31 - Zwischen Fluch und Segen
„Es ist richtig, dass er oben geblieben ist. Danke, dass du ihn überzeugt hast. Ich denke, dass er diesen Anblick nicht hätte ertragen können." Jevhen blickt durch die dunkle Scheibe, unmittelbar zu dem unruhigen Jungen. „Als wäre er besessen. Stell' dir mal vor, wir hätten ihn nicht fixiert." Ein lauter Schrei, ähnelt eher einem tierischen Gebrüll.
„Entweder hätte er uns oder den Raum auseinandergenommen oder... Hm. Wobei ... Viel gibt es dort nicht zu zerstören. Dazu müsste er erst einmal den Tisch oder das Bett bewegen. Wird wohl etwas schwierig werden, wenn Beides an dem Boden angeschraubt ist." Beide Hände sind zu Fäusten verkrampft. Die Brust zuckt schnell nach oben und nach unten. Der gesamte Körper ist angespannt – Mikołaj stemmt sich mit aller Kraft gegen die weißen Schnallen. „Er wäre eher auf uns losgegangen." Kaden zuckt mit keiner Wimper, als der Junge urplötzlich verstummt. „Es fängt also so langsam an." Sie haben seine Werte vor einer halben Stunde gemessen. Die besorgniserregenden Faktoren? Der viel zu hohe Blutdruck und der rasende Puls. „Wie hast du die Verabreichungen der Gegenmittel geplant?"
Jevhen schaut flüchtig zu seinem Begleiter. Sie haben sich seit fünfzehn Minuten nicht von der Stelle gerührt. Dieser Vorraum ist klein und schummrig. Ein schlichter brauner Tisch mit zwei alten Klappstühlen. An der rechten Wand ein winziger Schrank, bei der eine Tür fehlt. Man kann nicht wirklich erkennen, was dort gelagert wird. Diese nackte Glühbirne strahlt ein erschöpftes Licht aus. Erstarrte Schatten harren auf den weißen Wänden und auf dem spärlichen Mobiliar aus.
„Das ist noch nicht alles. Jakub verhielt sich deutlich extremer und gefährlicher", meint Jevhen sachlich und scheint mit einigen Gedanken zu spielen. „Das hättest du sehen müssen. Da hättest du wirklich Angst gehabt." Kaden erwidert nichts. „Alle sechzig Minuten. Je nachdem, wie extrem die Entzugserscheinungen sind. Ich habe ursprünglich vorgehabt, mich an der Schwere des Entzuges zu konzentrieren. Wenn ich beispielsweise feststelle, dass Mikołaj mehr als zwanzig Minuten am Stück durchgehend schreit, werde ich ihm helfen." Keine Bewegungen, kein Laut. „Du kannst zu ihm gehen, wenn du willst. Er wird dir nichts tun. Stell' dich bloß darauf ein, dass er wieder schreien wird." Kaden hadert mit sich. Schließlich lenkt Jevhen das überzeugende Argument ein: „Ich sehe dir an, dass du dir gerne ein eigenes Bild machen willst. Ich vermute mal, dass das zum Teil mit deiner Tochter zu tun hat."
„Bleibst du hier?" Er macht Anstalten, zu der robusten Stahltür zu gehen.
„Wo soll ich sonst hin?" Jevhen lächelt leicht. „Ich behalte die Lage von hier aus im Auge. Geh' ruhig."
„Okay. Ich dachte nur, dass du ... zu Jakub willst. Eigentlich braucht er dich gerade mehr als Mikołaj dich." Kaden wartet nicht länger und betritt den erleuchteten Raum, in welchem Mikołaj liegt. Ein kräftiger Ruck, und die Tür ist verschlossen. Wenn er hinaus will, müsste er Jevhen informieren. Von innen lässt sich die Tür nicht öffnen.
Mikołaj wimmert. Manchmal krampft sich sein Körper ein wenig zusammen. Es kommt selten vor, dass solch ein Anblick ihn berührt und nicht kalt lässt. Insgeheim weiß er nicht, wie er reagieren soll. Was er für Gefühle offenlegen soll. Es kommt ihm surreal vor. Wie in einer anderen Welt, in welcher er nicht mehr als Drogenhändler tätig ist. In dieser düsteren und leidensvollen Welt wird er zum allerersten Mal mit den Qualen und Schmerzen der Konsumenten konfrontiert. Und Kaden kann dieses Mal nicht wegschauen. Also tritt er zögerlich zum Bett heran. Hinter sich spürt er Jevhens Blick. Kaden hält links vom Bett inne. Wagt einen ersten Blick. Und weicht unbewusst einen halben Schritt nach hinten. Sämtliche Farbe scheint den Neunzehnjährigen verlassen zu haben – er ist unnatürlich blass. Ein gruseliger Kontrast zu seinen nahezu weißen Augen, denn aufgrund der Entzugserscheinungen haben sich die Pupillen sehr verkleinert, sodass sie einem winzigen Fleck ähneln. Alles in allem, findet Kaden, sieht der Junge wie ein halbtoter Blinder aus.
