25 - Vergebung
„Ich komme nachher wieder. Bringe nur schnell die Jacke zu Elise." Ich warte, bevor ich in meinen Wagen einsteige. Mein Vater hält sich bei dem Audi auf – ich habe gesehen, dass dort zwei Tüten im Kofferraum liegen. Was dort drinnen ist? Keine Ahnung. Will ich das wissen? Nein, eher nicht.
„Tu' das", gibt er schlicht zurück. „Du weißt ja, wo sie wohnt." Allein die Zeit müsste verdammt verdächtig sein. Mal hoffen, dass er darauf anspringt. „Fahr' vorsichtig." Er behält mich im Auge, als ich mich schließlich auf dem Sportsitz niederlasse und das Fahrzeug starte. Ich erwidere seinen undefinierbaren Blick eher flüchtig, wenngleich in meinem Kopf viele Ansätze und Gedanken umhergeistern. Ich hebe sehr leicht die Augenbrauen und rolle danach vom Hof. Rückwärts. Das ist einmal sehr blöd ausgegangen; die hintere Stoßstange kann davon ein Lied singen. Aber was ist schon ein Auto ohne Gebrauchsspuren? Wenigstens hat es mein Vater relativ gelassen hingenommen, zumal der entstandene Schaden nicht allzu gravierend ausgefallen ist. Ich werfe einen prüfenden Blick nach hinten. Alles frei. Vorerst. Das schwere Tor gleitet automatisch zu. Ein tiefer Seufzer meinerseits. Elise weiß natürlich nicht, dass ihre Jacke bei mir liegt. Die wird sie höchstwahrscheinlich erst Montag wiederbekommen. Er wird mir folgen, da bin ich mir sehr sicher. Ein ungutes Gefühl breitet sich in der Brust aus, als ich losfahre. Keine Musik. Stille um mich herum, Krach in meinem Kopf. Ich muss es schaffen, also mich auf diese Fahrt konzentrieren. Beide Hände liegen auf dem Lenkrad, der Blick schweigsam nach vorn gerichtet. Die Sonne verkriecht sich allmählich hinter die Wolken. Graue Wölkchen hängen träge am Himmel. Der Verkehr ist überschaubar. Erste junge Menschen streunern als Grüppchen durch die Straßen. Ein Hinweis dafür, dass die ersehnte Nacht angebrochen worden ist.
Warum habe ich nichts hinter mir gesehen? Ich habe alle zwanzig Sekunden in den Innenspiegel geschaut. Einfach, um mich zu vergewissern, dass mein Vater mir auf den Versen ist. Gar nichts, und wenn, dann von jemand, der mich sowieso überholt hat. Das ist bestimmt einer seiner Tricks. Er ist hier irgendwo. Die Haltung spannt sich etwas an. Ansonsten ist während der vierzigminütigen Fahrt nichts Spannendes passiert. Kein Tier, kein verrückter Irrer. Stellenweise bin ich schneller als erlaubt gefahren. Nicht viel, höchstens fünfzehn Stundenkilometer. Ich kann es kaum erwarten. Ob ich mich verfahren habe? Ja, einmal. Bei der letzten Kreuzung bin ich zu früh abgebogen. Glücklicherweise habe ich es rechtzeitig festgestellt und zügig gewendet. Zum Nachteil der anderen Fahrer; ich habe beide Fahrspuren blockiert. Na ja, ich komme nicht von hier. Ich darf mir das ausnahmsweise erlauben.
Er ist längst angekommen. Hat Jakub lange auf mich gewartet? Eine eigenartige Kälte tastet sich durch mich, als ich auf den spärlich besetzten Parkplatz fahre. Jakub steht genau da, wo wir letztes Mal auf ihn gewartet haben. Von Weitem sieht er wie ein Teenager aus, der auf seine Verabredung wartet, nur um Berlin unsicher zu machen. Ein schwarzer Kapuzenpullover, eine Sportsshorts; man würde niemals darauf kommen, dass er mittlerweile dreiundvierzig Jahre alt ist.
Jakub hat mich entdeckt. Er sieht von seinem Handy auf und beobachtet, wie ich einen großzügigen Bogen beschreibe und anschließend vor ihm anhalte. Die Kapuze nicht aufgesetzt, ist das Erste, was mir direkt ins Auge fällt, diese gruselige Narbe und das weiß-graue Auge. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie er wohl gewesen sein muss, als er unter dem Einfluss seiner Drogen gestanden hat. Jetzt oder nie, denke ich und atme tief durch. Jakub bewegt sich nicht vom Fleck. Wartet, bis ich von allein aussteige. Das Handy ist derweil in der Hosentasche abgetaucht. Meine Sachen bleiben im Handschuhfach verstaut. Ich nehme den letzten Mut zusammen und steige aus. Erwidere seinen ruhigen Blick. Warum muss er unbedingt wie ein Mittzwanziger aussehen? Verdammter Mist. Ich trete einige Schritte vor. Lehne mich an die Motorhaube meines Wagens.
„Mein Vater weiß hiervon nichts", eröffne ich das Gespräch. „Es wäre daher echt schön, wenn's nicht allzu lange dauern wird." Ein sanfter Windzug fährt durch meine Haare. Ich streiche mir einige Strähnen aus dem Gesicht. „Wie steht es um Mikołaj?" Ich kann kaum von seinem ansehnlichen Sportwagen wegschauen. Ein tiefroter Farbton, gezielt gesetzte schwarze Akzente. Der breite, aber schnittige Heckflügel. Dann der Fakt, dass dieser Porsche mittlerweile eine Leistung von tausendeinhundert PS aufweist. Wie viel Geld wohl in diesem Auto steckt?
„Ich denke eher, er weiß es, hat es nur nicht direkt angesprochen", korrigiert er mich ruhigen Tones. Ich zucke mit keiner Wimper, insgeheim weiß ich, dass er recht hat. „Es ist schade, dass er nicht gekommen ist. Hätte mir gezeigt, dass er endlich über sich hinausgewachsen ist. Na ja, sei's drum." Mit den Fingerkuppen zeichnet er die Formen seines Tattoos auf dem rechten Unterarm nach. Die Neugier erlangt Futter – was bedeutet das? „Deutlich besser als gestern Schrägstrich heute Früh. Die Werte haben sich sehr stabilisieren können. Sie sind am Überlegen, ob sie ihn morgen entlassen. Vorausgesetzt, der Gesundheitszustand verbessert sich noch einmal." Der silberne Ring an seinem Finger schimmert schwach im Licht der Laterne. „Das ist leider keine Seltenheit, weißt du? Ich weiß auch nicht, was ihn geritten hat, sich ständig so volllaufen zu lassen." Jakub mustert mich. „Er hat heute Vormittag viel von dir gesprochen."
