33 - Niemand ist allein
Aus der Sicht von Kaden
„Mach' mich los! Ich will los!" Mikołaj versucht nach wie vor, die Schnallen von seinen Beinen zu entfernen. Jakub und Kaden hingegen wollen dies verhindern, nur lässt der tobende Junge sich nicht zurück auf das Bett drücken. „Ich bring' euch sonst um!" Er holt zu einem gefährlichen Schlag aus. Jakub, der sich soeben in halber Deckung begeben hat, schnellt hervor und packt ihn bei den Handgelenken. „Nein!" Als würde man einem Tornado mit einer Schaufel vertreiben wollen. So in etwa fühlt sich die Lage an. „Ich bring' dich um!" Mikołaj schüttelt wie wild seine Arme, aber Jakub lässt nicht locker. Wütend und erschüttert zur gleichen Zeit, schafft er es mit Kadens Hilfe, den Jungen nach unten zu pressen. Es ist nicht leicht, den Gurt um die zuckende Brust zu spannen. Kaden überhört die vielen Drohungen und Beleidigungen.
„Warte. Ich halte ihn fest." Das Verlangen ist groß, ihm eine kräftige Ohrfeige zu verpassen. Kaden beherrscht sich Jakub zuliebe. „Ich hab' ihn." Er umfasst die Handgelenke so fest, dass Mikołaj vor Schmerz zischt und sich nun auf Kaden konzentriert. „Reiß' dich zusammen." Natürlich hört der Neunzehnjährige nicht auf ihn. „Meine Fresse." Ein Arm wäre fixiert. „Gut festhalten." Jakub schweigt, tut allerdings, was Kaden von ihm verlangt. Der Griff ist nicht so stark wie bei ihm. Kaden bringt die letzte Hürde hinter sich. Mikołaj knurrt frustriert. Wie rasch die Emotionen umschlagen. Vor einigen Augenblicken ist er ein Auffangbecken für sämtliche Trauer und Verzweiflung gewesen, und jetzt ein in Raserei verfallener Wirbel. Er ist selbst anwesend gewesen, als Mikołaj seinen Bruder angerufen hat. Als seine Tochter ihre Gefühle für ihn gebeichtet hat. Er hat sie manchmal gehört, mitten in der Nacht. Es ist immer Alaina gewesen, die zügig zu ihr gegangen ist und sie in den Arm genommen hat. Es hat ihm im Herzen wehgetan, sie so zu hören.
Und ganz plötzlich weicht die Anspannung aus ihm. Ein lautes Ausatmen, ein schwaches Beben. Die Finger zucken unruhig. Er ist heiser geworden. Die Lippen sind ein wenig geteilt. Kaden mustert ihn forschend. Mikołajs Gesicht ähnelt einer ausdruckslosen Maske. Der starre Blick verlorengegangen. Er blinzelt träge. Wie ein Gefangener seiner eigenen Welt. Seiner eigenen Hölle.
„Sie darf mich nicht alleinlassen." Er hört sich distanziert an. Fern. „Ich schaffe es nicht allein." Er wiegt den Kopf hin und her. Jakub und Kaden tauschen einen stillen Blick aus. „Ich bin zu schwach." Ein tiefer Seufzer. „Hm? Ja, das wäre der richtige Weg." Die Lippen verziehen sich zu einem traurigen Lächeln. „Da gäbe es eh nichts mehr, was mich hier festhalten könnte."
„Wir sollten nach draußen gehen", murmelt Kaden Jakub zu, denn er hat festgestellt, dass Mikołaj mit dieser scheußlichen Stimme redet. Er ist sich bewusst, was sie ihm rät. „Einer der beiden soll ihn in den Schlaf schicken. Er ist mit sich fertig." Kaden legt Jakub eine Hand auf den Rücken und drängt ihn vorsichtig zu der schweren Tür. Der Dreiundvierzigjährige sträubt sich sehr leicht dagegen, jedoch erlischt der Widerstand wieder. Jevhen hat sie die ganze Zeit über beobachtet. Er lässt Jakub vorbei. Ein flüchtiger Blick zu Mikołaj, welcher in ein Gespräch vertieft zu sein scheint.
„Ich gehe nach oben." Und dann ist er weg. Hat Jevhen und Kaden allein gelassen. Sie folgen ihm nicht, setzen sich stattdessen auf die beiden Stühle. Noch ehe Kaden ein Gespräch anfangen kann, lugt Richard zu ihnen hinein. Kaden gibt die Entscheidung durch. Die, welche er nicht wirklich mit Jakub abgesprochen hat. Richard nickt knapp und huscht fort. Jevhen lehnt sich ein wenig zurück, sodass der Stuhl leise ächzt. Die muskelbepackten Arme sind vor der breiten Brust verschränkt.