Tränen rennen lautlos seine Wangen herab. Die Hände sind nicht mehr starr, die Finger ein wenig angewinkelt. Kaden kann rötliche Striemen erkennen, die sich in die Haut gebissen haben.
„Gib nicht auf." Was soll er schon sagen? Viel machen kann er nicht. Dazu ist er nicht imstande. „Ich kann ..." Ein langer, schmerzerfüllter Laut unterbricht ihn. Es ist, als würde Mikołaj ein Klagelied anstimmen, um all das Leid irgendwie zu überspielen. Er spiegelt sich überall wider, der Schmerz. Im Gesicht, im Körper. In der Stimme. In den nahezu schneeweißen Augen. Kaden wendet den Blick ab. Es ist zu viel. Der Drang ist groß, dem armen Jungen zu helfen. Kaden ist sich bewusst, dass die Heilung nicht innerhalb eines Monats eintreten wird. Dieser Entzug wird mehrere Monate in Anspruch nehmen. Wenn es nicht nach Plan läuft, dann sogar ein Jahr. Oder länger. Das wird einzig und allein auf Mikołaj ankommen. Wie er den Entzug wegstecken wird.
„Ich brauche es ..." Kaden sieht auf. „Gib es her." Wie ausgetauscht. Keine neuen Tränen schimmern auf den Wangen. Das Lied ist zu Ende. „Wo ist es?" Ein schnelles Hauchen. Atemlos.
„Was?" Doch Kaden ahnt bereits, was der Junge meint. Statt Leid und Pein ist eine fremde Wut dabei, Funken auf diesem Boden zu sprühen, um ein Feuer zu entzünden, dessen hungriges Maul die bisherigen Emotionen verspeist.
„Du weißt es." Sie schöpft an Lautstärke und mit ihr wächst der Zorn parallel an. „Wo ist mein Engel?" Mikołaj will sich aufrichten. Die gespannten Gurte um seine Brust, sein Becken, seine Handgelenke sowie Beine verhindern dies. Jevhen hat, bevor er erwacht ist, die letzte Fixierung entfernt. „Mach' mich los. Sofort." Kaden hebt eine Augenbraue und sagt nichts. Mikołaj knurrt wütend los und rüttelt an den Schnallen. „Sofort!"
„Hättest du wohl gern, was?" Kaden erwidert den lodernden Blick von ihm. „Damit du mir an die Kehle springen kannst, um mich umzubringen?" Zugegeben: Diese Fratze hinterlässt einen Saatkorn an Unbehagen in ihm. Kaden lässt sich nichts anmerken. „Du brauchst nicht so blöd zu grinsen."
„Ich werde dir den Schädel kaputt schlagen." Wie ein kranker Psychopath, der soeben jemanden getötet hat. Und sich darüber freut. So sieht Mikołaj gerade aus. „Dann werde ich dir jeden einzelnen Zahn ausschlagen. Vielleicht noch ein, zwei Knochen brechen." Ein aggressives Brüllen. „Du bist tot!"
„Natürlich, Mikołaj. Sonst noch etwas, das du mit mir anstellen willst?" Wie oft hat Kaden diese Ankündigungen oder unheilvollen Wünsche vernehmen dürfen? Er ist es leid. Es nervt. Die meisten Kandidaten, die so etwas von sich gesagt haben, sind mit einem Mundvoll Geschosse gestorben. Bei zwei wortwörtlich, obwohl er die Stelle zwischen den Augen beabsichtigt hat. „Vielleicht mir die Kehle aufschlitzen oder mich erschießen? Ich kenne sie alle. Da würdest du mir nichts Neues mehr erzählen."
„Mach' mich los! Ich will hier weg!" Er zieht und zerrt. Rüttelt an ihnen. Drückt die Handgelenke mit aller Kraft gegen das Material. „Ich brauche ihn!" Mikołaj lässt den Kopf auf das Kissen fallen. Das Feuer erlischt plötzlich. Was zurückbleibt: Ein verkohlter Boden. Eine Nährquelle für etwas Neues. „Sie sagt, ich soll ... ich soll sie umbringen." Mikołaj hört sich gedankenverloren an. Als würde er nicht wissen, dass Kaden in diesem Zimmer verweilt. „Und dann mich. Ich sei schwach, weil ich sie nicht umbringen kann. Ich sei ein ... Schwächling." Ein Monolog, und Kaden hört schweigend zu. „Ich kann nichts. Aber warum sagst du das?" Es ist diese finstere Stimme, von der Jakub etwas erzählt hat. Die körperlose Stimme im Kopf. Die irgendwo im hintersten Winkel ist und sich trotzdem so laut anhört. Als würde sie einem direkt etwas ins Ohr schreien. Man kann sie nicht unterdrücken. Nicht auf Dauer. Sie kommt immer wieder. So lange, bis der Entzug endgültig abgeschlossen ist. „Ich bin nicht schwach." Er schüttelt langsam den Kopf. „Nein ... Vergiss es." Kaden sieht zu der verspiegelten Wand. Ob Jevhen zuschaut? „Nicht er. Nicht ... Łukasz." Seine dunklen Augen erfassen die unruhig werdende Gestalt. „Nein!" Und dann, ein rasender Schmerz, der ihn anscheinend bis ins Mark erschüttert hat. Mikołaj stemmt sich mit der letzten verbliebenden Kraft gegen die Schlingen und reißt förmlich den Mund aus. Ein vor Schmerz triefendes Gebrüll erschüttert den Raum, und Kaden verzieht das Gesicht. „Hör' auf, hör' auf, hör' auf ... hör' auf!"