„Von mir", wiederhole ich etwas verblüfft. Der Ton verändert sich. Wird resigniert. „Hat er sich bei dir ausgeheult?" Ich mache mich ein wenig klein, denn Jakubs Blick wird etwas kühl. „Entschuldige. Ich bin nur ... nur etwas wütend wegen der letzten Tage." Ich beschließe, ihm von diesen Momenten zu erzählen. „Die Sache ist nämlich die: Mikołaj weiß sehr wohl, dass ich ... mich in ihn verguckt habe. Ich habe sogar gedacht, er würde sie erwidern. Irgendwie eben." Dass ich vor mir seinen Vater habe, ist mir in dieser Sekunde vollkommen gleichgültig. „Ist nicht sonderlich schön zu wissen, dass man jemanden nichts bedeutet und teilweise wie Luft behandelt wird."
„Würdest du ihm denn glauben, wenn er dir sagen würde, dass es ihm leid tue?", will Jakub von mir zu hören bekommen.
„Ich weiß es nicht. Höchstwahrscheinlich nicht." Mir kommen Bilder von gestern in den Sinn. „Selbst als er total betrunken war, kam er ganz plötzlich zu mir an." Ich ziehe die Schultern hoch. „Kann man betrunkenen Menschen glauben? Hat sich gestern für mich wie ausgedacht angehört."
„Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen, dass Betrunkene in fast jedem Fall die Wahrheit sagen." Das heißt, dass Mikołaj die Gefühle erwidert? Dass ich ihm doch mehr bedeute, als er zunächst angenommen hat? „Hat mir stellenweise Schwierigkeiten eingebracht, aber im Endeffekt hat sich's als wahr herausgestellt." Jakub schiebt beide Ärmel des Pullovers herunter. „Warum fragst du das?"
„Ich habe nur an etwas gedacht, mehr nicht." Diesen Teil behalte ich lieber für mich. „Ist gut zu wissen." Schweigen. „Wie hast du eigentlich reagiert, als ich dir geschrieben habe, dass Mikołaj möglicherweise eine Anzeige wegen gefährlicher Körperverletzung am Hals hat?"
Jakub verzieht das Gesicht, als hätte er geradewegs in eine saure Zitrone gebissen.
„Wie wohl?", gibt er harsch zurück. „Ich hätte ihn am liebsten vor Ort und Stelle zu verstehen gegeben, dass es der größte Scheiß ist, den er sich bis jetzt geleistet hat." Jakub knurrt leise. „Ich bin aus allen Wolken gefallen." Er schüttelt sehr langsam den Kopf. „Er wird noch sehen, was er davon hat. Mikołaj braucht nicht wie ich auf die schiefe Bahn geraten." Der Pole atmet tief durch. „Lass' das meine Sorge sein. Ich werde schon dafür sorgen, dass er so etwas nicht mehr abzieht."
„Ja, ja", murmele ich und will gar nicht daran denken, was auf Mikołaj zukommen wird, sobald er entlassen wird.
„Was meinst du eigentlich mit deiner Nachricht?"
Ein so rascher Wechsel, dass ich erst einmal Zeit brauche, um sie zu überdenken.
„Die, bei der ich meinte, dass mein Vater dich nur vergessen hätte, um dich zu beschützen?" Jakub nickt kaum merklich. „Na ja. Hört sich für mich danach an, dass es immer noch einen Teil in ihm gibt, der noch an dir hängt." Keine veränderten Züge. „Menschen, die einem sehr viel bedeuten, können als gefährliche Waffe gegen sich selbst verwendet werden." Ich blicke den Autoschlüssel in der rechten Hand an. „Weißt du? Ich glaube fest daran, dass es noch einem Teil in meinem Vater gibt, der an dir hängt."
„Und warum glaubst du daran?" Er hört sich nicht danach an, als würde er meine Aussagen infrage stellen. Jakub versucht nur zu verstehen. Ich denke nämlich, dass er nicht wirklich daran festhält.
„Weil es Tage gibt, an denen er ... sozusagen gerne von dir redet. Da kann ich auch nachfragen und kriege ehrliche Antworten zu hören." Komisch. Ich denke an Mikołaj, obwohl ich die Gedanken zu unterdrücken versuche. „Dann wieder sagt er nichts und wird wütend."
„Aha. Ist ja gut zu wissen." Jakub lächelt sehr leicht. „Ich kann daraus schließen, dass er immer noch nicht weiß, wie er mir gegenüber stehen soll." Er hält ein wenig inne. „Bedauerlich, dass er nicht gekommen ist. Hätte mir bewiesen, dass er bereit gewesen wäre, einen komplett neuen Weg zu gehen. Aber egal. Das soll er ruhig wissen. Ich hinterfrage keine Entscheidungen." Er gähnt tonlos. Eigenartig, dass er diese Aussage erneut formuliert hat. „Ich verrate dir eine kleine Sache, Jess: Mikołaj hat nur so oft von dir geredet und sich tausendfach für sein Fehlverhalten entschuldigt, weil er selbst ernsthafte Gefühle für dich entwickelt hat." Ich schnaube unbewusst. Vor Verachtung. Spott glitzert in meinen Augen. Jakub hat es wahrgenommen. „Es ist dein gutes Recht, dass du mir nicht glaubst oder Mikołaj. Nach dieser Woche ist es mehr als verständlich. Du solltest es trotzdem wissen. Er hat nicht gelogen, als er mir alles erzählt hat." Aus der unmittelbaren Ferne dröhnt ein tiefer Motor. „Kannst du dich noch an meine Aussage erinnern, als wir drei uns getroffen haben? Als ich zu Mikołaj gesagt habe, dass er blind sei, weil ihm das Offensichtliche entgeht?" Ich nicke kurz. „Er hat es erst übersehen. Dass du dich in ihn verguckt hast. Aber er hat nie aufgehört, darüber nachzudenken. Du hättest mal sehen müssen, wie er mich ständig danach gefragt hat." Jakub schmunzelt. „Tja, gestern beziehungsweise heute ist ihm klargeworden, dass er sich ebenfalls in dich verguckt hat. Er wollte es erst nicht kapieren."