„Ich habe ihn seit dem elften Lebensjahr nicht mehr weinen gesehen", eröffnet der Sechzigjährige das Gespräch. Eigenartig, denn diese Stille fühlt sich wie eine dicke Decke an. Kaden blinzelt leicht und sucht Jevhens dunklen Blick. Dieser wiederum schaut zu Mikołaj. Der Junge nimmt von Richard keine Notiz. Es fällt ihm nicht einmal schwer, die Nadel in die empfindliche Haut zu bohren. Kein Widerstand, nicht einmal ein gewöhnliches Zusammenzucken. Die körperlose Stimme hat ihn in ihren düsteren Bann gezogen. „Er hat wohl mit deiner Tochter telefoniert? Zumindest habe ich ihren Namen gehört."
Kaden steht auf, um Richard herauszulassen. Der schlanke Mann erwähnt, dass Mikołaj innerhalb von zehn Minuten in einen traumlosen Schlaf fallen wird. Acht Stunden würde er andauern. Der Händler antwortet kurz und sieht Richard nach, der nach links abgebogen ist. Er kehrt zu Jevhen zurück. Bezieht den alten Platz, nachdem er die knarrende Holztür angelehnt hat. Das Licht in Mikołajs sehr spärlichem Raum ist fahl. Es verteilt mehr Schatten als Licht.
„Erst mit seinem Bruder, aber Jakub wollte, dass er mit Jess redet." Kaden verfolgt Mikołajs Bewegungen. Sie hören nach und nach auf. „Er sollte ihr sagen, dass er sich in sie verliebt hat, zumal man nicht weiß, wie lange der Entzug dauern wird." Der Körper hat seine Ruhe wiedererlangt. „Jess und er haben einander ihre Gefühle gestanden. Nun ja. Dann sind seine Wahnvorstellungen dazwischengekommen. Mikołaj hätte Jakub beinahe erwürgt, hätte ich nicht rechtzeitig eingegriffen." Er sollte nicht vergessen, dass Mikołaj aktuell nicht er selbst ist. Es ist nur schwer zu verstehen. „Ich schätze, du hast recht. Ich sollte so langsam versuchen, sie zu unterstützen. Ich werde es schlecht verbieten können, ihre Gefühle für ihn." Kaden lässt seinen Blick nicht vom inzwischen schlafenden Jungen ab. Wie friedlich er auf einmal erscheint. Völlig frei von Schmerzen, Krämpfen. Von seinem körperlosen Dämon im Kopf.
„Nichts ist je einfach gewesen." Jevhen sieht ihn an. „Es ist aber gut, dass du endlich gewillt bist, ihr zu helfen. Sie wird dir sehr dankbar sein. Du würdest ihr mit dieser Entscheidung zeigen, dass du doch ein gewisses Etwas an Vertrauen in Mikołaj hast." Keine Antwort von Kaden. Irgendwie missfällt ihm diese Tatsache. „Wir sollten gleich nach ihm sehen – es ist egal, wenn er sagt, er brauche einen Moment für sich. Gerade jetzt sollte er auf uns zählen können."
„Ja." Kaden will das Thema potenzielle Beziehung beenden. Er findet, dass dies ein ungünstiger Zeitpunkt ist. „Wir sollten jetzt hoch." Ohne auf Jevhen zu warten, steht Kaden wieder auf und tritt hinaus aus dem halbdunklen Raum. Zielstrebig sucht er die Treppe nach oben auf. Und doch driften die Gedanken zu dem eben Geschehen zurück. Hat den völlig aggressiven Jungen vor Augen, der seinen eigenen Vater gefühlskalt angegriffen hat. Kein Funken Mitleid. Kaden könnte sich in dieser Hinsicht selbst verfluchen. Gerade bei Jakub ... Er schüttelt sehr langsam den Kopf. Wenn seine jahrelange Tätigkeit eine schlechte Eigenschaft bei ihm entwickelt hat, dann die. Er betritt den lichtlosen Flur. Jakub hält sich in der Küche auf. Und macht keinen kummerfreien Eindruck. Ohne weiter im Gedankensumpf zu versinken, nähert Kaden sich seinem neu gewordenen alten Freund. Wenn man genauer hinschaut, kann man blasse rötliche Striemen auf der hellen Haut wahrnehmen.
„Er war nicht er selbst", beginnt Kaden ein wenig unbeholfen und beugt sich ein wenig zu Jakub. „Er hat nicht gewusst, was er da tat." Die rechte Hand ruht auf Jakubs Arm. Kein Zusammenzucken. Keine Regung. Nichts. „Mikołaj bereut es tief in seinem Innern." Zum Glück ist er bisher ein sehr erfolgreicher Finder von effektiven Worten gewesen. Wenn Kaden eine Sache sehr gut beherrscht, dann die Kommunikation, welche er sich vor dem Gespräch vorgestellt hat. „Er ist kein hundertprozentiges Monster – da gibt es immer einen winzigen Teil, der von der Droge unberührt ist."