Jevhen hat die Tür geöffnet. Er legt Kaden eine Hand auf den Rücken, als das schwere Blatt in das Schloss fällt. Kaden stellt fest, dass Jakub erschienen ist. Er sitzt auf einem der Stühle. Hat die Finger ineinander gefaltet und hält sie an seine Stirn. Als würde er ein stummes Gebet absetzen. Kaden geht still zu seinem alten Gefährten. Stellt sich hinter ihm und berührt die breiten Schultern. Jakub sieht nicht auf. Kaden streicht behutsam über Jakubs Schultern.
„Ich habe Tanjev Bescheid gegeben. Er wird ihm etwas gegen die Wahnvorstellungen und Schmerzen verabreichen." Jevhen bleibt im Türrahmen stehen. „Dann wird er für die nächsten drei Stunden ruhig sein." Er lässt den Blick über Jakub schweifen. „Es ist für niemanden einfach."
„Ihr habt beide keine Ahnung." Jakub hört sich undeutlich an. „Das ist, als würde ich mich selbst sehen. Als hätte ich diesen verhassten Menschen von früher vor Augen." Jakub lässt die Hände sinken. „Wie ein verdammtes Déjà-vu." Kaden hat das Gefühl, dass Mikołaj sich die Seele aus dem Leib brüllt. „Ich ... brauche einen Moment für mich." Er steht auf und verlässt den Raum. Drängt sich etwas unnachgiebig an Jevhen vorbei.
„Hm, tatsächlich habe ich eine Menge Ahnung", gibt Jevhen von sich und verschränkt die Arme vor der Brust. „Es ist nicht das erste Mal, dass ich einen Entzug durchführe. Mit Mikołaj ist das hier der fünfte." Tanjev ist aufgetaucht. Ein hagerer Mann Ende der Dreißiger. Kaden hört nicht hin, als er Jevhen oder ihn um Hilfe bittet. Das Mittel müsse den schnellsten Weg zum Gehirn finden – das ginge vorzugsweise über den Hals, auch wenn sie ihm eine Kanüle angelegt haben. Kaden hat es mit angesehen, wie sie Mikołaj vorbereitet haben – ihm ist beim Anblick, wie die Nadel unter die Haut geglitten ist, schlecht geworden. „Natürlich. Kaden? Ich bin gleich wieder da."
„Hm? Oh, ja. Ja, ist okay." Mikołaj kommt nicht zur Ruhe. Kaden wendet sich ein wenig vom Spiegel ab und holt sein Handy hervor. Starrt das Hintergrundfoto an, ehe er das Gerät entsperrt. Mehrere Nachrichten von Alaina und zwei von Jess. Sie wollen beide wissen, wie der Zustand von Mikołaj ist. Jess fragt, wann sie zu ihnen kann. Sie sorge sich sehr um Mikołaj. Ein leiser Seufzer. Schon seit er den Neunzehnjährigen zum ersten Mal gesehen hat, hat Kaden auf Anhieb gewusst, dass er eine indirekte Gefahr für jedes Mädchen darstellt. Er ist wie ein Jäger, der seine Beute zum Spaß jagt. Sobald er das Interesse verliert, geht er auf einen neuen Feldzug. Der Kerl ist nicht fähig, das gewisse Maß an Verantwortung auf sich zu nehmen, um einem Mädchen das zu bieten, was es verdient hat. Kadens Befürchtung ist, dass Mikołaj seine Prinzessin am Ende todunglücklich machen wird.
Knappe Antworten. Jess solle erst kommen, wenn er es durchgibt. Mikołaj ginge es nicht gut, aber auch nicht schlecht. Der Zustand sei überwiegend stabil, auch wenn einige Werte nicht normal sind. Er sei gerade ruhiggestellt worden. Das Handy wird weggesteckt, und Kaden beobachtet, wie Jevhen den Jungen gewaltsam nach unten drückt, denn dieser hat sich erneut in ein rasendes Bündel verwandelt. Es ist eigenartig, dass er keine Spur Mitleid empfindet. Resignation hat ihre Blütenblätter ausgerollt. Keine Frage; er findet es nicht gut, dass Mikołaj der Droge verfallen ist. Kaden ist fest entschlossen, ihm zu helfen. Nur die entsprechenden Gefühle fehlen. Ich schätze, dass meine Arbeit Schuld hat. Ich habe über all die Jahre so viel Leid und Schmerz gesehen – irgendwann hat man sich eine harte Schale angeeignet. Ihm kommen die seltenen Momente in den Sinn, als er seine Käufer vor dem körperlichen oder geistigen Verfall gesehen hat. Wie alt war ich da? Zwanzig? Neunzehn? Zumindest weit am Anfang. Der Typ sah wie ein lebender Zombie aus. Ich sage es mal so: Er wollte den Stoff, und er hat ihn bekommen. Hauptsache, das Geld stimmt, und der Kunde ist glücklich. Tödlich glücklich. Oder der Meth-Süchtige beim Bahnhof. Der hat den kompletten Hals zerstochen. Die Einstichstellen auf den Armen sahen ziemlich entzündet aus. Der Neunzehnjährige ist still. Jevhen streicht ihm vorsichtig durch das zerzauste Haar. Da waren mir die Kokain-Junkies am liebsten. Die haben sich am meisten zusammenreißen können. Dieser Tanjev und Jevhen tauschen sich aus. Es gilt immer noch die Maxime: Menschenleben werden dem Geld untergeordnet. Kaden lässt die beiden Männer nach draußen. Jevhen erklärt knapp, dass Mikołaj für die nächsten drei Stunden den Eindruck vermitteln wird, er wäre frei vom Segen. Kaden schielt zu ihm. Er liegt mit ruhigem und gleichmäßigem Atem da.