„Äh ... stimmt es eigentlich, dass er noch nie eine Freundin hatte?"
„So unglaublich wie es sich anhört, so sehr stimmt es", antwortet Jakub entspannt. Man müsste mich gerade sehen. Halb offener Mund, die Augen, welche sich etwas vergrößert haben. „Hättest du nicht gedacht, was? So, wie er sich ständig aufführt und bei den Mädchen ankommt ..." Jakub grinst amüsiert. „Du wärst seine erste – vorausgesetzt, zwischen euch wird etwas zustande kommen."
Okay. Das muss ich sacken lassen. Wie eine herzhafte Speise nach großzügigem Zulangen bei einem Büffet. Eine schwere Angelegenheit. Mikołaj hat also keinen Scheiß erzählt. Es ist die Wahrheit. Wie um alles in der Welt kann dieser Typ keine einzige Beziehung geführt haben? Der Playboy für Arme. Hat ein Mädchen nach dem anderen am Start, aber geht nie in die Tiefe. In die Tiefe der Gefühle.
„Aha ..." Ich kneife die Augen zusammen. „Hört sich ziemlich komisch an, wenn man das auf Mikołaj bezieht."
„Da hast du allerdings recht." Der Dreiundvierzigjährige lässt den Blick über mich schweifen. „Ich habe dir das Angebot gemacht, etwas über die Vergangenheit von Kaden zu erzählen. Möchtest du immer noch etwas wissen oder willst du es belassen? Wenn du stattdessen über etwas anderes reden willst, nur zu. Tu' dir keinen Zwang an."
Wann habe ich denn die Chance, mich mit einem nach wie vor gesuchten Verbrecher zu unterhalten, der insbesondere meinem Vater sehr loyal ergeben gewesen ist?
„Du hattest etwas von einem Bruch erwähnt. Dass du alles in die Gänge gesetzt hättest. Was genau meinst du damit?" Der tiefe Sound gewinnt allmählich an Lautstärke. Ich sehe etwas verwundert in diese Richtung. Nichts. Das sind mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwelche Deppen, die sich sinnlose Rennen liefern müssen.
„Ach, da musste ich kurz überlegen." Jakub schiebt die Ärmel des Pullovers hoch. Die Tattoos schauen wieder hervor. „Ich suchte nach meinem Bruder, und Kaden wusste schon vor meiner Entdeckung, wo er war. Er verriet mir nur nichts."
„Weil er sicherstellen wollte, dass du ihm weiterhin ergeben bist", schließe ich ruhig an. Im Hinterkopf wird das vergangene Treffen rekonstruiert.
„Richtig. Was ich aber nicht erwähnt habe bei den Gerichtsterminen, ist, dass ich in die Institution des BKAs ging, um mit einer ehemaligen Angestellten zu reden. Sie half mir schließlich und fuhr mit mir nach Wismar." Ohne dass er es recht beeinflussen kann, eignet sich der Ton seiner jugendhaften Stimme einen wehmütigen Ton an. „Da stand er vor mir. Wie lange ich ihn nicht mehr wiedergesehen hatte." Die eisblaue Farbe schimmert schwach. Jakub verliert das bedrohliche Aussehen. „Nur leider ... Ja. Es war schneller vorbei, als mir lieb war." Er trägt eine Kette. „Damit fing es an."
„Das hast du ja teilweise dem Richter und Staatsanwalt geschildert. Und diesen Leuten im Knast." Jakub sagt nichts. „Wie war dort die Situation für dich?" Ich kann meine Neugier kaum bremsen.
„Ganz ehrlich: Beschissen." Er macht einige Schritte auf mich zu. Ich versteife mich unweigerlich. Schrumpfe merklich in mich zusammen. „Hey, ich will dir nichts antun, sondern nur etwas zeigen. Du brauchst vor mir keine Angst zu haben." Ich blinzele schnell. „Entschuldige, dass ich dir so einen Schrecken eingejagt habe." Er ist höchstens einen Meter siebzig groß. Plus minus zwei Zentimeter. Auch wir befinden uns quasi auf Augenhöhe. „Forscher von einer Universität und Justizbeamte, die für meinen extremen Fall zuständig waren. Die Knalltüten von Forscher wollten mich sozusagen studieren. Einer von ihnen – an den Namen kann ich mich nicht mehr erinnern – wollte die Auswirkungen des PCPs verstehen und ergründen. Sie hätten noch nie jemanden gehabt, der so aggressiv und intensiv auf diese Droge reagiere." Ich starre seinen rechten Unterarm an, den er mir entgegenstreckt. „Keiner von ihnen verstand, was ein Entzug mit mir machte. Es war schrecklich. Ich kratzte sie auf, weil ich einem unglaublichen Wahn verfiel. Ich hatte ständig eine Stimme im Kopf." Sie sind rosafarben. Etwas wulstig. Und nicht kurz. Sieben unterschiedlich dicke Linien. „Früher verletzte ich mich selbst. Sehr selten wegen ... wegen Suizidgedanken, sehr häufig wegen der Droge."
„Du warst suizidgefährdet?", hake ich vorsichtig nach.
Jakub stellt den Abstand zwischen uns wieder her.
