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35 - Nur mit dir

Ich habe ihn nie gesehen. Einfach, weil ich mich nicht getraut habe. Ich habe ein ganzes halbes Jahr lang gezögert. Nein, etwas länger als ein halbes Jahr. Ob ich ihn vergessen habe? Nein, nie. Ob ich bis dahin eine Beziehung eingegangen bin? Nein. Ich fühle mich nur zu Mikołaj hingezogen. Das habe ich sogar Vincent zu verstehen gegeben, als er mir seine Gefühle gestanden hat. Es ist nicht so, dass wir den Kontakt zueinander abgebrochen haben. Warum auch? Wir haben uns nicht gestritten und haben die Angelegenheit vernünftig und sachlich geklärt. Ich habe erst angenommen, er würde über die Abfuhr nicht wirklich hinwegkommen. Doch, er hat es geschafft. Wer seine Glückliche ist? Irina. Ist das denn zu glauben? Die beiden. Was habe ich mich für Irina und Vince gefreut – dass sie ihn mehr als gemocht habe, habe ich ganz schnell festgestellt. Aber ich habe es nie angesprochen. Sie sind alt genug; das können sie ruhig allein regeln.

Nun, ich habe mein Abitur mit einem ziemlich guten Endergebnis absolviert. Eins Komma fünf. Da habe ich nicht schlecht gestaunt, weil ich nicht damit gerechnet habe. Gerade Mathematik hat mich ziemlich weit nach unten gezogen. Vier verdammte Punkte. Macht sich gut auf dem Zeugnis, wie ich finde. Ich erinnere mich sehr gern an den Tag meiner Verleihung zurück. Da hat mein Vater sich tatsächlich blicken lassen. Mit der Begründung: Du bist aus der Schule raus, da kann man jetzt ruhig wissen, dass ich dein Vater bin. Dass er aber nicht die mehr oder weniger heimlichen Fotos von sich wahrgenommen hat ... Egal. Ich werde es früher oder später sehen. Das absolute Highlight meiner Meinung ist gewesen, als er mit mir um punkt halb neun zur Schule gefahren ist. Mit seinem Monster. Hört es sich eigenartig an, wenn ich sage, dass ich mich wie die Tochter eines Oligarchen gefühlt habe? Eigentlich nicht. Meine Mutter ist mit meinem Wagen gefahren, aber nur, weil sie Sarah und Łukasz mitgenommen hat. Jakub hat gerne gewollt, wollte aber Mikołaj nicht allein lassen. Ich habe damit kein Problem, schließlich hat er höchste Priorität.

Da haben wir also auf dem überfüllten Schulparkplatz gestanden. Mein Vater hat sich völlig selbstverständlich in die allererste Reihe gestellt. Sein Glück, dass dort noch eine Lücke frei gewesen ist. Auch er hat sich für den gesamten Tag sehr adrett hergerichtet. Eine sehr sorgsam gepflegte Frisur, ein weißes, nahezu faltenfreies Hemd, das eng an seinem kräftigen Oberkörper anliegt, eine schwarze, halbwegs lockere Jeans und gesäuberte Schuhe. Wenn er eins nicht ausstehen kann, dann diese Anzugschuhe. Und meine Mutter erst; da ist das Model sehr zum Vorschein gekommen. Ihre langen braunen Haare sind wie glänzender Seetang über ihre Schultern bis zu ihrem mittleren Rücken geflossen. Sie hat mehr Volumen eingearbeitet und den schrägen Pony gezielt fixiert. Die hübschen Augen mittels sehr stilvollem Lidstrich und Wimperntusche zur Geltung gebracht. Sie hat mehr Make-up als üblich verwendet, allerdings finde ich es mehr als gelungen. Was sie getragen hat? Ein dunkelviolettes, schulterfreies Kleid mit schwarzen Pumps, dessen Riemen sich wie Efeu um ihre Sprunggelenke gewunden haben. Sie hat darauf geachtet, keinen allzu hohen Absatz zu tragen, sonst würde sie meinen Vater um einen halben Kopf überragen. Wie auch immer sie es geschafft hat, ohne Probleme mit dem Auto zu fahren ...

Wie dem auch sei. Mein Vater hat mir beim Aussteigen geholfen. Ich bin der Inbegriff des Glücks gewesen. Meine Freude ist unbeschreiblich gewesen. Elise habe ich erst gar nicht gesehen, was auch daran gelegen hat, dass sie sich schon längst drinnen aufgehalten hat. Meine Mutter hat mir ans Herz gelegt, ein knielanges Kleid zu tragen, das vom Hellblauen ins Dunkelblaue übergeht. Das Kleidungsstück besitzt einen Träger, sodass die andere Schulter frei liegt. Wie gut, dass ich mehrere trägerlose BHs in meinen Schränken aufbewahre. Um der Taille hat eine goldene dünne Kordel gebaumelt. Auch ich habe schwarze Hackenschuhe mit niedrigem Absatz getragen – man hätte mich vielleicht beim Gehen beobachten müssen, da hat man eindeutig gemerkt, dass ich eine überzeugte Trägerin von Sneakers bin.

„Du darfst dich jetzt wie ein Status-A-Promi fühlen", murmele ich ihm zu, während ich mit ihm in das große, aber verdammt stickige Foyer gehe. Es mag zwar ein angenehmer Sommertag sein, doch wegen der versammelten Menschen ist es hier drinnen drückend und unangenehm warm. „Was machst du eigentlich, wenn die Polizei hierher kommt?"

Mein Vater schert sich nicht um die vielen Blicke, die man ihm zuwirft. Oder dass die Gespräche in seiner Gegenwart abrupt beendet werden. Manchmal macht man ihm bereitwillig Platz.

„Wenn man meinen muss, Stress zu machen, werde ich das auch tun. Eigentlich will ich gern den Tag genießen, aber wenn sie unbedingt etwas anderes wollen, dann gern." Meine Mutter, Sarah und Łukasz haben beschlossen, für zehn Minuten draußen zu bleiben. Da gäbe es noch viel, worüber man reden könne. „Sagen wir: Ich würde schon wissen, was ich machen werde, sollte es soweit sein." Der Eingangsbereich zur weitläufigen und hohen Sporthalle ist festlich geschmückt. „Wo sitzt eigentlich Elise?"