„Aber es besteht die Gefahr, dass er trotzdem unkontrolliert ausbrechen wird? Bei Jakub war das damals in der Gang so – trotz Gegenmittel ist er die anderen an den Hals gesprungen."
„Das sollte man keineswegs ausschließen. Deshalb ist es ratsam, die Fixierungen nicht zu entfernen. Halt' außerdem einen ausreichenden Abstand zu ihm." Tanjev ist in das Nebenzimmer verschwunden. Wahrscheinlich, um die Utensilien auszutauschen. „Worüber denkst du nach?"
„Über Allgemeines", weicht Kaden seine Frage aus und deutet zu Richtung Treppe. „Lass' uns nach oben gehen. Jakub braucht uns." Er zuckt mit keiner Wimper, als Jevhen die linke Hand auf seinen Arm legt. Seine braunen Augen – nicht annähernd so dunkel wie seine eigenen – scheinen intensiv und eindringlich in ihn zu schauen. Kein Unbehagen durchstreift ihn. Kaden erinnert sich an seinen kurzen Aufenthalt im Gefängnis zurück. Sie hätten ihn am liebsten verprügelt oder mit ihren Waffen bearbeitet. Kaden hat keine Minute ausgelassen, um sie zu provozieren. Entweder mit spöttischen Bemerkungen oder mit seinem einfältigem Grinsen. „Was gibt's denn noch?"
„Du bist dir auch ganz sicher, dass du nicht darüber reden willst?" Kaden hebt die Augenbrauen. „Ich sehe es dir an. Du denkst über etwas nach."
„Ist das nun verkehrt?" Er streift Jevhens Hand von seinem Arm.
„Nein, nein. Ich finde es nur nicht richtig, es für sich zu behalten, denn deine Laune wird früher oder später darunter leiden." Der Ukrainer macht einen Schritt nach hinten. „Nenn' mich nervig, weil ich so beharrlich bin."
Kaden schnaubt leise.
„Ach, das passt schon." Eine sekundenartige Stille. „Wenn ich dich als nervig betiteln darf, kannst du mich als Monster bezeichnen. Ich kann kein Mitgefühl für Mikołaj entwickeln. Ich empfinde gar nichts, wenn ich ihn sehe." Tanjev und Richard geistern durch den verwinkelten Keller. Sie schenken den beiden Männern keine Beachtung. „Ich würde es gerne, weißt du?"
„Warum Monster? Es mag sich falsch anhören: Bei dir, ehemals bei mir, ist es normal. Du hast so viel mit Drogenabhängigen zu tun, dass du es irgendwann satt bist. Dein Bewusstsein blendet das Leid und die Qualen einfach aus. Du bist es gewohnt, kennst es quasi nicht anders. Ein Drogenhändler, der nach mehr strebt, muss irgendwann lernen, sein Gewissen ruhigzustellen oder es zu entfernen. Andernfalls wird er den Verstand verlieren und sich in den Selbstmord treiben. Man kann nicht für jeden Menschen Mitleid empfinden – man geht sonst selbst daran zugrunde." Jevhen lächelt vorsichtig. „Trotzdem ist es ratsam, nichts davon Jakub zu erzählen. Er könnte es falsch verstehen." Sie gehen langsamen Schrittes zu der alten Holztreppe. Selbst hier unten durftet es nach Vanille. „Ich habe Jahre gebraucht, um wieder Mitleid zu empfinden oder die Gefühle meines Gegenübers neu zu deuten. Die Tätigkeiten im sozialen Untergrund haben mich sehr stark verändert."
„Nein, das habe ich nicht vor." Kaden geht vor. „Inwiefern?"