„Du weißt gar nicht, wie es ist, unter dem Einfluss dieser scheiß beschissenen Droge zu stehen." Jakub hört sich verletzt an. Den Tränen nahe. „Er bereut es nicht, weil es keinen Teil von seinem früheren Ich gibt."
„Ach, nicht? Anders kann ich mir aber nicht erklären, weshalb er trotz Einfluss einige in Anführungszeichen normale Momente gehabt hat", widerspricht Kaden vorsichtig. „Mag sein, dass ich keine Ahnung habe, wie sich Entzugserscheinungen oder der Drogeneinfluss anfühlen. Ich habe genug Menschen gesehen, die aufgrund der Abhängigkeit jämmerlich gestorben sind. Ich habe also eine etwaige Vorstellung von dem." Jakub seufzt leise. „Gib nicht auf oder mach' dir irgendwelche Vorwürfe." Jevhens bullige Gestalt füllt fast den kompletten Türrahmen aus. Kaden bemerkt ihn in den Augenwinkeln und wechselt daher ins Russische. „Jeder Anfang ist verdammt scheiße und vor allem schwer. Aber wer hat denn gesagt, dass jeder Weg unmöglich ist? Es gibt genug Möglichkeiten – und seien sie noch so verrückt oder schwierig –, um sie zu bezwingen. Jevhen hat dich auf Vordermann bringen können und hat mit dir sogar einen kalten Entzug durchgezogen. Was sind elf Jahre im Verhältnis zu fast zwei Monaten? Ich würde sagen: Fast gar nichts. Du hast bei jeder noch so kleinen Entzugserscheinung einen Anfall erlitten. Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern, denn du wolltest mir manchmal an die Gurgel."
„Richtig", erhebt Jevhen seine tiefe Stimme, „gerade beim warmen Entzug werde ich alles daran setzen, dass Mikołaj nie wieder an diesen Scheiß denken wird. Er wird zudem so gut wie gar keine Schmerzen erleiden." Jakub sieht beide mit betrübten Augen an. „Du fühlst dich beschissen. Das würde jeder von uns tun. Wer sieht denn sein eigenes Kind gern unter dem Einfluss einer gefährlichen Droge?" Er kommt auf Kaden und Jakub zu. „Wir kriegen ihn wieder in Ordnung, Jakub. Das verspreche ich dir."
„Könnt ihr mich auf andere Gedanken bringen? Ich könnte mir glatt wieder die Augen ausheulen." Jakub schließt halb die Augen. „Ich will mich nicht noch blöder fühlen." Er atmet tief durch, blinzelt danach schnell. Der Ton zeugt von keinem Selbstbewusstsein.
„Hast du denn noch Bier übrig?", will Jevhen erfahren.
Jakub lächelt unbewusst schief.
„Wenn ihr beide etwas wollt, müsst ihr selbst nachgucken gehen. Ich will kein Alki sein. Den Kummer kann ich auch ohne Bier loswerden." Er legt beide Hände auf die dunkelblaue Oberfläche der Kücheninsel. Kaden mustert die Tattoos.
„Loyalität", entziffert er den Schriftzug auf seinem rechten Unterarm. „Worauf beziehst du das?"
„Ich brauche heute nicht mehr zu fahren." Jevhen sucht die Speisekammer auf. „Und du bist dir ganz sicher, dass du nicht willst?"
„Greif' ruhig zu, Jevhen. Ich bleibe beim Nein." Der Pole dreht den Arm mehr nach innen. „Loyalität ist für mich persönlich die wichtigste Eigenschaft eines Menschen. Loyalität schafft Vertrauen. Und genau wie Vertrauen ist Loyalität ein sehr wertvolles Gut, denn nicht jeder ist fähig, jemanden treu zu sein." Das Tribal auf dem linken Arm soll wohl die vielen Narben verhüllen. „Ich war dir sehr loyal gegenüber. Über viele Jahre. Dann war ich es gegenüber Jevhen und Jacek. Jetzt Sarah." Sieben unterschiedlich dicke Linien auf Höhe der lebensspendenden Ader. „Bis heute." Jakub starrt die Narben an. „Die seien zu empfindlich, um sie zu covern. Die Nadel hätte sie verletzt. Deshalb muss ich sie leider jeden Tag sehen." Was auch immer Jevhen so lange in der Kammer macht. „Das habe ich vorhin gemeint. Die Droge ist eine der schlimmsten, die man bisher in Umlauf gebracht hat." Jakub lächelt eigenartig. Traurig-fröhlich. „Auf dem Rücken habe ich mir auch ein Tribal stechen lassen, nur in Form eines Drachen. Dazu zwei russische Wörter. Ehre und Familie. Und auf der Brust ... schwarze Flammen. Ich hatte anfangs vor, den kompletten Oberkörper zu tätowieren. Nur Sarah fand's nicht so schön. Sie versteht zwar, dass ich nicht mehr an meine Vergangenheit erinnert werden will, nur ... Ich soll es aus ästhetischer Sicht nicht übertreiben."