„Wenn Eskalation, dann bitte den Schaden so gering wie möglich halten." Ich habe mich bei ihm untergehakt. „Lustigerweise genau da, wo wir sitzen." Ich deute zu der fünften hinteren Reihe. „Eltern sitzen hinten, wir vorne."

„Haben sie bestimmt mit Absicht gemacht." Er lässt den wachsamen Blick umherschweifen. „Tja, ich kenne hier niemanden." Er räuspert sich amüsiert. „Jevhen hat übrigens vor, noch herzukommen. Das hat er mir heute Morgen geschrieben. Ich weiß nicht, wann er ankommen wird. Nur, damit du Bescheid weißt." Elise hat mich bemerkt. Sie löst sich von einer Gruppe Klassenkameraden und kommt auf uns zu. „Da können ihre Eltern sehr stolz auf sie sein." Er lächelt leicht und erwidert die Umarmung von meiner besten Freundin. „Die nächste Prinzessin. Sehr hübsch siehst du aus, Elise." Wir haben uns einen halben Monat nicht gesehen. Nicht zuletzt wegen der Tatsache, dass sie mit Daniel im Umzugsstress ist. Sie werden zusammenziehen, nach Lübeck. Dort, wo sie ihren Studienplatz wahrnehmen wird. „Wie geht es dir, Kleines? Habe gehört, der Umzug ist endlich vorbei und es kann übernächsten Monat sofort losgehen?"

Ihre Frisur sieht aus, als wären sanfte Wellen erfroren. Die frische grüne Farbe ihrer Augen schimmert wegen der Smokey Eyes. Eine Kette mit dem Anfangsbuchstaben von Daniel schmiegt sich ein wenig an den Hals. Sie ist für tiefe beziehungsweise gewagte Ausschnitte der richtige Kandidat. Wie soll ich sie schon beschreiben? Elise sieht umwerfend aus. Fast schon wie ein angehendes Model. Ihr Kleid ist rubinrot, und goldene zarte Ketten hängen um der Taille. Elise kann man als exotisch bezeichnen. Sie hat sich ein wenig an das östliche Asien orientiert, was den Stil betrifft.

„Hervorragend, danke der Nachfrage." Ein glückliches Lächeln entsteht. „Ja, genau genommen seit zwei Tagen. Es geht zwar erst am ersten September los, aber bevor das Wohnungsangebot in Lübeck knapp wird ..." In den Augenwinkeln nehme ich Daniels Gestalt wahr. „Daniel hat sogar einen Arbeitsplatz gefunden. Er kann nächste Woche gleich anfangen." Er hadert mit sich, ehe er zögerlich zu ihr geht. Ich wette, dass es an meinen Vater liegt. „Hm? Daniel, komm' ruhig her. Er macht nichts."

„Und dann darfst du dich offiziell als Kriminalkommissaranwärterin bezeichnen. Sehr schön zu hören. Freut mich, dass alles geklappt hat." Ich habe es tatsächlich geschafft, einen begehrten Platz für ein duales Studium zu ergattern. Ganze sieben Jahre wird die Ausbildung zum Physiotherapeuten auf diesem Wege in Anspruch nehmen. Das Gute: Ich werde mich nächsten Monat, also im Juli, in Kiel niederlassen. Ich hätte es nie weit zu Elise. „Daniel, richtig?" Mein Vater lacht leise, als Daniel ihn unschlüssig ansieht. Die Unsicherheit ist nicht zu übersehen. „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin nicht hier, um irgendeinen Krawall zu veranstalten. Der Tag gehört den beiden Prinzessinnen." Er streckt eine Hand nach ihm aus. „Kaden mein Name. Ich lege nicht viel Wert auf Formalitäten."

Daniel ist einer der sehr wenigen, dem Hosenträger stehen. Er erwidert den Händedruck etwas zögerlich.

„Nett ... dich kennenzulernen." Er lächelt schief. „Hab' schon eine Menge von dir gehört." Elise und ich tauschen einen amüsierten Blick aus. „Äh, aber das ist noch 'mal 'was anderes, dich direkt vor mir zu haben." Plötzlich wird er verlegen. „Wie kommt's eigentlich, dass du hier bist? Also ... so in der Öffentlichkeit? Ich dachte, du würdest dich mehr im Hintergrund halten?"

„Eigentlich hast du nicht ganz unrecht. Ich halte mich durchaus bevorzugt im Hintergrund auf, um so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen."

„Merkt man", wirft Elise scherzhaft ein. Daniel sieht sie flüchtig an. Runzelt ein wenig die Stirn. Anders, als Daniel sicherlich angenommen hat, winkt mein Vater ab.

„Das eine Mal, das ist etwas anderes", erwidert er amüsiert. „Dieser Tag ist ein sehr besonderer, immerhin enden jetzt zwölf Jahre Schulzeit." Er sieht über die linke Schulter. „Ah, da ist er ja." Er schaut wieder zu Daniel. „Wenn du mich bitte entschuldigst; da gibt es jemanden, den ich begrüßen will. Es war angenehm, dich endlich kennenlernen zu dürfen, Daniel. Immerhin haben die beiden viel über dich geredet." Mein Vater schenkt dem jungen Mann ein warmes Lächeln und wendet sich von uns ab. Jevhen muss also angekommen sein.

„Ich, äh ... Ich gehe wieder zu deinen Eltern, Elise." Er blinzelt schnell. Ich lache verhalten in mich hinein. „Oh mein Gott. Das wird mir doch niemand glauben." Elise sieht ihm belustigt nach.

„Wenigstens hat er keine Panik geschoben", meint Elise schulterzuckend. „Und hat jetzt gesehen, dass dein Vater ein ganz anderer Mensch ist." Sie hakt sich bei mir unter. „Du hast Łukasz hergebracht?" Und sogleich basiert der Ton auf Freude. „Wo ist er denn?" Łukasz und sie haben ihre Telefonnummern ausgetauscht. Es ist schön zu sehen, dass sich zwischen ihnen eine Freundschaft entwickelt hat.