„Nun, ich war skrupellos. Wenn mich jemand gestört hat oder es nicht nach meinen Regeln lief, gab's fliegende Geschenke. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Leute ich auf diesem Wege erschossen habe. Woran ich mich persönlich nicht gern erinnere, ist meine Phase mit der Geiselnahme gewesen. Ich habe vor ... vierzig? Jahren den damaligen Bürgermeister von Kiew gefangen genommen, weil er strikter gegen deinesgleichen vorgehen wollte. Wir haben ihn am Existenzminimum gehalten. Ihn zu töten, war nie meine Absicht gewesen. Tja, er ist leider gestorben. Im Zuge dessen habe ich angefangen, seinen Kreis zu foltern. Regelmäßiges Würgen, Verprügeln, Knochen brechen ... Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie kreativ man mit Feuer und Elektrizität sein kann." Ein kalter Schauder rennt den Rücken herab. Jevhen, dieser aktuell sanftmütige und frohgesinnte Mensch, soll solche Abscheulichkeiten begangen haben. Kaden will sich nicht ins bessere Licht stellen; es hat Tage in seinem früheren und jetzigen Leben gegeben, da hat er selbst Feinde, Schuldner oder sogar Geschäftspartner mit üblen Methoden gequält. Aber der unter Einsatz von Feuer oder Elektrizität? Niemals. „Willst du hören, was meiner Ansicht nach die schlimmste Tat von mir war?"
„Geht so etwas?"
„Du darfst entscheiden."
„Dann lass' es hören." Kaden bleibt oben auf der Schwelle stehen.
„Wir haben bei einem die familiären Hintergründe herausfinden können. Der Kerl war ohnehin schon ein Wrack. Um dem Ganzen die Krone zu verleihen, haben wir sein einziges Kind zu uns geholt. Zwei von mir fesselten ihn – wenn ich so zurückdenke, meine ich mich daran zu erinnern, dass er nicht mehr alle Finger hatte und dass ein, zwei Zähne fehlten. Wie dem auch sei. Ich persönlich habe das unschuldige Kind zu Tode gefoltert." Wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass er selbst eine Tochter hat. „Der Typ hat versucht, sich selbst das Leben zu nehmen. Hat ständig den Kopf gegen die Wände geschlagen oder wollte sich mit den Fesseln selbst erwürgen. Letztendlich ist er durch den massiven Blutverlust gestorben."
„Wie zur Hölle hast du es geschafft, diese Scheiße zu verarbeiten? Musstest du dabei nie an dein eigenes Kind denken?"
„Zu dem Zeitpunkt war Daryna noch nicht auf der Welt", antwortet Jevhen ruhig. „Ich habe es einigermaßen verdrängen können. Aber ganz ehrlich: Ich habe es nicht geschafft. Manchmal denke ich noch daran. Es kommt nicht selten vor, dass ich deshalb nicht schlafen oder dass ich mich nicht auf den Tag konzentrieren kann. Nein, mit so einer Scheiße kann man keinen Frieden schließen. Nicht, wenn es um Kinder geht, die mit der Situation gar nichts zu tun haben." Er deutet zu der Tür. Sie verlassen den Keller. „Weißt du? Die reinsten weißen Schafe in der Herde sind die bösartigsten Wölfe."
„Da hast du allerdings recht." Kaden stellt fest, dass Jakub erneut am Telefonieren ist. „Hat deine Frau gewusst, was du damals fabriziert hast?" Sie lassen sich in der Küche nieder. Kaum hat sich Kaden hingesetzt, hat Neo sein Körbchen verlassen und stolziert mit erhobenem Schweif auf ihn zu. „So langsam fange ich an, mich in dich zu verlieben, du kleine Kratzbürste." Kaden lacht leise und hebt das Tier hoch. Während Morpheus pechschwarz ist, stammt Neo von der siamesischen Rasse ab. Der Vierundvierzigjährige hat an den wachsamen, strahlend blauen Augen Gefallen gefunden. „Ja, meine Güte. Dann kratz' mir den Arm auf." Der Kater liegt auf dem Rücken. Lädt zum Kraulen seines Bauches ein – allerdings wartet er nur darauf, um im spielerischen Wahn die scharfen Krallen über den Arm oder über die Hand fahren zu lassen.
„Katzen sind sie schönsten Haustiere, die es gibt. Wenn die dich einmal als Auserwählten auserkoren haben, darfst du dich in jeder Hinsicht geehrt fühlen. Das ist bei meiner Katze genauso. Nur ... Valisa ist sehr anhänglich." Kaden ignoriert die brennenden Schmerzen im Arm. Das Kuriose: Sobald er innehält, miaut Neo laut los, als fordere er den Händler auf, weiterzumachen. „Nicht alles. Ich habe immer versucht, die schlimmsten Taten für mich zu behalten. Na ja, manchmal habe ich nicht mehr gekonnt und musste reden. Ich wäre sonst zusammengebrochen. Anastazia hat mich trotzdem als normalen Menschen angesehen." Jevhen beobachtet Kaden und die Katze. Manchmal bohren sich die spitzen Zähne in die Finger, aber nicht so, dass Neo Kaden verletzt. „Wie sieht es bei dir aus?"
„Sie weiß nur, dass ich Drogenhändler bin und den einen oder anderen Menschen erschossen habe. Nicht, dass ich wieder Leichen erfolgreich entsorge oder Feinde quäle. Ist in den letzten Wochen recht häufig passiert." Wenigstens schnurrt die Katze.
„Was würde passieren, wenn sie es herausfände?"
Kaden hält etwas inne.
„Darüber habe ich nicht nachgedacht, weil ich es nicht will." Unbekannte Ängste treten plötzlich aus dem Hintergrund hervor. „Ich weiß es nicht."