„Das psychologische Gutachten ergab bei mir eine drogenbedingte Aggressivität, anfängliche Depressionen und im Zuge dessen Suizidgefährdung. Sie stempelten mich als kranken Soziopathen ab. Wie begründeten sie das?" Er denkt nach. „Ich war eine Geisel meiner eigenen Gefühle. Trauer, Verlustschmerz, Aggressionen, Wut ... Ich war der Kessel schlechthin. Lief alles über. Ich brauchte Ventile. Endete damit, dass ich willkürlich Leute verprügelte oder umbrachte. Es lag daran, dass ich mich nie jemanden anvertraut habe. Ich habe all den Schmerz in mich hineingefressen." Ein kalter Schauder rennt meinen Rücken herab. „Es ging teilweise so weit, dass ich sogar während des Ganglebens nie auf Kaden oder Julien oder andere hörte, sondern meine eigenen Dinger machte. Ich hielt nicht viel von externen Regeln. Nur von meinen eigenen. Während des Drogenrauschs war ich der Realität ziemlich fern ... Da sah ich manchmal Einhörner, fliegende oder sich übergebende Zwerge oder Menschen mit drei Köpfen." Ich grinse leicht. „Ja, solche Momente waren lustig. Auch für mich. Leider waren sie selten." Jakub sieht an mir vorbei. „Um noch einmal auf deine eigentliche Frage zurückzukommen: Sie führten einen kalten Entzug mit mir durch, dessen Erfolg nicht lange währte. Sie pumpten mich mit zu vielen Sedativa voll. Dieses Mittel sollte helfen, von den Trips herunterzukommen. Funktionierte zwar körperlich, aber nicht psychisch. Die Stimme war da."
„Was war das für eine Stimme? Kannst du mir im Allgemeinen etwas über diese Droge erzählen?"
Jakub lacht verhalten in sich hinein.
„Findest du es echt so spannend? Ist eine Droge wie jede andere auch", meint er lächelnd.
„Liegt unter anderem daran, dass mein Vater sich auf diese Pillen spezialisiert hat. Rein und gestreckt." Jakub hebt die Augenbrauen. „Kokain und PCP sind seine Schwerpunkte." Ich sehe auf. „Ich kenne niemanden, der von Drogen abhängig ist oder war. Ich kann mir sehr schlecht vorstellen, wie sich so etwas anfühlt oder was der Rausch mit einem macht."
„Hm, früher konzentrierte er sich auf Koks, Meth, Crocodile und Heroin. Interessante Wandlung." Das Brummen ist abgeebbt. Verklungen in der Ferne. „Wenn das so ist, dann soll's nicht daran scheitern. Die Frage ist: Wo soll ich genau anfangen?"
„Geh' vom Banalen ins Detaillierte über." Ich setze mich vorsichtig auf die Motorhaube. Ich sollte nur darauf achten, dass ich mit meinem Gesäß keine Delle verursache.
„Hast du denn die ganze Nacht Zeit?", entgegnet Jakub belustigt.
„Dafür schon", gebe ich ungeniert zurück.
„Du bist ja auch alt genug." Der Pole wendet das schmale Gesicht zur Straße. Ich mustere die Narbe. Die geteilte Augenbraue. Manche Jugendliche würden sich dafür einen Teil bewusst abrasieren. Hätte meiner Meinung nach nicht denselben Effekt. „Ich nannte sie immer den Engel. Angel Dust ist die inoffizielle Bezeichnung. Hört sich erst einmal nicht schlecht an. Ein Engel, der dich segnet. Egal wie. Nur, die Sache ist die: Der Segen ist jedes Mal anders. Ich schluckte die Pillen, weil ich in erster Linie die Schmerzen loswerden wollte. Den seelischen und den physischen. Ich musste mit ansehen, wie mein Bruder beinahe von einem Auto überfahren wurde. Trost suchte ich nicht bei meinen Eltern, nicht bei Freunden, sondern im Engel. Am Anfang nahm ich die Wirkung überhaupt nicht gut auf. Schon wenige Gramm reichten aus, um mich komplett durchdrehen zu lassen. Anders als angenommen, zentrierte die Droge die Aggressivität, obwohl sie eine Wirkung besitzt, die Halluzinationen auslösen kann. Ich wurde daneben sehr paranoid. Die Droge macht dich psychisch sehr abhängig, nicht körperlich. So erkläre ich mir zumindest den Ursprung dieser Stimme. Die war immer im Hinterkopf und stachelte mich zum Neukonsum an oder zu den scheußlichen Straftaten. Du musst sie dir so vorstellen: Ein kleines Wesen sitzt auf deiner Schulter und flüstert dir widerliche Dinge ins Ohr. Diese Stimme war laut. Sehr laut sogar. Na ja. Als ich in die Gang kam, nutzte dein Vater meine Abhängigkeit für sich. Er war mein zweiter Dealer – verkaufte die Pillen zwar zu überteuerten Preisen, aber dafür stimmten der Reinheitsgehalt und die Zusammensetzung. Wenn das Gemisch gestreckt ist, werden die Schwerpunkte des Rausches abgeschwächt oder fallen teilweise komplett weg. Ist unterschiedlich oder dafür umso tödlicher, weil man nie weiß, womit der Scheiß gestreckt ist. Soweit ich weiß, häufig mit simplen Backpulver oder Mehl."
„Und ... wie machten sich die ersten Nebenwirkungen bemerkbar?"
„Du musst erst verstehen, dass Nebenwirkung nicht gleich Nebenwirkung heißt. Ich kann dir sagen, dass sie sehr abhängig von der Dosis, von der aktuellen Umgebung und von bisherigen Erfahrungen ... Sei es mit dem Dreck selbst oder mit anderen Drogen. Bevor ich sie überhaupt nahm, war ich vierzehn. Das soll jetzt nicht Thema sein - wenige Miligramm haben mich gutfühlen lassen. Ich fühlte mich schwerelos, locker, total euphorisch. Ich achtete nicht mehr auf die schlechten Dinge, die mir zu diesem Zeitpunkt widerfahren sind. Der Schmerz ... diese Horrorbilder des Unfalls waren einfach weg. Ich war einfach glücklich." Jakub lächelt schief. „So schnell wie die guten Wirkungen da waren, waren sie auch wieder weg. Jeder Abfall ist schrecklich ... ständig dieser hohe Puls, diese Uruhe, Nervosität - nichts im Vergleich zu plötzlichen Erinnerungslücken. Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich nicht doch einen über den Durst getrunken habe. Hat sich wie ein räudiger Filmriss nach einem Besäufnis angefühlt."
Ich bin erstaunt, wie selbstständlich und vor allem ruhig seine Vergangenheit ans Tageslicht befördert. Er hat mir ihr abgeschlossen, wenngleich sie wie ein unlösbarer Schatten an ihm haften bleibt.