„Draußen. Seine Mutter ist auch hier." Anscheinend muss mein Vater mit Jevhen nach draußen gegangen sein, denn er hält sich hier nicht mehr auf. „Der beste Freund seines Vaters ist draußen."

„Kenne ich ihn? Zumindest namentlich?" Wir quetschen uns an eine Gruppe Erwachsener vorbei. Ich kann halbwegs sicher gehen, obwohl ich manchmal etwas umgeknickt bin.

„Er heißt Jevhen. Äh ... Den Nachnamen habe ich nicht mehr im Kopf." Wir treten hinaus in den angenehmen Sommermorgen. Wie zu erwarten hat sich eine kleine Traube um die Autos meines Vaters und Jevhen gebildet. Jevhen ist so gut gewesen und hat das schlummernde Ungetüm zugeparkt. „Er bezeichnet sich gern als den ukrainischen Hulk." Man kann ihn ganz schlecht übersehen. So breit, wie er ist. „Jevhen ist zwar Ukrainer, kann aber Deutsch verstehen und sprechen. Sein Akzent ist ziemlich lustig."

Ich geselle mich mit ihr zu dem kleinen Kreis. Łukasz nimmt Elise unweigerlich wahr. Der mittlerweile Zwanzigjährige hat ein weinrotes Hemd ausgewählt, dazu eine hellgraue Jeans, welche an einigen Stellen etwas aufgerissen worden ist. Er lächelt sofort los und umarmt sie herzlich. Es freut mich, dass er nach wie vor seine Ringe trägt.

„Jevhen", sage ich strahlend und lasse mich von ihm in die starken Arme ziehen. „Ich glaube es nicht. Du bist hier?" Ich begrüße höflich seine Frau, die meinen Gruß mit einem Lächeln erwidert. Jevhens Frau ist eine alterstypische Dame, die nach wie vor die Naturhaarfarbe bewahrt hat. Ich kann einige graue Strähnen erkennen, doch die gehen in dem kräftigen Ebenholzbraun unter. „Versteht sie Deutsch oder nur Ukrainisch?"

„Also bitte. Du bist die Tochter meines inzwischen sehr guten Freundes. Da will ich diesen Tag nicht verpassen." Elise bläht die Wangen auf, um ihr Gelächter zurückzuhalten. Was habe ich gesagt? Der starke Akzent ist lustig, und Jevhen weiß das auch. „Der Weg war nicht schwer und lang, da wir unter anderem bei Jakub übernachten." Elise und Łukasz haben sich etwas zurückgezogen, um sich ungestört unterhalten zu können. „Anastazia kann ein bisschen Deutsch. Die grundlegenden Sachen. Ansonsten nur Englisch oder eben Ukrainisch." Sein dunkler Blick huscht über mich. „Du siehst umwerfend aus. Erinnerst mich stark an Daryna, als sie ihren Abschluss hatte."

„Jevhen, ich wusste, dass du scheiße parken kannst, aber musst du mich so blöd zustellen?", mischt sich mein Vater tadelnd ein. „Was kannst du eigentlich?"

„Müssen wir wieder diese Diskussion führen?" Jevhen verdreht die Augen. „Es ist schwer, hier einen freien Parkplatz zu finden. Der Dicke braucht Platz." Meine Mutter und Sarah schlendern entspannt durch das Foyer, ehe sie beschließen, passende Plätze zu suchen. „Jakub richtet dir liebe Grüße aus. Er findet es sehr schade, dass er nicht hier sein kann." Elise und Łukasz folgen den Frauen wenig später. „Mikołaj macht sehr gute Fortschritte. Es wird nicht mehr lange dauern."

Ich senke ein wenig den Blick. Sogleich keimen Schuldgefühle.

„Was denkst du?", fragt mein Vater nach.

„Den Umständen nach höchstens ein halbes Jahr noch. Wenn er sich nicht mehr dagegen wehrt, dann maximal drei Monate." Er sieht auf die Uhr am linken Handgelenk. „Wann geht eigentlich die Verleihung los?"

Bald. Es dauert zu lange. Ich blinzele schnell. Jage energisch die Gedanken fort. Heute nicht. Heute will ich den Tag mit meinen Liebsten verbringen. Schlechte Gedanken sind völlig unangebracht.

„Um neun Uhr soll sie beginnen."

„Viertel Stunde noch."

„Gut, dann sollten wir uns so langsam nach drinnen bewegen." Mein Vater sucht meinen Blick. „Bereit, meine Kleine?" Ich schaue auf, nicke kurz. „Ich bin sehr stolz auf dich." Er entlockt mir ein kleines Lächeln, und gemeinsam gehen wir hinein. „Nächste Woche werden wir uns um deine Wohnung kümmern. Ich habe einen Transporter besorgen können."

„Wir müssen unbedingt Ikea unsicher machen."

„Solange du mir keine tausend Kerzen kaufst." Er schmunzelt. „Werden wir machen." Er sucht nach Sarah und meiner Mutter. „Ach, da sitzen sie. Doch so weit vorn. Ob Jevhen überhaupt in die Reihe passt?" Ich gebe einen amüsierten Laut von mir. „Mal schauen, wer gleich Panik schieben wird. Ist ja nicht so, dass mir diese Anspannung nicht aufgefallen ist." Er küsst mich auf den Kopf. „Du husch' zu Elise. Sie wartet auf dich."

„Jaja." Ich trage das Lächeln weiterhin auf den Lippen, während ich zu Elise schreite. Erhobener Kopf, eine lockere Haltung. Selbstbewusstsein. Alles stimmt. Zweite Reihe. Da sitze ich. Ehemals die Klasse zwölf B. Direkt zwischen Elise Ebel und Tobias Fallach. Ich schiebe mich durch die Reihe. Eine kleine Genugtuung ist, dass Victor und Eric die Prüfungen nicht bestanden haben. Victor ist mit unglaublichen vierunddreißig Punkten herausgegangen. Der Typ ist offiziell dumm wie Stroh. Bevor ich ein Gespräch mit Elise aufnehmen kann, drehen sich Amélie, Lilly und Dennis zu uns um.