„Die sind ziemlich gut geworden", erlaubt sich Kaden die Bemerkung und studiert die kunstvollen Linien und Formen. „Man achtet mehr auf die Bilder anstatt auf die Narben. Die gehen da unter." Kaden gestattet sich ein Lächeln. „Ich habe auch welche." Jakub hebt verblüfft die Augenbrauen. „Ich habe es endlich durchgezogen. Es sind relativ kleine, auf dem hinteren oberen Rücken. Das Datum, an dem ich geheiratet habe, das Geburtsdatum meiner Tochter. Ihr Name und ihr Tag mit einer schwarz-weißen Rose. Alainas Namen mit einem Ring."
„Mutig von dir, sich Namen zu tätowieren", meint Jakub leise, „ich würde es persönlich niemals machen, auch dann nicht, wenn ich mit Sarah fünfzig Jahre verheiratet bin." Er schaut unweigerlich zu der Speisekammer, denn dort hat etwas hörbar zugeschnappt. „Jevhen, was zur Hölle machst du da drinnen? Isst du dich durch die ganzen Lebensmittel, oder was?"
„Für mich ein sehr besonderer Liebesbeweis, bei dem ich mir mehr als sicher bin, dass er für die Ewigkeit bestimmt ist." Kaden prustet sofort los, als Jevhen heraustritt. In der linken Hand eine Mausefalle.
„Sag' mir nicht, du hast dir die Finger eingeklemmt. Oder ... Mann, warum bringst du das Vieh hierher? Wirf das Ding weg. Die ist mehr als tot."
„Warum ist die so fett? Hast du die gemästet?" Jevhen sieht sich die Mausefalle mit dem leblosen Tier an, als müsste er es studieren. „Junge, Junge – die ist nicht schwanger. Die ist fett. Weißt du? Da willst du gerade 'rausgehen und schon schnappt das Teil direkt neben dir zu. Die muss wohl 'reingerollt sein." Jevhen geht an den beiden anderen vorbei und öffnet die Tür. „Ich werfe gleich die ganze Falle weg." Kaden macht sich aufgrund der hereinströmenden Kälte etwas kleiner.
„Die läuft seit einer längeren Zeit durch die Wände. Lustigerweise hat sie sich durch den Süßigkeitenvorrat von Łukasz gefressen", erinnert sich Jakub nachdenklich, und Jevhen geht wieder hinein. „Da wollte er sich etwas herausnehmen, und die dicke Maus fällt gleich mit heraus. Der hat vielleicht einen Schreikrampf bekommen. Innerhalb von fünf Tagen. So schnell hat dieses Viech an Gewicht zugelegt." Jakub schnaubt leise. „Aber alles noch besser als dieses Spinnenmonster in der Garage."
„Sag' mir nicht, dass du vor Spinnen Angst hast", ruft Kaden schelmisch.
Jakubs Augen werden für eine Sekunde groß.
„Hast du die schon 'mal gesehen?" Er verdeutlicht die Größe, indem er Daumen und Zeigefinger für Kadens Geschmack etwas zu ausgiebig weitet. „So'n Monster, das sag' ich dir. Die saß genau vor der Garagentür. Die Vorderbeine hochgehalten, als würde die auf Stress aus sein." Er schaudert. „Ich habe nichts gegen Spinnen, echt nicht. Nur gegen solche Monster, die du auch aus gefühlt zwei Kilometern Entfernung siehst." Jevhen lacht. „Ich habe mich nicht in die Garage getraut. Keine Ahnung, ob die da immer noch ist – würde mich sogar nicht wundern, wenn die in meinem Wagen sitzt."
„Dann siehst du den Porsche wegfahren. Die Spinne hockt am Steuer." Kaden räuspert sich amüsiert. „Ja, gut. Die mag ich auch nicht. An dem Tag warst du nicht da – Julien und ich waren draußen bei unseren Autos. Ich wollte etwas entsorgen und wäre fast auf diese dicke Spinne getreten. Hier, diese schwarzen Winkelspinnen; wenn die klein sind, sind sie akzeptabel. Aber nicht, wenn sie ausgewachsen sind. Ich habe sievor Schreck ohne Scheiß erschossen. Ich wusste nicht mehr weiter."