„Und wie haben sie sich später bemerkbar gemacht? Du hast sie sicherlich tagtäglich konsumiert."
„Das ist richtig. Je höher ich mit der Dosis ging, umso mehr Pillen schluckte ich über den Tag verteilt. Von einer bis hoch auf fünf. Ja, wie sahen die Langzeitfolgen aus? Die merke ich noch bis heute. Manchmal kommt es vor, dass ich einen zusammenhangslosen Mist sage oder wie aus heiterem Himmel paranoid werde. Ich fange an, Dinge zu sehen, die da gar nicht sind ... Es ist an dieser Stelle gut zu wissen, dass man nicht allein ist. Gerade auf der Arbeit, da kann ich mich auf meine Kollegen verlassen. Sie beruhigen mich wieder und versichern mir bisher immer erfolgreich, dass da niemand ist, der mir an die Wäsche will."
Fragen über Fragen. Da fällt es mir doch schwer, mich zu bremsen.
„Inwiefern nutzte mein Vater deine Abhängigkeit aus?"
„Er ließ mich mit seiner Konkurrenz kämpfen. Gab mir ausreichend Stoff, damit ich wie ein unkontrollierter Wirbel auf unsere Feinde losgehen konnte. Ich war die Aggression in Person. Ich empfand keine Reue, kein Mitleid. Stattdessen war ich skrupellos, gnadenlos und brutal. Mich interessierte es nicht, wie die Opfer nach meinen Taten aussahen. Kaden schaffte es immer wieder, mich unter Kontrolle zu halten. Ist zuletzt dem Fakt geschuldet, dass er die Aggressionen mittels eines schnell wirksamen und hochdosiertem Neuroleptikum in den Griff kriegte. Warte ein, zwei Stunden, und ich war wieder topfit. Diese Scheiße zog sich gute elf Jahre in die Länge. Mit vierzehn angefangen, mit fünfundzwanzig endgültig weg vom Scheiß."
„Und ... wie sahen die Dosierungen aus? Wer hat dir geholfen und wie?"
Jakub vertraut mir und ich so langsam ihm.
„Anfangs nur wenige Milligramm bis Gramm. Dass ich noch lebe, grenzt echt an ein Wunder. Normalerweise spricht man schon bei einer hohen Dosis von mindestens fünfzig Milligramm. Da waren extreme Rauschzustände, die dann gut und gerne zwei Tage andauerten, keine Seltenheit. Tja, denn mit der Zeit ging die Dosis hoch auf zwanzig Gramm. Ausreichend, um mich durchdrehen zu lassen und um mich fast umzubringen. Je höher die Dosis, umso gefährlicher das Risiko der Ohnmacht, des extremen Bluthochdrucks und Atemstillstands. Ich mache kein Geheimnis aus der Sache: Ich wurde mindestens fünfzehnmal bewusstlos. Während des Ganglebens und dann danach. Ich konsumierte den Scheiß immer über Pillen, zog es mir nie durch die Nase, einfach, weil die Vorstellung zu ekelerregend war. Zu Beginn dauerte der Wirkungseinsatz bis zu sechzig Minuten. Mit der Zeit konnte der Start auf höchstens zwanzig Minuten reduziert werden. Einer meiner Dealer entwickelte eine sehr spezielle Zusammensetzung, die mich sogar in fünf Minuten ausbrechen ließ. Er war der letzte Dealer. Den brachte ich eigenhändig um." Ich ziehe keine Miene. „Wie mit Alkohol. Wenig reicht irgendwann nicht mehr. Da muss bald 'ne ganze Flasche 'ran." Jakub spielt mit dem Ehering herum. „Meine Ehefrau und mein inzwischen bester Freund. Jevhen war selbst Drogenhändler. Hat aber aufgehört. Altersbedingt. Er hat am Ende dafür gesorgt, dass ich endlich weggekommen bin. Der Entzug war die Hölle auf Erden. Ich kam nicht klar. Brach ständig aus, brüllte oder schrie mir die Seele aus dem Leib. Schlug alles nieder, alles kaputt. Schlug sogar gegen die Wände, bis die Hände blutig wurden. Rollte wie ein Irrer über den Fußboden. Das Extremste aber war – das meint zumindest Jevhen –, dass ich grundlos anfing zu lachen und mit mir selbst zu reden. Ganz zu schweigen von den ständigen Wahnvorstellungen. Also dass ich bis dato nicht meinen Verstand verloren habe, überrascht mich bis heute." Jakub erzählt es sachlich und gefasst. Lässt sich nichts anmerken. „Du musst es dir so vorstellen: Ein leerer Raum. Nichts weiter als ein Bett. Ich lag da. Gefesselt zu meiner eigenen Sicherheit. Und zu Jevhens und dem Rest seines Teams." Grausig. „Ich verpasste wegen des Entzuges beinahe den Geburtstermin von Mikołaj und Łukasz. Ein verdammtes Jahr voller Schmerzen und Qualen. Ein Jahr die reinste Hölle." Wieso vergesse ich, dass Mikołaj einen Zwillingsbruder hat? „Es funktionierte aber. Danach kam ich nie wieder mit der Droge in Berührung und hörte diese Stimme nicht mehr. Sarah half mir, weil sie ständig bei mir war und mich nie verließ. Vor allem nicht in den Momenten, als ich sie sehr dringend brauchte. Sie war immer für mich da."
Wenn das kein Grund ist, ihn mit völlig anderen Augen zu sehen. Jakub, ein Mensch, der durch die Hölle gegangen ist und sich erfolgreich durch sie gekämpft hat. Der den inneren Dämon aus sich vertrieben hat, ohne daran zu versterben. Er ist ein echter Kämpfer. Er hat sich verändert. Nicht nur für sich, sondern für seine Familie. Seinen Freunden. All die Schmerzen und Qualen haben einen Mann hervorgebracht, den man nicht niederzwingen kann.
„Also wenn das nicht ausreicht, um zu beweisen, dass du ein komplett anderer Mensch geworden bist, dann weiß ich auch nicht weiter", murmele ich und erwidere seinen Blick. „Ich habe großen Respekt vor dir. Deine Stärke und dein Durchhaltevermögen sind echt bemerkenswert." Sein Lächeln beruhigt mich spürbar. „Ich finde es unglaublich. Ich kann mir es mir auch kaum vorstellen. Also ... Ja. Unglaublich."