„Is' das echt wahr? Kaden Larkin? Dein Vater?", will Dennis nahezu tonlos wissen.

„Oh, scheiße. Sorry, Jess. Also die ganzen Sachen im letzten Halbjahr und so", nuschelt Amélie fast undeutlich.

„Was? Hab' gerade 'was von Larkin gehört?", höre ich hinter mir. Jemand Männliches.

„Der ist hier. Sitzt hinten. Fünfte Reihe", antwortet ein Mädchen. „Ich hab' bis jetzt keine Waffe gesehen, aber wer weiß das schon so genau."

„Und es geht schon wieder los", murmelt Elise mir zu. Ich zucke mit den Schultern und balanciere das Jahrbuch, das Programmheft und das Namenkärtchen auf meinem Schoß.

„Jess?", wendet sich nun Mercedes-Tobias an mich. „Stimmt das wirklich, was man sagt?" Ein Gewirr aus Gesprächen ist entstanden, und es geht natürlich um meinen Vater und mich. „Und du hast zwölf Jahre nichts gesagt? Echt krass."

Es wird Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen. Das Gute ist, dass außer Elise niemand weiß, wo es mich später hin verschlagen wird. Sicher, ich will Physiotherapeutin werden, nur wo, das werden sie nie erfahren.

„Also die Ähnlichkeiten sind ja schlecht zu übersehen", gebe ich ungeniert zurück und schaue alle nacheinander an. „Ja, Kaden Larkin ist mein Vater. Und ja, er fährt den Bugatti Pur Sport, der draußen steht. Nein, er wird hier keine Drogen verkaufen oder irgendjemanden erschießen, es sei denn, man verpfeift oder nervt ihn." Ich grinse knapp. „Es wäre nicht untypisch, hätte er eine Waffe dabei. Kann ich nicht genau sagen, weil es mich nicht interessiert." Ich zucke mit den Schultern. „Warum soll ich etwas sagen? Das geht niemanden etwas an. Außerdem ist er ein ganz normaler Mensch."

„Lol, normaler Mensch", wiederholt Jonas etwas höhnisch. „Gerade Larkin." Er ändert hastig den Ton, als ich eine Augenbraue hochziehe. „'Tschuldigung, wollte nicht so herablassend klingen."

„Er ist eben ein erfolgreicher Drogenhändler. Auch solche Leute muss es geben, sonst wäre das Leben ziemlich langweilig." Die Angehörigen finden sich nach und nach ein.

„Ja, schon ..." Jonas dreht sich langsam zurück. Murmelt etwas, das ich nicht verstehe.

„Und er ist verheiratet? Mit einem Model?", bohrt Amélie nach. Delilah gehört zu den siebzehn, die das Abitur nicht absolviert haben. „Mit Alaina Evert, die wiederum deine Mutter ist?"

„Ganz genau. Wundert mich, dass du mich nie darauf angesprochen hast. Ich habe nämlich den Nachnamen meiner Mutter bekommen." Ich lehne mich ein wenig zurück. „Wäre wohl auffällig geworden, hätte ich Jess Larkin geheißen."

„Dann stimmt es auch, dass Mikołaj der Sohn von Jakub Zsaskaski ist", mischt sich Ivan ein. „Die haben ja beide diese heftigen Augen."

„Auch richtig", offenbare ich Mikołajs Geheimnis. Er besucht unsere Schule leider nicht mehr. „Es stimmt auch, dass Jakub und mein Vater sich hervorragend verstehen." Ich lasse mir nichts anmerken. „Wieder gut verstehen." Nur noch fünf Minuten. Ich kann es irgendwie kaum erwarten.

„Bitte ... was?", wendet sich der zukünftige Staatsanwalt Fallach an mich.

„Spielt auch keine Rolle mehr. Jetzt jedenfalls habt ihr die Chance, meinen Vater 'mal zu sehen ... und eben seinen ehemaligen Konkurrenten Jevhen Prokofjew." Elise ist völlig mit ihrem Handy beschäftigt. Da können die beiden sich auch nicht lange aus den Augen lassen. „Und es stört dich ganz sicher nicht, wenn du ohne deine Eltern bei meiner Familie mit am Tisch sitzt?"

„Hm?" Sie sieht auf. Ihre katzenhaften Augen nehmen mich auf. „Habe gerade nicht zugehört." Das Gemurmel hinter meinem Rücken oder vor mir wird getrost ignoriert. Man will von mir wissen, wo denn dieser Jevhen säße. Ich finde, dass ich schon zu viel offenbart habe.

„Ist das etwas Neues?", erwidere ich lächelnd, und sie knufft mich sanft in die Seite, sodass ich etwas zusammenfahre. „Hab' gerade gefragt, ob es deinen Eltern stören würde, wenn sie allein sein werden. Also heute Abend." Der letzte Abend als gemeinsamer Chaotenhaufen. Irgendwie verrückt.

„Ich glaube nicht, dass sie hoch erfreut sein werden, wenn dein Vater und ... Jevhen? Ja, Jevhen. Wenn die beiden bei ihnen sitzen werden. Außerdem werden sie so oder so bei Tobias' Eltern sein." Stimmt. Elises Vater und Tobias seiner arbeiten beide im Fürstenwalder Rathaus. Die Frauen hingegen haben ihre Bekanntschaft während etlicher gemeinsamer Tenniseinheiten bestärkt.

„Ach, richtig. Da war ja noch etwas." Ich blicke nach vorn. Inzwischen haben sich alle auf ihren Plätzen eingefunden. Die Wellen des Wortflusses ebben nach und nach ab, bis sie nach wenigen Minuten gänzlich verschwunden sind, sodass die Oberfläche spiegelglatt ist. „Mein Vater wird sich zumindest ziemlich freuen, wenn du bei uns sitzen wirst. Gott sei Dank habe ich daran gedacht, den größten Tisch zu reservieren. Würde mich nicht wundern, wenn nachher noch mehr kommen. Am besten noch die Geschäftspartner meines Vaters." Elise lacht verhalten in sich hinein. „Oh ha, Mister D. legt los."