„Ja, von wegen, wer hat hier Angst vor Spinnen, hm?" Jakub stupst ihn an. „Du verstehst mich."
„Wie man es nimmt."
„Ihr seid komisch. Spinnen sind ziemlich interessante Lebewesen." Jevhen spielt mit der grünen Flasche herum. „Je dicker und größer, umso besser. Die dicken Spinnen sind nicht einmal giftig." Der Ukrainer trinkt. „Erschießen ist besser als Niederbrennen. Da gab es 'mal einen Irren aus Kiew, der seine Wohnung vorsätzlich abgefackelt hat, weil es dort Ungeziefer gab." Jevhen hört sich völlig galant an. „Der war ein verrückter Aluhutträger."
„Solche Leute kann man gleich zum Mond schießen", meint Jakub spöttisch. „Ich war letztes Jahr für eine Woche bei Jacek. Der wohnt immer noch in Krakau. Vier verdammte Tage, ja? An diesen Scheißtagen kamen die vorbei und wollten ihm klarmachen, dass die Regierung uns alle verstrahlt. Wie viel Kleber muss man denn geschnüffelt haben, um so sehr von dieser Scheiße überzeugt zu sein? Der sah auch schon danach aus, als würde er in seiner Freizeit Dreiecke tanzen, um den Strahlen auszuweichen." Jakub kehrt tatsächlich von den heimtückischen Sumpf ab; er hört sich deutlich unbeschwerter an. „Ich hätte diese Deppen gerne rund gemacht."
„Also rein theoretisch genügt ein normaler Kleber. Man müsste konsequent dran schnüffeln, als würde man ihn inhalieren", wirft Kaden beiläufig ein. „Legal High mal anders."
„Steig' doch auf Kleber um", schlägt Jevhen grinsend vor.
„Natürlich. Larkin, der professionelle Händler, der seinen Kunden gerne eine klebt." Jakub grinst selbst los. „Da kann ich auch gleich Staubsaugervertreter werden." Neo tappt in die Küche. Er äußert sich laut, nachdem er vor seinem leeren Napf stehengeblieben ist. „Nee, lass' mal. Legal Highs sind nicht mein Gebiet. Diese Scheiße ist mir zu kompliziert. Ich habe außerdem keine Kontakte in China." Jakub schiebt sich vom Hocker und geht der dringlichen Aufforderung seiner Hauskatze nach. „Dann müsste ich auch noch Mandarin lernen – auf frühzeitige graue Haare verzichte ich dankend."
„Was hat denn China damit zu tun? Legal Highs? Noch nie 'was 'von gehört."
„Warte. Habe ich dich richtig verstanden? Als ehemaliger jahrelanger und INTERNATIONALER Drogenhändler kannst du nichts mit Legal Highs anfangen?", hakt Kaden verständnislos nach. „Dann kannst du niemals Drogenhändler gewesen sein. Ich bin enttäuscht von dir, Jevhen."
„Legal Highs. Ich verkaufe doch keinen Scheiß, der legal ist. Mensch, ich hatte mich auf Verbrechen konzentriert und nicht auf die gezielte Versorgung von stimmungswütigen Teenager", brummt der Sechzigjährige.
„Belassen wir's. Darüber diskutieren brauchen wir nicht." Kaden beobachtet Jakub, der seine Katze versorgt. Als besäße Morpheus einen neuartigen Sinn, erscheint der alte Kater und eilt zu seinem Herrchen. „Die Reinstoffe für diese Kräutermixturen kommen hauptsächlich aus China. Die gelangen über diverse Transportwege nach Europa. Legal Highs dahingehend, weil nur ein Beistoff leicht verändert werden muss, damit der Scheiß nicht mehr unter die aktuellen Gesetze fällt. In Deutschland ist das das sogenannte Neue-Psychoaktive-Stoffe-Gesetz. Die kommen gar nicht mehr hinterher, weil es so viele neuartige Mischungen gibt. Wenn man sich mit dieser Materie sehr gut auskennt, kann man locker in meiner Liga spielen. Im Gegensatz zu mir würde man auf Messers Schneide stehen. Ein Fuß im Gesetz, den anderen im Verbrechen." Interesse funkelt in Jevhens Augen. „Es wäre daher empfehlenswert, wenn man gewisse Kontakte in China spielen lässt. Die stellen ja die Basis her und schiffen ihn durch die Welt. Man würde sich eine Menge Arbeit und Aufwand ersparen."
„Ziemlich spannend", meint Jevhen gespannt.