„Du willst es nicht wissen", korrigiert Jevhen ihn behutsam.
„Richtig." Jakub hat das Telefonat beendet. „Lass' uns nicht weiter darüber reden. Seien wir einfach froh, wie die Lagen jetzt sind. Mit Ausnahme von dieser hier." Der Gastgeber nähert sich ihnen. „Deine Katze mag mich nicht." Es besteht die indirekte Abmachung, dass sie während des Aufenthalts in Jakubs Haus die russische Sprache bedienen.
„Ach, Quatsch. Neo mag dich, sonst würde er dir nicht den Arm zerkratzen. Erst wenn er dich anfaucht, hast du ein Problem ... oder dich jetzt beißt." Neo scheint genug zu haben, denn er springt von Kadens Schoß herunter und tigert zu der Treppe, welche nach oben führt.
„Wie geht es dir?", fragt Jevhen. Jakub vermittelt zumindest einen besseren Eindruck als eben im Keller.
„Etwas besser", gibt Jakub wahrheitsgetreu zurück. „Sarah hat mich etwas aufmuntern können."
„Das werden wir auch gleich machen. Übrigens: Mikołaj hat das Gegenmittel verabreicht bekommen. Jevhen meinte, dass er für die nächsten drei Stunden mehr oder weniger wie vor dem Drogenkonsum sein wird. Eben mit der bestehenden Gefahr, unkontrolliert auszubrechen." Kaden hat damit gerechnet, dass Jakub unverzüglich zu seinem Sohn stürmen würde. Er tut es nicht. Zieht nicht einmal eine entsprechende Miene.
„Was er braucht, ist Ruhe." Er seufzt kurz. „Aber gut zu wissen." Jakub nimmt neben Kaden Platz.
„Okay, ich finde, dass wir dich auf andere Gedanken bringen sollten. Da reicht nicht nur das Gespräch mit der Diktatorin im Hause." Kaden grinst automatisch los, als Jevhen dies selbstverständlich gesagt hat. „Schieß' los: Wo ist das Bier?"
„Ich glaube nicht, dass Bier die ..." Er klappt den Mund zu, als Kaden zügig dazwischen grätscht.
„Stimmt. Wann haben wir mal eine frauenfreie Zone? Diesen seltenen Moment müssen wir ausnutzen." Er legt Jakub eine Hand auf den Rücken. „Los, komm', Arschikaski. Ein Bier geht immer. Wir müssen es ja nicht ins Komasaufen ausarten lassen ... Nicht wie früher."
„Da bin ich aber enttäuscht." Auf den Lippen von Jevhen hat sich ein freches Grinsen gebildet.
„Wenn du Arsch diesen Scheißspitznamen weglässt, überlege es mir noch 'mal." Er lässt sich von Kaden vom Stuhl schieben.
„Wäre mein absoluter Lieblingspole so nett und würde drei Flaschen aus'm Kasten holen?"
„Das hört sich genauso beschissen an. Da bin ich lieber der Quotenpolacke von damals." Mit dieser trockenen Aussage lockt er ein Gelächter aus den beiden Männern. „Die Frage ist: Was genau wollt ihr? Etwas Deutsches, Polnisches oder Tschechisches?" Kaden ist erst jetzt die unauffällige Tür neben dem Kühlschrank aufgefallen. Sie ist nach innen geöffnet worden. Jakub steht auf einer Stufe.
„Hast du 'n Tyskie?", will Jevhen wissen.
„Habe ich. Einen ganzen Kasten."
„Mir kannst du gerne einen Berliner bringen."
„Bekommt ihr." Jakub ist kurzweilig in die Speisekammer verschwunden. Glas stößt sanft aneinander.
Er tritt hinaus und geht auf die beiden Begleiter zu. „Eins für dich." Die grüne Flasche für Kaden, die eine braune für den Ukrainer. „Und für dich." Jevhen zückt ein klappbares Taschenbesser hervor und entfernt den Bierdeckel. Kaden schnappt sich Jakubs. „Und was ist mit ... Jaja. Gib her, du Idiot." Jevhen händigt ihm das Messer aus. „Na dann." Er lehnt sich ein wenig nach vorn. Behält die Flasche mit der rechten Hand umfasst. „Bevor wir anstoßen, will ich gerne etwas sagen." Zwei aufmerksame Augenpaare sind auf ihn gerichtet. „Danke an euch beiden. Wirklich jetzt. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass ihr beide euch versteht und zusammenarbeitet. Ich freue mich aufrichtig, dass wir drei von vorn anfangen können." Kaden lächelt ein wenig. „Wenn man bedenkt, was wir für eine Scheiße durchhaben, Kaden." Der braune Blick sucht nach der Narbe auf der linken Gesichtshälfte. Er berührt mit den Fingerkuppen die eigene. „Auf uns und auf die Zeit, die noch kommt. Die gute." Sie heben die Flaschen an. Ein wohliges Gefühl breitet sich in ihm aus, als er den ersten Schluck nimmt. „Ich werde trotzdem nachher nach Mikołaj sehen."