„Der D.", wiederholt Elise mit einem vor leichtem Spott triefenden Ton. „Meine Güte, ich halte diese Spannung nicht mehr aus." Sie verstaut mein und ihr Handy in die dunkle monochrome Clutch. Tobias wendet sich etwas verlegen an sie. „Klar doch. Pack's 'rein." Und da sind es schon 'mal sieben Handys geworden, weil Hanna, Jonas, Fabian und Paul sich ebenfalls an meine beste Freundin gewendet haben. „Also, Leute. Jetzt passt hier nichts mehr 'rein. Legt eure Dinger unter die Bank." Der goldene Reißverschluss lässt sich schwer zuziehen. „Vergesst die nachher nicht, sonst gibt's das Gerät erst heute Abend wieder."

Unser eigentlich grimmiger Direktor ist an das geschmückte Rednerpult getreten. Er hat sich in einen grauen Anzug geworfen; unter dem Sakko schimmert ein weißes Hemd hervor. Die pilzähnliche Frisur ist halbwegs auf Vordermann gebracht worden. Es ist still. Niemand spricht, hustet oder kein kleines Kind heult los. Er legt einen übersichtlichen Stapel auf das Pult. Richtet die Mikrophone her. Dann erhebt er seine mehr oder weniger monotone Stimme und trägt die Rede vor. Er verwendet viele Metaphern – in unserem Fall geht es um Helden, die mehrfache Niederlagen einstecken mussten und sich trotzdem nie niedergerungen gelassen haben. Wir seien mutig, wissbegierig, aber auch –hungrig, neugierig, offen. Wir seien zukunftsorientiert, sprühen vor Leben oder seien wie ein Schwamm, der sämtliche Lebenserfahrungen aufsaugen will. Unsere Wege würden sich trennen, doch im Herzen würden wir stets miteinander verbunden bleiben. Wir dürfen nicht vergessen, dass das Leben im wahrsten Sinne des Wortes kein Wunschkonzert sei, doch wir hätten die Macht, ein Bühnenstück zu schreiben, dessen Ausgang wir individuell bestimmen. Wir kreieren unsere eigenen Helden, aber auch Bösewichte. Wir hätten die Fäden für die Figuren in den Händen.

Seine eigentlich interessante Rede hat nach dreißig Minuten ein Ende gefunden. Kurzer Applaus von allen Seiten. Selbst die obigen Sitze der Tribüne sind vollständig besetzt worden. Mein Herz pocht schneller, ich könnte vor Euphorie platzen. Nun tritt die Stellvertreterin des Direktors an das Pult und beginnt, die Namen der Abiturienten vorzutragen, die nun das Zeugnis erhalten werden.

„Jennifer Abgott, Ben Agust, Wojtek Błachowicz, Ian Christiansen, Lina Degelow, Justin Firda, Kilian Hans, Emilia Zochsky: Erheben Sie sich bitte von Ihren Plätzen." Die Angesprochenen aus der nun ehemaligen Klasse zwölf A tun dies. Jeder hat sich stilvoll eingekleidet. „Sie erhalten nun das Abiturzeugnis." In einer Reihe gehen sie also nach vorn, auf den ausgerollten roten Teppich. Sie wenden sich uns zu. Lächeln oder können sich keine Träne der Freude verkneifen. Aufrechte Haltung, ausgestrahltes Selbstbewusstsein. Es werden Bilder geknipst. Der Tutor, dessen Stellvertreter und der Direktor teilen jeweils das Zeugnis aus und händigen ihnen entweder eine weiße oder rote Rose aus. Manchmal sagen sie etwas. Und dann: Lauter, nahezu tosender Applaus. Die Anerkennung sei ihnen gegönnt. Immer acht Leute. Jedes Mal die gleichen Worte, das gleiche Aufstehen, das similäre Lächeln. Der Applaus. Es ist, als würde ich eine andere Welt besuchen. Eine bessere.

„Ich bitte Sie, Lena Böttcher, Amélie Charlais, Darian Degel, Elise Ebel, Jess Evert, Tobias Fallach, Lukas Justin und Dennis Lupin, sich von Ihren Plätzen zu erheben." Ein strahlender Ausdruck kleidet die Gesichtszüge aus, als wir uns aus der Reihe begeben. Sichere Schritte, erhobenes Haupt. Mir ist zwar warm, aber es ist mir nicht unangenehm. Jetzt stehe ich vorne. Halte automatisch nach meinen Eltern Ausschau. Dank Jevhen sehr leicht zu finden. Nur meine Mutter nimmt die Verleihung auf. Ich meine zu sehen, wie mein Vater lächelt und Jevhen, wie er gegen den Drang ankämpfen muss, mir etwas zuzurufen. „Auch Ihnen wird mit dem heutigen Tage das Abiturzeugnis verliehen. Herzlichen Glückwunsch." Die Schülerband spielt leise festliche Musik. Es sind Musikschüler, aber auch welche aus der jetzigen elften Klasse.

„Da freut sich jemand", murmele ich Elise lächelnd zu, als mir Daniel ins Auge gefallen ist. Der Dreiundzwanzigjährige lässt einige Tränen laufen, und auch seine Lippen haben sich zu einem glücklichen Lächeln verzogen.

„Ich finde es unglaublich süß, wenn er weint." Die Braunhaarige wendet sich unserer Tutorin zu. Eine unterersetzte Frau, welche nie zur Rast gelangt. Immer auf Tempo aus. Nur heute nicht. Zum Glück.

„Herzlichen Glückwunsch, Elise. Ein sehr gutes Ergebnis. Eins Komma eins." Sie schütteln einander die Hände. „Ganz viel Glück für den späteren Berufsweg."

„Ich danke Ihnen." Elise nimmt das Zeugnis an sich.

„Auch dir, Jess. Da kann man ruhig über den Fehltritt in Mathematik hinwegsehen, hm?"

Ich nicke amüsiert.