„Das ist es auch. Ich habe lokale Läufer in allen Großstädten Deutschlands. Gerade in der Partyszene kann man ordentlich scheffeln und erfährt viele neue Nachrichten, die sogar für mich wertvoll sind." Für die Dauer des Entzuges hat Kaden mit seinen beiden Mittelmännern das zukünftige Vorgehen abgesprochen. Sie werden etliche Bereiche von Kaden übernehmen. Er selbst würde nur in absoluten Notfällen aktiv werden. „Man erfährt hier und da neue Substanzen, die aktuell gefragt sind. Ich persönlich sehe bisher keinen erfolgsversprechenden Nutzen für mich – ich würde mehr Geld ausgeben als dass ich es einfahre. Immerhin tue ich auch nichts anderes, als zu kaufen und zu verkaufen." Jakub hat die siamesische Katze hochgehoben und krault liebevoll das weiche Fell. Der Stubentiger hat den Kopf an Jakubs Wange gedrückt und scheint zu schnurren. „Gerade bei PCP scheine ich den Umsatz zu steigern. Höhere Nachfrage. Da kann ich wieder überlegen, ob ich die Preise höher schraube."
„Nicht Kokain?" Die Flasche ist bereits bis zur Hälfte geleert worden.
„Doch, doch. Bleibt nach Gras die Nummer eins", nickt Kaden, „gerade bei mir. Ich verspreche sehr gute Qualität. Von der Ernte, zur Verarbeitung, zum Transport bis hin zum Verkauf. Da wird selten etwas mit Mehl, Back- oder Waschpulver gestreckt." Jakub geht mit Neo etwas umher. „So ganz unter uns: Ich habe Einfluss bis ganz nach oben. Du glaubst gar nicht, wie viele von denen Drogentaxen bestellen. Die schleppen mehr Koks als Unterlagen in ihren Taschen herum. Keiner dieser Regierungsvertreter hat ein ordinäres Bild. Alles falsch." Kaden richtet sich leicht auf. „Kokain ist eine sehr feine Droge. Keine Gesellschaftsschicht ist vor dem Schneefall sicher. Da hat jeder ein Näschen voll. Vom Fußmattenschläfer bis zum Sesselscheißer." Jakub hat das Tier heruntergelassen. Neo stielt sich an ihm vorbei und gesellt sich zu Morpheus. „Ich habe vor knapp einem Monat mit Jakub über ein mir wichtiges Thema gesprochen. Wenn die Zeit soweit ist, werde ich noch einmal auf dich zurückkommen."
„Wie laufen eigentlich generell die Geschäfte? Machst du nicht öfter Verluste? Habe gehört, die kontrollieren nun viel stärker?" Jevhen nickt bedächtig. „Ach, ja? Nun, da darf ich also jetzt schon gespannt sein."
Jakub setzt sich neben Kaden, um sich mehrere Schlucke aus der Wasserflasche zu genehmigen.
„Bei Kokain, ja. Nicht bei PCP. Die scheint wohl noch irrelevant zu sein. Okay, das ist nicht das richtige Wort – sagen wir: PCP ist aufgrund der relativ schwachen Konsumentenstärke noch nicht so bekannt beziehungsweise gefragt." Jakub hält sich zurück. „Gerade die südamerikanischen Sicherheitskräfte machen mir häufiger das Leben schwer. Ist nicht schön zu wissen, wenn deine Leute dort drüben dir mitteilen, dass sie gute Ware verloren haben. Zweihundert Kilogramm einfach so weg, das tut am Ende schon weh. Da hätte ein hübsches Sümmchen herauskommen können." Die Katzen fressen hörbar. „Vernichten die Pflanzen, heben die Labore im Dschungel aus, verhaften Bauern, Chemiker, Produzenten, Lieferanten oder geschmierte Sicherheitskräfte ... Ist nicht schön zu hören. Beschlagnahmen deine Ware, die frisch und bereit zum Abtransport ist. Das bisher Schlimmste, was ich erlebt habe: Vier Tonnen futsch. Das hätten insgesamt sechshundert Millionen werden können. Hat schon gedauert, den Ärger zu verarbeiten."
„Wie gehst du neuerdings vor?", fragt Jakub.
„Nach wie vor über Seewege, aber seit einigen Jahren auch per Luftverkehr. Flugzeuge werden schwächer kontrolliert. Nun, wenn Seewege, dann werden die Pakete entweder mit der eigentlichen angemeldeten Ware transportiert. In einem vorher festgelegten Transitland werden die Waren umgelagert oder noch weiter gestückelt. Die haben sich einmal die Mühe gemacht und Doppelwände in die Container eingebaut. Machen sie kaum noch. Nicht wegen des Auffliegens, sondern wegen der Zeit. Es dauert zu lange. U-Boote sind bisher eine gute Taktik. Oder aber, man wirft gefüllte Tonnen ins Wasser und ortet sie mittels GPS-Tracker, der dort eingebaut ist. Die werden später eingesammelt."