„Tja, wir sind auch älter geworden. Mit der Zeit ändern sich normalerweise Einstellungen und Pläne." Jevhen sieht Kaden an. „Er ist in Ordnung." Kaden räuspert sich belustigt. „Im Vergleich zu früher."
„Ich hätte dich trotzdem umbringen können. Also mit dem Alter hat es nur bedingt etwas zu tun", erwidert Kaden ungeniert. Jakub runzelt die Stirn. „Aber dank Arschikaski ..." Ein grober Stoß in die Seite, sodass der Ältere zusammenzuckt und laut ausatmet. „ ... habe ich das nicht mehr vor."
„Kannst du endlich damit aufhören?"
„Wäre dir Blödikaski lieber?", geht Jevhen auf die Sticheleien ein und fängt sich einen vernichtenden Blick ein.
„Ich ziehe dir gleich die Flasche über den Schädel", verkündet Jakub finster.
„Ich habe gerade überlegt: Dein Nachname bietet auch eine Menge Vorlagen an. Hm, wie wäre es mit Popofjew? Nein, warte. Popeljew hört sich besser an." Jakub prustet los. „Versuch' es erst gar nicht mit meinem Nachnamen; du wirst da nichts Lustiges herausbekommen. Das haben schon sehr viele versucht, und jeder ist daran gescheitert."
Jevhens schadenfreudiges Grinsen ist wie fortgewischt. Ein entgeisterter Glanz tritt in die Dunkelheit seiner Augen. Er sieht aus, als würde er binnen weniger Augenblicke sagen wollen: Ist das dein Ernst?
„Also ... ja."
„Die muss ich mir unbedingt merken." Dieses Mal ist Jakub derjenige, der Spaß an der Sache hat. „Warum sind mir die nie eingefallen?"
„Ganz einfach: Ich bin deutlich kreativer als du, Jakubina."
Der Pole grummelt laut.
„Ich tue so, als hätte es nie gehört." Ein großzügiger Schluck. Jevhen sieht Kaden an. „Ich habe versucht, mir einen dämlichen Spitznamen auszudenken: Da gibt's wirklich nichts. Alle Reime auf Larkin hören sich schlecht an, und bei deinem Namen braucht man es erst gar nicht zu versuchen."
„Meine Eltern haben sich eben etwas dabei gedacht, als sie mir meinen Namen verpasst haben", sagt Kaden triumphierend. „Das zweite Mal, dass ich ihnen dankbar bin."
„Sag' mal: Hast du irgendwie amerikanische Wurzeln? Du hörst dich nicht typisch deutsch an. Okay, ich muss mich korrigieren: Du hörst dich überhaupt nicht deutsch an."
„Stimmt. Das habe ich mich auch ziemlich lange gefragt. Los, deck' deine Familiengeheimnisse auf", fordert Jakub ihn interessiert auf.
„Meine Eltern, ja. Die kommen aus Texas. Valentin war der Einzige von mir und Lucy, der in Amerika geboren wurde. Ich bin gebürtiger Berliner." Der Name seiner Schwester lässt den heiteren Ton seiner Stimme ein wenig abrutschen.
„Du bist also eine halbe Amilette", stellt Jakub erstaunt fest.
„Was, bitte?" Kaden zieht verwirrt eine Augenbraue hoch. „Das Wort habe ich ja noch nie gehört."
„Ja, das liegt auch daran, dass ich mir das Wort gerade erst ausgedacht habe." Er stupst Kaden an. „Wie kann das sein, dass du nicht rund wie eine Kugel bist? Ich dachte, die Amerikaner hätten Blutgruppe Fett?"
Dass Jevhen am Lachen ist, wundert Kaden wenig.
„Also ich weiß ja nicht, was du so für Gedanken hast, aber ich weiß, dass nicht alle Amerikaner Landwale sind", gibt der Händler langsam von sich. „Klar, ich esse häufig ... gut. Also das wirklich gute Zeug. Trotzdem kriege ich mich zum Sport aufgerafft." Kaden grinst unweigerlich los. Legt einen Arm um Jakub und zieht ihn eng an sich heran. „Jevhen, eine kleine Frage an dich. Wie stehst du zum Thema Homosexualität?"
„Kaden, ich warne dich. Mach' jetzt keine unüberlegte Scheiße." Jakub versucht vergeblich, sich zu befreien. „Lass' mich los."
„Ich?" Jevhen gluckst leise. „Offen. Interessiert mich nicht, solange man mich nicht mit dem Thema nervt."
„Sehr gut. Dafür gibt es einen weiteren Sympathiepunkt." Kaden fackelt nicht länger und drückt Jakub einen Kuss auf die Wange. „Ich hab' dich auch lieb, Arschikaski." Jakub windet sich hastig aus der halben Umarmung und wischt mit dem linken Handrücken über die rechte Wange. Er hat angeekelt das Gesicht verzogen. „Siehst du? Selbst deinesgleichen juckt's nicht."
„In dieser Hinsicht bist du nichtsdestotrotz ein Unmensch für mich." Jakub nippt an der Flasche. „Wenn du mich wieder küsst, dann beim nächsten Mal meine Faust." Kaden hält sein Gelächter zurück.