„Solange das Endergebnis stimmt", meine ich und nehme die Mappe entgegen. „Vielen Dank." Nun halte ich ein weiteres Stück Freiheit in meinen Händen. „Oh, danke sehr." Etwas überrumpelt hole ich die weiße Rose zu mir. Elise hat eine rote erhalten.

„Dass Kaden Larkin Ihr Vater ist ... Unglaublich." Er meint es keineswegs böse. Ich kann einen Hauch Respekt heraushören. „Und er nimmt tatsächlich an dieser Veranstaltung teil?"

Ich nicke.

„Er wollte sie nicht verpassen. Da werden die ... Aktivitäten hinten angestellt." Ich lächele knapp. Der Direktor schenkt mir einen letzten intensiven Blick, ehe er sich Tobias widmet. Eine Augenbraue gleitet in die Höhe, und ich erspare mir weitere Bemerkungen. Wenigstens unterlassen es die Lehrkräfte, mich auf meinen Vater anzusprechen. Zumal er nur anwesend ist und gar nichts macht. Meine Güte, ich will mich nicht für die Präsenz meines Vaters rechtfertigen.

„Scheiß' drauf. Wart' ab, wenn sie ihn richtig kennenlernen." Elise hat die anfängliche Missgunst registriert. „Lass' dich nicht 'runterziehen. Die können dir schlecht das Zeugnis wegnehmen, nur weil Kaden Larkin dein Vater ist."

„Würde ich dem Idioten zutrauen", murre ich kaum hörbar.

„Du hast einen Schnitt von eins fünf?", lenkt Tobias mich geschickt ab. Ich nicke kurz. „Respekt. Schöne Leistung." Wieder ein Nicken. Tobias hat einen Schnitt von eins Komma zwei erreicht.

Wir dürfen unsere ursprünglichen Plätze einnehmen. Ich lasse mich auf dem gepolsterten Stuhl nieder und klappe die Mappe mit dem Brandenburger Wappen auf. Insgesamt fünf Bögen. Vier für die jeweiligen Semester und eins mit den absolvierten Abiturleistungen. Unglaubliche vier Punkte in Mathematik, dreizehn in Deutsch, zehn in Polnisch, zwölf in Englisch und elf in Geschichte. Zahlen sind schrecklich. Das Abitur ist der beste Beweis.

Es ist derweil zwölf Uhr. Die Festlichkeit ist beendet. Wir Abiturienten haben uns erhoben und sind in á zwei Reihen nach draußen gegangen. Für das Foto. Ich bin neben Valentin gegangen, irgendjemand aus der D. Bevor ich nach draußen gegangen bin, habe ich einen Blick zu meinem Vater erhaschen können. Wann ich ihn das letzte Mal so dermaßen glücklich gesehen habe? Das müsste zu seiner Hochzeit gewesen sein. Ich behaupte sogar, dass ein paar kleine Tränen gesprossen sind.

Wir haben uns zu der großen Freifläche vor den vier Bushaltestellen begeben. Dass neunundsiebzig Schüler auf ein Bild passen, ist schon eine Kunst für sich. Ich stehe relativ weit vorn, da ich zu den kleineren gehöre. Zu den kleinsten. Heute Abend werden wir noch einmal Fotos aufnehmen, nur klassenweise, allein oder mit der Familie. Vielleicht auch mit Freunden.

Elise hat mir mein Handy wiedergegeben. Sie ist gerade dabei, die restlichen Handys zurückzugeben. Wenigstens muss sie nicht lange nach den Eigentümern suchen. Tja, so schnell vergehen also zwölf Jahre schrecklich-schöner Schulspaß. Ein turbulenter Lebensabschnitt. Kaum zu glauben. Meine Eltern, Jevhen, seine Frau, Sarah und Łukasz suchen in diesem Moment die Fahrzeuge auf. Ich eile so schnell es geht zu ihnen. Und nehme das Risiko in Lauf, umzuknicken.

„So, hier bin ich." Ich lasse mich sogleich in die Arme meines Vaters ziehen. „Eins Komma fünf. Was sagst du dazu?" Ich vergrabe das Gesicht in sein Oberteil, die Arme ruhen auf seinen Schultern.

„Ich bin unglaublich stolz auf dich, Jess", murmelt er vom Glück überwältigt. „Eine sehr schöne Leistung. Ich wusste es. Du hast das Zeug zu einer Spitzenreiterin." Er lässt mich langsam los. Seine Euphorie springt über wie ein Feuer. „Du bist die Erste seitens meiner Familie, die das Abitur bestanden hat und jetzt sogar studieren wird." Ich händige ihm Jahrbuch, das Heft, die Mappe und die Rose aus. „Weiß? Eine interessante Metapher für Jugend und Widerstand. Kann man so oder so deuten." Auch meine Mutter schließt mich in ihre Arme. Anders als mein Vater verbirgt sie nicht ihre Tränen.

„Sehr schön gemacht, Kleines", wispert sie in mein Ohr. „Du kleine Kämpferin." Sie streicht mir liebevoll über den Rücken. „Aufgeben war nie eine Lösung gewesen."

Ich nicke überwältigt.

„Eins Komma fünf also? Das ist eine ordentliche Leistung." Ich lache leise und erwidere die Umarmung von Jevhen. „Hübsch und intelligent. Wer etwas anderes behauptet, weiß dich nicht zu schätzen." Der starke Mann sieht auf. „Darf ich es ihr sagen, Kaden?"

„Heute Abend gibt's ordentlich Essen." Łukasz grinst breit. „Da freue ich mich gerade sehr drauf." Er legt die Arme um mich. „Jess, du bist echt gut. Glückwunsch." Ich wandere mit der linken Hand über seine dünnen Arme. Er nimmt sie wieder weg.

„Was sagen?", frage ich etwas neugierig nach. „Gibt's da etwa eine Überraschung, von der ich nichts wissen darf?" Jevhen und mein Vater tauschen einen flüchtigen Blick aus. „Paps, ich mag keine Geheimnisse."

„Da will dir jemand noch gratulieren", antwortet Sarah für die beiden. „Er müsste eigentlich da sein."