„Darüber kann man 'n Buch schreiben, was?" Der Dreiundvierzigjährige lacht. Ich lasse mich von diesem anstecken. „Manchmal habe ich darüber nachgedacht. Aber mal im Ernst: Wen interessiert so etwas? Im Endeffekt unterscheidet sich mein Trip nicht von anderen. Drogen sind eh alle Scheiße. Ich kann's immerhin behaupten."
„Ich würd's lesen wollen. Es ist einfach verdammt spannend." Mikołaj darf unter keinen Umständen auf diese Schiene geraten. Ich hoffe inständig, dass Jakub rechtzeitig reagieren wird. „Vor allem für die Leute, die nie etwas mit Drogen zu tun haben oder es werden."
„Ja, das stimmt schon, nur ... Dafür gibt's das Internet. Da existieren haufenweise Artikel, Berichte, Reportagen ... Also genug, um die Neugier zu befriedigen." Er streicht über die breite Motorhaube hinweg. „So, Jess. Jetzt habe ich eine Frage an dich: Wie viel PS hat dein Auto?"
Ich werde stutzig.
„Was für ein Themenwechsel", gebe ich schalkhaft zurück. „Woher der Sinneswandel?"
„Weil ich mich seit dem ersten Anblick deines GTIs frage, ob dort nachgeholfen wurde. Lässt mir keine Ruhe. Schieb's auf die Berufskrankheit."
„Äh, der hat, denke ich, zweihundertfünfzig PS", antworte ich stirnrunzelnd. „Genug für eine kleine Hummel." Die Situation wird skurril. „Da wurde nicht nachgeholfen. Alles original."
„Nur zweihundertfünfzig? Der sieht nach mehr aus." Da kommt der Kenner zum Vorschein. Jakub stößt sich von seinem Wagen ab und beginnt, um meinen Golf herumzugehen. Ich grinse etwas. „Niemals. Der sieht nach mehr aus."
„Also wenn du die Papiere sehen willst, kann ich sie dir gerne aushändigen." Jakub hält sich beim Kofferraum auf. Inspiziert kritischen Blickes die Form und den Schnitt. „Meine Hummel hat zweihundertfünfzig PS unter der Haube."
Er sieht auf. „Wie schnell kann er fahren?"
„Keine Ahnung. Tacho sagt zweihundertachtzig. Ausprobiert habe ich es nie." Er kommt zu mir. Ich halte ein wenig die Luft an.
„Zweihundertachtzig. Das ist schon ordentlich." Er sieht mich an. Ich schlucke tonlos. „Also wenn du irgendwann 'mal die Lust hast, deinen Wagen aufzumöbeln, kannst du mir gerne eine Nachricht schreiben. Ich kann ohne Probleme bis zu siebenhundert PS aus deinem Auto kitzeln."
„Nee, verzichte. Mir reicht das so, wie der Wagen ist." Sein Blick wird intensiv. Ich grinse schräg. „Tob' dich ruhig bei deinen Autos aus."
„Geht ja leider nicht mehr. Bei meinem eigenen will ich nicht mehr als tausendeinhundert herausholen. Der Audi hat neunhundert, und der Wagen der Jungs bereits fünfhundertfünfzig. Das Wort der Frau ist ein ungeschriebenes Gesetz. Diese Art von Gesetz will man nicht brechen." Einmal angefangen mit den Modifikationen, kann man schlecht aufhören. Aber neunhundert PS? Wir reden vom RS7. Neunhundert gottverdammte PS. Wie irre muss man denn sein, um seine eigenen Kinder mit so einem Tier fahren zu lassen? Mikołaj kann nicht viel mehr Fahrerfahrung besitzen als ich.
„Jepp, da hast du recht." Jakub hat sich neben mir ans Auto gelehnt.
„Solltest du irgendwann einen Freund haben, musst du dir eine Sache merken: Du hast immer recht." Er lacht. „Wenn Sarah eine Sache sehr gut kann, dann das Diktator-sein. Hast du aber nicht von mir gehört."
„Weder gehört noch gesehen." Ich schiebe die Hände in die Jackentaschen. „Lass' mich raten: Du hättest diese Fahrzeuge noch auf tausend PS gebracht?"
„Zumindest den Audi." Er wird plötzlich leiser. Verstummt schließlich vollständig. Er hat es gehört: Dieses eindrucksvolle Dröhnen von vor einigen Stunden. Es ist wieder da. Und dieses Mal blitzen grelle Scheinwerfer vom anderen Ende des Parkplatzes auf, die zügig näherkommen. In unsere Richtung. „Ich schätze, wir werden Gesellschaft bekommen."
Da ist es. Das monströse blau-schwarze Ungetüm, das unmittelbar neben uns anhält. Jakub regt sich nicht, ich bin derweil aufgesprungen. Mein Herz rast und droht, mit jeder Sekunde aus der Brust zu springen. Die Handflächen werden von einem dünnen Netz aus Schweißperlen überspannt.
„Tust du ihr irgendetwas an, werde ich dich erschießen." Er ist ausgestiegen. Ich starre unwegsam zu meinem Vater. Den silbernen Todbringer direkt auf Jakubs Brust gerichtet. „Geh' sofort von ihm weg, Jess." Ein kalter und stählender Ton. Der Finger liegt bereits auf dem Abzug. „Jetzt, Jess. Ich wiederhole mich sehr ungern."
Ich fasse es nicht. Ich kapiere überhaupt nichts.
„Tu', was er dir sagt, Jess", murmelt Jakub und zuckt etwas zusammen, als mein Vater die Waffe entsichert. „Mach' es nicht schwieriger, als es ohnehin schon ist." Sie starren sich an. Die braune Farbe voll sprühendem Hass, die eisige Farbe, die glitzert und friedlich schimmert.
„Nein." Ich denke nicht länger nach, sondern stelle mich vor Jakub. Jetzt ist der Lauf auf mich gerichtet. Was für ein Scheißgefühl. Eine lähmende Starre will mich ergreifen und umklammern. Noch kann ich sie von mir fernhalten. „Du hast nichts getan." Habe ich vielleicht Angst vor ihm. Ich habe meinen Vater noch nie so erbost gesehen. „Du hast mich verfolgt, nicht wahr?"