„Ripp-on und off sowie down-on und off", fügt Jevhen nahezu nostalgisch hinzu.
„Du hast es erfasst." Kaden hört sich zufrieden an. „Die Hunde nehmen es nicht wahr, wenn man den Drogengeruch mit dem von Bananen, Mangos oder anderen Obstsorten überlagert. Da müssen wirklich die Sicherheitskräfte selbst heran."
„Sehr vielversprechende Methoden." Der Ukrainer gähnt leise.
„Man wird immer kreativer. Da präpariert man auch Obst, baut Kisten oder Container um oder mischt das Zeug gleich unter Mehl oder Zucker. Die lassen sich immer etwas Neues einfallen. Deshalb schätze ich die Bolivianer sowie Kolumbianer – die wissen, wie das Geschäft läuft. Die werden auch entsprechend entlohnt. Läuft alles über internationale Mittelmänner und verschiedenen ausländischen Briefkästen."
„Was ist eigentlich deine bisher beste Menge gewesen?", kommt die Frage von Jevhen.
„Hm, waren zwei Tonnen. Verteilt auf zwei U-Boote, einem Containerschiff und einem kleinen Flugzeug. Die Hafenmeister waren alle bestochen beziehungsweise geschmiert worden. Störenfriede wurden schnell beseitigt. Dreihundertfünfzig Millionen waren 'mal da. Die aufgebrachten Kosten waren echt ein Witz. Fünfhunderttausend. Lächerlich. Gleich beglichen und gut ist. Seitdem steigt der Betrag auf den Konten."
„Konten?"
„Ich habe mehrere. Eins in der Schweiz, eins in den USA und eins in Russland. Falls das Finanzamt meinen muss, ein Konto einzufrieren, kann ich immer noch auf die anderen zurückgreifen. Die laufen alle unter falsche Namen. Dementsprechend habe ich auch so viele Personalausweise, Führerscheine, Geburtsurkunden und den ganzen Scheiß, den man so für die Ämter braucht. Hm, wenn man es also so will, sitzen vor euch fünf verschiedene Personen."
„Und die spielen da mit, die deutschen Behörden? Wissen die denn nicht, wer du bist?", hakt Jevhen skeptisch nach.
„Niemand ist zu einhundert Prozent immun gegen Korruption. Spätestens dann, wenn man eine gewisse Summe nennt, knicken die ein", antwortet Kaden schulterzuckend, „die wollen auch nur ihre Familien ernähren. Die Angelegenheiten in Deutschland laufen alle auf den Namen von Alaina oder auf ihren Ehemann Maximilian Hübler. Ich bin quasi nicht existent."
„Verdammt, bist du gut aufgestellt", meint Jakub tonlos.
„Wenn man in meiner Szene überleben will, sollte man sich eine sehr solide Basis errichten." Morpheus tappt in das Wohnzimmer. „Sonst wirst du ganz schnell zum Opfer."
„Wie viel Geld hast du bereits?" Jevhen sieht Kaden neugierig an.
„Jetzt inzwischen ... Ich muss lügen, knappe zehn Milliarden. Aber nur, weil ich mich in den letzten Jahren dazu aufgerafft habe, sehr große Mengen zu handeln. Früher, am Anfang meines Weges, habe ich mir das sehr selten getraut. Mir fehlten die Feinheiten und Fertigkeiten. Die Kontakte waren nicht da. Ich hatte außerdem wenige Abnehmer."
„Was?"
„Was denn?", fragt Kaden ungerührt zurück. „Ist doch nur Geld."
„Ach du Scheiße." Jakub weiß nicht, wie er mit der Antwort umzugehen hat.
„Reicher als Pablo Escobar werde ich gewiss nicht mehr." Der Vierundvierzigjährige sieht nach draußen. „Der Typ war eine Legende im Drogengeschäft. Einmal Vorbild, immer Vorbild."
„Ich glaube, ich brauche doch ein Bier." Kaden lacht leise in sich hinein, als Jakub aufsteht. „Ein ganz starkes."
„Dann hol' mir auch eins her." Kaden mustert den worteverlorenen Jevhen. „Komm', du hast doch sicherlich auch so viel Geld auf dem Konto gehabt. Du hattest immerhin die komplette Ostseite unter Kontrolle."
„Ja, wow. Mit knapp siebenhundert Millionen bin ich natürlich in deiner Nähe." Er räuspert sich. „Wenn ich bedenke, dass ich meine Leute regelmäßig entlohnt habe. Glaube, ich hätte dann mehr herausholen können. Ich habe mittlereile nicht mehr so viel Geld. Gute fünfzig Millionen. Ich habe das meiste Geld Daryna und ihrer Familie vermacht. Ich bin jetzt ein einfacher Millionär, der die Vorzüge der Urkainischen oberen Schicht genießt."