„Wer denn?" Ich spähe zum Ende des vollen Parkplatzes. Nichts. Nur unauffällige Autos. Und dann: Ein kraftvolles Röhren von Sportauspuffs. Die rote Farbe blitzt auf. Ein roter GT3 RS. Mit polnischem Kennzeichen. „Jakub?!" Er fährt vorsichtig, allerdings hochtourig. „Ich dachte, er kann nicht wegen Mikołaj?" Ich verstehe die Welt nicht mehr. Jakub hält genau auf dem Weg an. Er ist nicht allein. Sämtliche Emotionen werden fortgewischt. Die Lippen sind etwas geteilt.

„Komme ich zu spät?" Er steigt aus, nachdem das Brummen verklungen ist. Er trägt ein rot-schwarz kariertes Holzfällerhemd. Dazu eine dunkelblaue verwaschene Jeans. „Och, fuck." Die dunkelblonden Haare zerzaust, die Narbe unverkennbar. „Ich dachte, der Blitzer hätte sich gelohnt. Sind nur zwanzig zu viel." Er nimmt mich wahr. „Jess, du Goldblüte." Jakub kommt zielstrebig auf mich zu und umarmt mich fast stürmisch. Mein Vater lacht für eine Sekunde. „Tolle Leistung. Hab' gewusst, dass du so eine Intelligenzbestie bist, die sich nicht unterkriegen lässt." Er lässt mich los, tritt zwei Schritte zurück. „Ich bin nicht ohne Grund hier." Der Pole schaut zum Fahrzeug. „Du kannst 'rauskommen."

Ich glaube, aus allen Wolken zu fallen. Instinktiv klammere ich mich an Łukasz fest, als er langsam aus dem Porsche steigt. Schritt für Schritt, wenn auch teilweise unsicher. Jetzt kann ich sein schmales Gesicht erkennen. Es hat mir die Sprache verschlagen. Träume ich? Nein, das kann nicht sein, sonst würde Łukasz mich nicht behutsam, aber bestimmt zu ihm schieben. „Nicht so schüchtern."

Ich bleibe wie paralysiert stehen. Muss das hier erst einmal verarbeiten, auch wenn es nahezu unmöglich ist. Er ist hier.

Mikołaj.

Er hat merklich an Muskulatur abgebaut. Das Shirt spannt sich nicht mehr über seinen Oberkörper. Die Ärmel flattern sogar leicht im Wind. Als hätte die Welt aufgehört, sich zu drehen. Sämtliche Geräusche werden ausgeblendet. Er hat die Beifahrertür geschlossen. Er ist schlanker geworden, aber nichtsdestotrotz ist er es. Meine Gefühle drohen, komplett frei am Rad zu drehen.

„Mikołaj." Meine Stimme hört sich so fern an. Mehr Worte bringe ich nicht auf die Reihe. Wie ferngesteuert gehe ich auf ihn zu. Er sieht mich stumm an. Ich zögere nicht, als ich mich an ihn klammere, als hinge mein Leben von ihm ab. Die Fingernägel bohren sich in den Stoff des Oberteils. Der Zwanzigjährige hält sich zurück, ehe ein Ruck durch ihn geht und er die Arme um mich legt. Und mich fest an sich drückt.

Tränen bahnen sich in die Augenwinkel. Ich schluchze kaum hörbar. Der Damm bricht. Risse erscheinen, aus denen Wasser rieselt. Dann tröpfelt. Und schließlich hervorschießt, als wäre ein Hydrant explodiert.

„Es tut mir alles so leid", vernehme ich seine erstickte Stimme, „ich wollte das nicht. Ich ..."

„Ich verzeihe dir", unterbreche ich ihn dünn. „Lass' uns diesen ... diesen Scheiß vergessen und neu anfangen." Ich lasse ihn etwas widerwillig los und fasse stattdessen nach seinen Händen. „Fast jede Nacht, ja? Ich habe fast jede verdammte Nacht geweint, weil ich dich so sehr vermisst habe. Die Sehnsucht nach dir war unerträglich." Ich schließe meine Augen, als er mit dem Daumen die Tränen fortstreicht. „Dieses Jahr ohne dich war nicht zum Aushalten."

„Ja, so ist es mir auch ergangen." Auf seinen einst breiten Unterarmen haben sich dünne Linien in die Haut gebissen. „Hätte ich nicht meinen Vater oder Jevhen gehabt, hätte ich mir den Garaus gemacht." Fünf Linien. Alle horizontal. Unterschiedlich dick. „Es wird besser, weißt du? Mein letzter Ausbruch liegt jetzt fünf Wochen zurück. Ich habe bis heute keine Auffälligkeiten gezeigt." Mikołaj flechtet seine Finger in meine. „Mein Vater meinte, ich wäre bereit."

„Da hat er nicht ganz unrecht." Ich sehe ihm in die kristallklaren Augen. „Wollen wir zusammen einen Neuanfang wagen?" Er nickt nur. „Gut." Ein flüchtiger Kuss auf die Wange. Mikołaj lächelt ein wenig los. „Es bleibt übrigens dabei."

„Wobei denn?", hakt er leise nach.

„Na, dass ich dich immer noch liebe." Seine Hände schieben sich um meinen unteren Rücken. Ich schmiege mich mehr an ihn.

„Ach, wirklich? Findest du es nicht auch besser, wenn man seine Liebe auf einem anderen Wege zeigt?"

„Auf welchen denn?", frage ich bewusst ahnungslos nach. Es ist schön zu merken, wenn sich die Atmosphäre allmählich auflockert.

„Tu' nicht so ahnungslos", flüstert er und beugt sich mehr zu mir. „Du weißt es, sonst hättest du keinen Schnitt von eins Komma fünf erreicht."

„Damit hat es nichts zu tun", gebe ich amüsiert zurück.

„Doch, ich finde schon."

Seine Lippen suchen nach meinen. Schmetterlinge stoben durch mich und drohen, mein Herz zu überfordern. Warme Wogen fluten mein Unterbewusstsein. Keine Schatten huschen durch diesen, alles wird in goldenem Glanz gehalten. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, das mich in diesem Augenblick im Griff hat. Auch die Tatsache, dass ich nun Mikołajs erste Freundin bin – es ist kaum zu begreifen.