Mein Vater presst die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und senkt die Waffe. Sichert sie, aber steckt sie nicht weg.
„Mir war klar, dass du nicht zu Elise willst." Er hört sich verbittert an. „Sondern zu Jakub." Jakub hält sich diskret heraus. „Warum, Jess? Was erhoffst du dir von dieser Scheiße? Dieser Mensch ist kein Guter!"
„Du genauso wenig", kontere ich automatisch. „Du hast genauso viel Dreck am Stecken. Wenn nicht sogar mehr, weil du nach wie vor deinen beschissenen Drogenhandel betreibst." Toll. Ich fange an, einen Keil zwischen uns zu treiben. „Jakub hat mir mehrfach bewiesen, dass er anders ist. Nicht mehr wie früher, weißt du? Lern' doch endlich, zu verzeihen und nicht ständig der Vergangenheit nachzutrauern. Das bringt nichts."
„Geh' weg." Er setzt einen Schritt in unsere Richtung.
„Nein." Ich werde zunehmend stur. „Ich will den Grund hören, warum du ihm nicht verzeihst. Er kann es nämlich."
„Jess, es wäre wirklich besser, wenn du ..." Ich schüttele den Kopf, und Jakub wird erneut still.
„Du verdammtes Arschloch. Hast meine Tochter auf deine Seite gezogen, um sie gegen mich aufzustacheln, hm?" Eine altvertraute Wut, die da in ihm aufkeimt. „Hast ihr bestimmt erzählt, wie ich dich jämmerliches Arschloch erniedrigt, gedemütigt und fertiggemacht habe oder was ich alles ach so Schlimmes mit dir angestellt habe?"
„Ganz ehrlich: Was redest du da für einen Scheiß?", beginne ich aufbrausend. „Er hat mich nicht auf seine Seite geholt. Im Gegensatz zu dir habe ich mir beide Seiten angehört. Ich sehe ihn und dich mit anderen Augen. Ihr seid beide kein Stück besser als der andere, okay? Meine Güte. Krieg' dich wieder ein." Ich werde jäh leise, als Jakub mich behutsam zur Seite schiebt und auf meinen Vater zugeht. Sämtliche Bilder explodieren in meinem Kopf. Ich gehe vom Schlimmsten aus. Aber ich habe nicht den Mut, dazwischenzugehen. Zu groß ist die Angst, dass er plötzlich die Wut gegen mich richtet.
„Wir können ruhig vernünftig miteinander reden, Kaden", beginnt Jakub asketisch und begegnet dem hasserfüllten Blick meines Vaters. „Siebenundzwanzig Jahre sind vergangen. Fast drei Jahrzehnte. Denkst du wirklich, dass ich mich kein Stück verändert hätte? Merkst du das nicht?" Er weicht zügig nach hinten, als sein Gegenüber Anstalten gemacht hat, ihn zu schlagen. „Es ist genug Zeit vergangen, um sich selbst und den anderen zu verzeihen. Zeit, um zu lernen, wie man mit der Vergangenheit abschließt." Er nähert sich ihm von Neuem. „Du bist ziemlich tief gefallen. Aber da bist du nicht allein. Die Landung tut weh. Ja, das ist richtig, nur ... Jeder Schmerz vergeht. Man lernt, mit ihm umzugehen und gegebenfalls zu vergessen. Es gibt immer eine Art Heilung. Anders kann ich mir nicht erklären, wie du und ich eine Familie gegründet haben." Keine Reaktion von meinem Vater. „Kaden, ich habe dir verziehen. Schon lange. Ich habe mit dem Tod meines Bruders abgeschlossen. Es gibt wichtigere Dinge, auf die ich mich konzentrieren muss. Nämlich auf meine Kinder und meine Frau." Er lässt die Waffe verschwinden. „Ich weiß, dass du nie über den Tod deiner Schwester hinweggekommen bist. Du hast genauso sehr an ihr gehangen wie ich an Miłosz. Die Bindungen waren sehr innig und einzigartig." Sie nehmen mittlerweile von meiner Anwesenheit kaum Notiz. „Warum hältst du dich immer noch an diesem Felsen fest und lässt dich nicht aufs rettende Boot holen? Warum fällt es dir so schwer, mir zu verzeihen nach all der langen Zeit, in der wir uns weder gesehen noch miteinander oder zueinander Kontakt hatten?"
„Weil ... weil ..." Der Wortfluss bricht ab. Er senkt den Kopf. Keine weiteren Tropfen fließen. Wie ein Damm, den man in Sekundenschnelle errichtet hat.
„ ... es nicht fair ist, dass ich es geschafft habe und du es nicht kannst? Weil ich glücklich bin und du es nicht bist? Nicht richtig?" Jakub streckt eine Hand nach ihm aus. „Du kannst jetzt den ersten und vor allem wichtigen Schritt machen. Den Schritt in die richtige Richtung." Jakub harrt in dieser Haltung aus. „Du kannst jetzt neu anfangen, wenn du es denn möchtest. Ohne Abhängigkeit von der eigenen Vergangenheit." Nichts. Jakub lässt nicht locker. „Jess hat mir erzählt, dass es Tage gibt, wo man dich gut auf mich ansprechen kann. Sie meinte, dass du mich nur vergessen hättest, weil du Angst hattest, mich zu verlieren. Ist das wahr, Kaden?"
Ich beobachte meinen Vater sehr genau. Er lässt sich nichts anmerken. Es ist zu schwierig zu deuten, was gerade in ihm vorgeht.
„Ja." So leise, dass ich es kaum verstanden habe. „Ich hatte Angst, dich zu verlieren."
Es kommt genau das, womit ich überhaupt nicht gerechnet habe. Mein Vater lässt sich von Jakub in eine innige Umarmung ziehen, die er sogar erwidert. Als hinge sein Leben von ihm ab. Als durchsuche ihn wieder die Angst, ihn zu verlieren. Ich habe erst die Befürchtung gehegt, er würde ihn abstechen oder dergleichen. Nichts. Mein Vater hat sich seinen eigenen Emotionen ergeben. Ein einzigartiges Bild, das mich beinahe zu Tränen rührt.