„Deine Tochter wird also alles erben?"
„Natürlich. Sie soll sich und ihren Kindern ein gutes Leben ermöglichen." Jevhen neigt ein wenig den Kopf zur Seite. „Deine Tochter etwa nicht?"
„Sie will nichts mit meinem Geld am Hut haben. Jess ist da etwas eigen, wenn du mich fragst. Ich finde es per se nicht schlimm, wenn sie sich klar von meinen Aktivitäten distanziert – ich bin verdammt froh, dass unsere Beziehung darunter nicht leidet. Aber das mit dem Geld ... Sie will unabhängig von mir Geld verdienen. Sie hat sogar ihren ehemaligen Arbeitsplatz ihrer Ferienarbeit gewechselt, weil sie herausgefunden hat, dass der Betreiber einen gewissen Teil meines Geldes reinwäscht."
„Kannst du ihr denn nicht heimlich etwas überweisen?"
„Vergiss es. Sie ist nicht dumm. Wenn sie eine Sache von mir hat, dann das schnelle Durchschauen." Kaden nimmt Jakub das Bier ab. „Du kannst gerne deinen Schock verarbeiten, Jakubina." Die Flasche bleibt vor ihm stehen. „Mal schauen. Wenn ich merke, dass sie in finanzielle Not gerät, werde ich ihr trotzdem das nötige Geld überweisen."
„Sie wird dir so oder so dankbar sein." Jevhen stößt mit Jakub an. „Was ist mir dir, du irrer Raser? Ich dachte, du beziehst dein Geld aus den Rennen?"
„Das bedeutet trotzdem nicht, dass ich auch nur annähernd in den hundert-Millionen-Bereich oder Milliarden-Bereich komme. Wenn es ein sehr gutes Rennen ist, dann kann gerne eine halbe Million herausspringen. Ich bin mit meinen knappen fünfzehn Millionen sehr glücklich."
„Und dann kommt der Porsche, und macht den Gewinn wett", zieht Jevhen ihn belustigt auf.
„Wieso? Mittlerweile kann ich ihn selbst komplett restaurieren und wieder auf Vordermann bringen. Dafür bin ich ausgebildet worden." Kaden könnte glatt wieder etwas essen. „Ich spare weit über fünfzig Prozent der entstandenen Kosten."
„Der Bleifuß vom Dienst." Jakub nickt zur Bestätigung. „Du hast dich nie verändert."
„Du auch nicht, Larkin." Sie lächeln für einige Sekunden. „Es gibt eben Dinge im Leben, die sich nicht verändert gehören."
„Korrekt." Jevhen denkt nach. „Jakub? Du müsstest dir morgen meinen Wagen anschauen, jetzt, wo wir gerade darüber sprechen. Der Dicke meckert herum. Motorkontrollleuchte ist angesprungen."
„Ja, wozu hat man denn Freunde, die Mechatroniker sind, hm?" Der Pole lacht leise. „Aber klar. Kann ich morgen früh gern tun. Hauptsache, ich habe eine sinnvolle Beschäftigung."
„Wenn du schon dabei bist: Den Audi kannst du auch durchchecken." Jakub verdreht die Augen, und Kaden klopft ihm leicht auf den Rücken. „Du bist Goldwert, Jakub."
„Ich werde noch auf euch zurückkommen."
„Nur zu. Wir sind für dich da", wirft Jevhen fröhlich ein.
„Ganz genau, Arschikaski." Jakub will nach Kaden schlagen, nur erwischt er rechtzeitig das Handgelenk und drückt den Arm herunter. „Vergiss es, du Sack."
„Du bist einer."
„Nein, das kann nicht sein. Ich hab' höchstens ..."
„Halt' die Schnauze. Ich brauche darüber nicht mehr zu reden", unterbricht Jakub ihn amüsiert.
„Nicht? Das finde ich aber sehr schade." Kaden entfernt seine Hand. „Blödmann."
„Ich hab' dich auch lieb, Kaden." Jevhen schlägt ein zeitvertreibendes Kartenspiel vor. „Aber klar doch. Ich schau' nach." Und weg ist er.
„Wir brauchen mehr Alkohol", stellt Kaden fest. „Sonst kann ich mich nicht konzentrieren."
„Dann hol' schnell etwas, bevor Spackozaski wiederkommt", murmelt der Sechzigjährige ihm grinsend zu.
„Du wirst mir immer sympathischer, Jevhen." Kaden erwidert es und huscht in die Speisekammer. Der Abend beziehungsweise die angebrochene Nacht verspricht ein lebhaftes Programm. Immerhin hat er sein eigentliches Ziel erreicht; Jakub hält sich nicht mehr in der Nähe des Gedankensumpfes auf.
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