Er lächelt sich aus dem Kopf. Sie streifen meine Stirn.

„Ich liebe dich, Jess", haucht Mikołaj. „Ich könnte vor Glück platzen, dass du jetzt meine Freundin bist." Er schielt zu den Erwachsenen. „Dass die sich freuen, war mir klar. Das wird ein Gerede geben." Sein Blick fokussiert sich auf mich. „Wir haben eine Menge aufzuholen."

„Lass' sie doch." Ich schwebe auf Wolke sieben. Der Ton schwerelos und besonnen. „Ja, das denke ich auch."

„Und ich muss wieder anfangen, mehr Sport zu treiben. Ich will nicht wie der letzte Lauch vom Dienst aussehen." Ein ernster Ton, der mich zum Schmunzeln veranlasst. „Na, was denn? Ich wette mit dir, dass ich keine hundertvierzig Kilo Kreuzheben mehr schaffe. Nicht 'mal siebzig. Sicher nur tolle zwanzig."

„Du sieh erst 'mal zu, dass du endgültig von diesem Teufelszeug wegkommst." Ich schließe halb die Augen. „Dann sehen wir weiter."

Mikołaj schnaubt leise und erwidert nichts weiter. Vorerst nicht.

„Ich störe euch ungern, ihr beiden Turteltauben. Schön, dass ihr endlich zusammengekommen seid. Wir wollen zu Kaden fahren. Dort den Nachmittag genießen, bevor's abends losgehen wird. Zumindest mit der ersten Feier." Ich löse mich von Mikołaj und schaue zu Jakub. „Ihr gehört wie Pech und Schwefel zusammen." Er lächelt. „Bei Kaden könnt ihr gerne weiterkuscheln."

„Richtig. Auch Magneten schaffen es, sich voneinander zu lösen." Mein Vater tritt zu Jakub. „Wenn ich also bitten darf, Mikołaj?"

„Ausnahmsweise", sagt er und nimmt die Hände von mir. Ich kichere leise und ergreife die Hand meines Vaters. „Was gibt's eigentlich nachher bei euch?"

„Wir werden grillen. Leichte Kost. Du sieh bloß zu, dass du wieder mehr auf die Rippen kriegst. Du siehst tendenziell schrecklich aus." Ich hake mich bei ihm unter.

„Als wüsste ich das selbst nicht", brummt Mikołaj.

„Stimmt. Weißt du was? Bei dir steht ab heute die Massephase an."

„Habe ich hier gerade etwas von Massephase gehört?", mischt sich Jevhen in das Gespräch ein. Er scannt Mikołaj. „Ach, Gott. Was ist denn mit dir passiert?" Der Zwanzigjährige verdreht die Augen. „Soll ich dich Mikolauch nennen?" Mein Vater lacht sofort los. „Nein, nein. Spaß. Wir kriegen dich wieder auf Sportlerniveau. Du baust schneller Muskeln auf, als du denkst."

„Leute!", erhebt mein Vater seine Stimme und sieht uns alle an. „Ich lege einen kleinen Cut ein. Wir fahren jetzt zu mir, feiern in den Abend hinein, natürlich erst einmal ohne Alkohol. Auch während des Abends, es sei denn, ihr wollt in den nächsten Straßengraben fliegen." Ein kurzer Blick zu Jevhen. „Erst wenn wir morgen früh wieder bei mir sind, werden wir uns absichtlich betrinken, denn ihr alle werdet bei uns übernachten. Da stehen ausreichende Räume zur Verfügung. Geht das so in Ordnung? Wenn Widersprüche, dann bitte keine."

„Oh, ja. Vorsätzliches Betrinken. Lang' lebe der dreihundertdreiundzwanzig a nach deutschem Gesetz!" Jevhen grinst verschmitzt und gibt das Wesentliche an seine Frau weiter.

„Für solche Fälle hat man den geschaffen." Mikołaj runzelt die Stirn. „Okay, dann wäre das geklärt. Dann geht's los." Mein Vater begleitet mich zum stattlichen Bugatti. „Hey! Nicht anfassen oder ihr liegt schneller unter Auto, als ihr laufen könnt!" Er verengt die Augen. Eine Schar Mitschüler hat sich um das Monster versammelt. Sie knipsen Fotos, einige gehen um den Sportwagen herum oder malen die Kontur des Spoilers nach. „Weg mit euch!"

„Bleib' locker", sage ich beschwichtigend und sehe zu, wie die Mehrheit der Jungs die Fliege machen. Zwei entfernen sich betont lässig. „Wann sieht man schon so einen Hypersportwagen?" Er öffnet für mich die Beifahrertür. „Schnauz' Jevhen an, dass er seinen Dicken vorfahren soll." Bestimmt bezieht sich der Spitzname auf das breite Heck des Audis.

„Stimmt. Da war noch etwas." Meine Mutter hat meine Habseligkeiten an sich genommen. So auch mein Handy. „Jevhen! Beweg' deinen breiten Arsch zum Audi und fahr' den weg!" Ich schüttele amüsiert den Kopf.

„Schnauze!"

„Die kannst du halten, Hulk." Mein Vater setzt sich ins Fahrzeug und schließt die Tür. Aktiviert das Auto mittels Knopfdruck. „Ein herrliches Gefühl." Ein sehr starker Motor. Tausendfünfhundert PS. Kein Wunder, dass er ein reiner Blickfänger ist. Sie machen Fotos. Von uns. „Der Tag wird der beste deines Lebens. Das verspreche ich dir, Kleines."

„Das ist er längst", murmele ich lächelnd.

Erst wegen Mikołaj, dann wegen der sehr guten Leistung. Und wegen meiner Familie und den nun neu gewordenen Freunden meines Vaters. Ich schätze, das Leben kann doch perfekt sein. Man muss nur das Gute sehen und es sehen wollen.

Er wird besser. Dieser einzigartige Vormittag ist nur der Anfang gewesen.

Der Anfang eines perfekten neuen Lebensabschnittes.

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