch. Wahrscheinlich war das einer der Gründe, weshalb die Beziehung zwischen ihm und Larissa damals gescheitert ist. Aber so genaue Details wusste Nico nicht und wollte sie auch nicht wissen. Das einzige was er wusste, war, dass er ungern über dieses Verhältnis sprach. Alles was er und Leonard schließlich erfahren haben ist, dass es wohl Florian war, der die Beziehung beendet hatte. Verständlich würde Nico mit seinem heutigen Wissen sagen...
„Und noch ungewöhnlicher ist es, dass Nico nicht weiß, wo er ist", kicherte Leonard leise. Er war eigentlich ein ganz witziger Junge. Er und Nico verstanden sich immer sehr gut. Leonard war eine Person, die immer lachen konnte. Sogar in den Situationen, in denen ein Lacher eher unangebracht war.
Auch er und Florian konnten sich kein Lächeln verkneifen, als Elias von vorne rief: „Was ist da hinten los?" Der starre und böse Blick aus seinen dunklen, braunen Augen sprach ganze Bände, deshalb verstummten sie sogleich und sahen wie brave Jungen nach vorne. Aber Nico wollte Elias nicht ansehen. Immer musste er an diese unheimliche Stille von damals denken, als er länger bleiben sollte. Wegen einem Gespräch ohne Sinn. Was war nur mit ihm los? So schlimme Sachen hatte Nico damals doch gar nicht gesagt, oder doch? Durfte er denn nicht sagen, was er dachte? Auch wenn es die Wahrheit war? Wahrscheinlich nicht...
Heute waren wieder Schießübungen und Hindernislauf an der Reihe, was Florian natürlich zu Strahlen brachte. Seine mausbraunen, warmen Augen sagten aus: Das wird eine einfache Stunde!
Nico selbst sah sich eher im Mittelfeld, was das Schießen anging. In anderen Dingen war er deutlich besser. Zum Beispiel im Werfen. Wenn sie Granatenwurf üben würden, wäre er sicher mit als Bester abschneiden. Leonards tiefblaue Augen hingegen wendeten sich mit einem Hauch von Furcht an Nico. Er war eine Niete im Schießen. Denn er war einfach nicht dafür gemacht. Er könnte doch auch für ganz andere Sachen eingesetzt werden. Musste denn jeder alles können?
Es verlief im Grunde recht einfach: Jeder absolvierte einen Parcours und die Zeit wurde gestoppt. Dann mussten sie schießen und treffen.
Als Florian dran war, sah es sehr einfach aus, wie er die Mauern überkletterte und durch die Tunnel durchkrabbelte. Die Ziele traf er ohne jegliche Probleme und bereits nach knapp fünf Minuten war er im Ziel angekommen, wo der Rest der Gruppe wartete. „Vier Minuten und achtundfünfzig Sekunden. Sehr gut, Florian! Das ist eine Bestleistung, aus dir kann noch sehr viel werden", begann Elias seine Lobeshymne. Florian hingegen war das sichtlich unangenehm und er wurde tatsächlich auch rot als ihm der Leiter noch zusätzlich auf die Schulter klopfte. „Nehmt euch ein Beispiel an ihm, damit das klar ist!", waren seine Abschlussworte, bevor der nächste aufgerufen wurde und damit natürlich in Florians Schatten stand.
Auch Leonard hatte es nicht einfach. Zwar schaffte er es gut und schnell über die Mauern zu klettern, hatte allerdings aufgrund seiner Größe mit den flachen Tunneln zu kämpfen und kam erst nach über sechs Minuten im Ziel an. Elias schüttelte erbarmungslos mit dem Kopf. „ Sechs Minuten und zehn Sekunden? Was soll aus dir werden, wenn du in lächerlichen Tunneln steckenbleibst und dann einen halben Meter danebentriffst. Immerhin wusstest du ja, wie du das Gewehr bedienst. Glückwunsch an dieser Stelle."
Einige der systemtreuen Jungen lachten daraufhin hämisch, während sich Leonard entmutigt zu Florian stellte, der ihm tröstende Worte zusprach.
Nico hätte auch sehr gerne etwas gesagt, aber er war als nächstes und gleichzeitig auch als letztes dran. Entweder würde er es allen noch einmal zeigen oder er würde alles verhauen. Wobei der zweite Fall deutlich wahrscheinlicher schien als der erste.
Auf das Startsignal rannte er mit voller Kraft und allem was seine Beine hergaben los, um sich an die erste Mauer zu hängen und darüber zu klettern. Mit einem kräftigen Sprung landete er etwas unsanft, aber dafür geschickt auf dem Boden. Es ging weiter über verschiedene Mauern, die er zu überwinden hatte, sowie andere Hindernisse, die auf dem ersten Blick unüberbrückbar schienen. Doch irgendwie schaffte Nico es, sich überall durchzubringen und die Tunnel waren für seine Körpergröße eher eine Erleichterung als eine Hürde. All seine übriggebliebene Kraft brachte er noch auf, um schließlich zum Schießstand zu rennen. Er nahm das Gewehr, überprüfte seinen Lauf, zielte so genau wie es in der Aufregung überhaupt ging - und traf. Zwar nicht ganz die Mitte, aber besser als sonst, wollte er meinen.
Und mit allerletzter Kraft schaffte er es über die Zielgerade, als Elias auf die Stoppuhr drückte, aber im Gegensatz zu den anderen keine Zeit ansagte. Das Problem war, dass das Zeitgefühl auf solch einem Parcours schnell verloren gehen konnte. Er war sicher zu langsam gewesen, denn das Gesicht von seinem Leiter verzog sich leicht und eher im negativen Sinne, als er seine Werte eintrug. Es konnte zwar auch nur an Nicos Person liegen, aber es konnte nichts Gutes bedeuten.
Gerade als Nico zu Florian und Leonard hingehen wollte, teilte Elias sie in Gruppen auf, die aufräumen sollten. Seine Gruppe bestand aus zwei weiteren, kräftigen, gut gebauten und vor allem großen Jungen, die ihn skeptisch und irgendwie auch eifersüchtig musterten, als hätte er ihnen etwas weggenommen. Sie wechselten allerdings weder ein Wort miteinander noch mit ihm. Konnte Nico natürlich nur recht sein.
Als alles geschafft und beseitigt war, stellten sich alle Mitglieder in Zweierreihen auf, um geschlossen in der Gruppe zurück zum Haupthaus der HJ zu gehen, als Elias sich vor die Reihen stellte und eine Ansage machte: „Ihr geht zurück zur HJ, Florian führt. Ich bleibe hier. Ich möchte hier noch ein..." Er suchte nach einem passenden Begriff. „... sehr wichtiges Einzelgespräch führen."
Doch bevor er es aussprach, fühlte es Nico bereits in sich stechen. Er konnte den tödlichen Blick und das heimlich amüsierte Lachen bereits in Elias sehen. „Und zwar mit Nicholas Wolter." Bitte nicht schon wieder!
Und Nico spürte nicht nur Peinlichkeit vor den anderen Jungen sondern auch eine große Angst. Denn dieses Mal war ganz sicher kein Mattheo da...
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