„Es wäre schlimm, wenn jeder gleich wäre", wirft Jevhen ein, „kann ja nicht jeder korrekt sein." Er gähnt leise. „Was gibt's eigentlich zu essen?"
„Kann sein." Jakub zuckt mit den Schultern. „Ich stehe dazu." Er erwidert Jevhens Blick. „Entweder, wir bestellen uns etwas oder ich kann gerne ein paar Reste aufwärmen."
„Was hättest du hier?"
„Unterschiedliches. Hauptsächlich polnische Küche. Wir hätten auch einen Rehbraten über. Ich glaube auch Wildschwein, aber da muss ich schauen."
„Warum nicht beides?", schlägt Kaden vor.
„Bist du damit einverstanden?", wendet Jakub sich an den Ukrainer.
„Wenn es um einen Braten geht, bin ich grundsätzlich immer dabei."
„Dann wird's beides geben." Jakub erhebt sich. „Wie steht ihr zur polnischen Küche?"
„Sind das deutsche Speisen, die man geklaut hat?", kann Kaden sich nicht die aufziehende Bemerkung nicht verkneifen.
„Ja, Kaden. Das sind vor allem Schnitzel, die ich kleingeschnitten habe und mit Maultaschen serviere." Jakub schüttelt genervt den Kopf. „Du gehst mir gerade auf den Geist."
„Ach, echt? Du mir auf die Eier."
„Wie alt seid ihr? Zwanzig?", mischt sich Jevhen amüsiert ein. „Zu blöd, dass ich gerade nichts zum Naschen habe. Das ist ja wie Kino."
„Die hast du noch?"
„Willst du sie sehen?"
„Nein, ich verzichte dankend darauf." Jakub kniet vor dem Gefrierschrank.
„Oh, da bin ich aber sehr traurig." Kaden kann sich kaum noch beherrschen, auch er beginnt zu lachen.
„Tja, hast Pech gehabt." Jakub stellt verschiedene Tupperdosen auf die Arbeitsfläche. „Früher waren wir schlimmer, Jevhen. Das hier ist noch harmlos."
„Harmlos? Das ist gar nichts", widerspricht Kaden. „Man hat dich ständig ärgern können. Sei es mit den Spitznamen oder beim Training oder draußen: Es war immer wieder herrlich, wie du dich darüber aufgeregt hast." Er grinst. „Julien hat früher herum posaunt, dass Jakub der Zwerg mit der Kampfnadel ist. Du hättest sehen müssen, Jevhen, wie er sich darüber geärgert hat. Der achte Zwerg."
Jakub springt darauf nicht an.
„Will ich wissen, was eine Kampfnadel ist?"
„Ich denke nicht", meldet sich Jakub zu Wort.
„Spätestens dann nicht, wenn ich Bockwurst mit Puls sage." Dieses Mal lachen Jakub und Kaden. Jevhen hingegen blinzelt langsam, als müsse er erst einmal begreifen, was Kaden andeutet. Ein verstörter Ausdruck kleidet die Gesichtszüge aus. „Ah, sieh an. Er hat es verstanden."
„Ich nehme es zurück: Ihr seid viel schlimmer als Zwanzigjährige." Der Sechzigjährige stützt den Kopf an einer Hand ab, vermittelt den Eindruck, als sei er von dieser Erkenntnis erschüttert. „Ach du Scheiße. Wo bin ich hier nur gelandet?"
„Nicht im Irrenhaus. Da müsstest du entweder nach Schwiebus oder Poznań fahren." Jakub wird zunehmend konzentriert. „Kaden? Beweg' deinen zarten Arsch zu mir. Ich brauche Hilfe."
„Darf ich überprüfen, ob du auch einen hast?"
„Mann, dafür hast du deine Frau", brummt Jakub, „du kannst gerne die Kartoffeln begrapschen. Soll mir egal sein." Er deutet zum Fenster. „Da ist dein Platz. Mach' dich an die Arbeit, ansonsten kannst du das Abendessen vergessen."
„Oh, Gott", hört Kaden Jevhen murmeln. „Ich bin morgen weg."
„Du bleibst schön hier", bestimmt Jakub belustigt. „Und wenn ich dich einsperren muss." Kaden widersteht dem Drang, Jakub zu ärgern. Er nimmt ihm das kleine Messer ab, ehe er sich an die aufgetragene Aufgabe macht.
„Ich werde definitiv den Verstand verlieren. Wo sind deine Katzen? Ich brauche etwas zum Ablenken. Da wird nicht einmal das Bier mehr helfen können." Jevhen stellt die halbvolle Flasche ab und erhebt sich.
„Neo ist irgendwo oben, und Morpheus liegt im Wohnzimmer auf der Couch", murmelt Jakub fixiert.
„Ich bin weg. Ihr Hausfrauen macht das schon." Der breitgebaute Kerl lässt die beiden neu gewordenen Freunde allein in der Küche. Sie hören ihn sagen: „Ah, wenigstens einer, der hier normal ist."
„Wollte gerade sagen: Wer von uns ist normal?" Kaden ist ins deutsche gewechselt.
„Keine Ahnung. Wir sind es nicht."
„Jepp, dem kann ich nur zustimmen."
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