„Ich habe schon gedacht, du hättest mich komplett vergessen." Jakubs Hände wandern langsam über den breiten Rücken von ihm hinweg. „Auch jetzt."
„Nie. Ich habe ... zu oft an dich gedacht", erwidert mein Vater mit bedrückter Stimme. Sicherlich an den Tagen, als ich ihn gut auf Jakub habe ansprechen können. „Wichtige Menschen kann ich nicht vergessen."
„Das hast du noch nie getan." Jakub nimmt langsam die Arme von ihm. „Verrate mir eine Sache: Kannst du mir verzeihen?"
Eine Antwort, die Zeit benötigt. Jakub bedrängt ihn nicht, wartet geduldig. Es kommt mir persönlich so unglaublich und surreal vor. Eine alte Feindschaft, die doch irgendwann endet. Niemand kann jemanden ein Leben lang hassen. Entweder, man gewöhnt sich an dieses starke Gefühl, bis es gleichgültig ist oder aber, man lernt, mit der Emotion abzuschließen. Hass nährt, das ist richtig, aber es ist keine Quelle für die Ewigkeit.
„Ja." Mein Vater ballt eine Hand zur Faust. Ich sehe ein wenig sorgenvoll auf, allerdings halte ich mich weiterhin im Hintergrund. „Verdammt, ja. Du hast ... recht. Ich muss endlich lernen abzuschließen. Du hast es ja auch geschafft." Er erwidert Jakubs Blick. „Mir tut alles leid. All den Scheiß, den ich dir damals angetan habe. Von der Erniedrigung bis hin zur versuchten Tötung deiner Familie. Ich bin mir bewusst, dass das alles viel zu spät ist und es womöglich nichts mehr ändern, nur ... Du sollst wissen, dass ich es ernst meine."
„Ich weiß, sonst hättest du weiterhin versucht, mich oder meine Familie umzubringen. Oder jetzt, wo ich so vor dir stehe", ergänzt Jakub leise. „Ich weiß es sehr zu schätzen. Gerade bei dir ist es keine Selbstverständlichkeit." Ein schwaches Lächeln bildet sich auf den Lippen. „Es ist gut, dass du den ersten richtigen und wichtigen Schritt gemacht hast. Denkst du, wir beide können zusammen noch einmal neu anfangen? So wie vor siebenundzwanzig Jahren?"
„Aber ohne Drogen, der Gang oder anderen." Wieder eine Umarmung, die bedeutend kürzer abgehalten wird. „Wir haben uns verändert. Warum also nicht einen Neuanfang wagen?"
„Ganz genau." Sie lächeln beide. Wellen der Erleichterung bahnen sich an. Sie schöpfen Kraft und Größe. Entwickeln sich zu einem regelrechten Tsunami. „Am Ende spricht eh nichts dagegen." Mein Vater schaut zu mir. „Verdammte Scheiße. Ich habe dich total vergessen. Komm' her, Kleines." Ich tue es. Man kann mir sicherlich die Freude ansehen. „Weißt du? Ich bin dir doch irgendwie dankbar. Ich bin eigentlich wegen dir hier." Lächelnd schmiege ich mich an ihn. „Tja, und jetzt habe ich mich mit Jakub versöhnt." Ein Kuss auf meinen Kopf. „Interessante Überraschung beziehungsweise Wandlung."
„Ich hab' doch gesagt, dass euch mehr verbindet, als du zuerst gedacht hast", murmele ich glücklichen Tones und genieße seine Nähe. Jakub beobachtet uns lächelnd. „War eh nur eine Frage der Zeit, wann ihr euch wieder vertragt."
„Ja ..." Ein schwereloser Unterton. Er streicht behutsam über meinen Arm. „Auch wegen der blöden Narben im Gesicht."
„Unter anderem", bestätigt Jakub und lässt den Blick über die Autos schweifen. „Wie ich sehe, hast du dir wieder deinen Bugatti geholt?"
„Nicht das Standardmodell. Den Pur Sport", antwortet er entspannt. Man merkt ihm an, dass viel Last von seinen Schultern genommen worden ist. „Warum nicht? Fast jeder weiß, dass ich früher mit so einem Ding herumgefahren bin. Jetzt bin ich wieder draußen, Upgrade musste her – jetzt steht er hier vor der Haustür."
„Falls die dich wieder erwischen und du kommst raus, wirst du dir den Centodieci oder Voiture Noire anschaffen?", will Jakub amüsiert wissen.
„Ich mag beide Modellvarianten nicht. Die sind mir persönlich zu blöd geschnitten." Er winkt mit der freien Hand ab. „Ein zweites Mal werden die mich nicht kriegen. Da bin ich inzwischen deutlich vorsichtiger geworden. Ich arbeite mit niemand so intensiv zusammen wie früher. Gut, es gibt zwei Männer – das sind übrigens die, deren Namen du gelesen hast, Jess –, auf die ich des Öfteren zurückgreife. Also was Logistik, Sicherheitsfragen und Koordination angeht. Ist doch ein Aufwand, den man auf Dauer nicht allein bewältigen kann." Ich bleibe an ihn geschmiegt. Höre nicht richtig hin. „Außerdem ... Julien ist leider gestorben." Dieser Schmerz wird noch sehr lange andauern.
Jakub zieht eine Augenbraue hoch.
„Ja?"
„Vor meinen Augen erschossen, als er mich rausgeholt hat. Ich wollte bei ihm bleiben, ihm irgendwie helfen. Ein paar Beamte sind draufgegangen, die uns zu nahe gekommen sind. Julien hat darauf bestanden, dass ich abhaue, obwohl er gesehen hat, dass ich ihn nicht zurücklassen kann und will." Ich schlinge beide Arme um ihn. Eine Geste, die ihm signalisieren soll, dass er nicht allein ist. „Er ist vor Ort und Stelle verblutet. Ganz mieser Treffer ins Bein." Mein Vater hat davon Notiz genommen. „Wird wohl eine Weile dauern, bis ich darüber hinwegkommen werde." Er seufzt leise. „Hätte ich sie und Alaina nicht, hätte ich mir längst 'ne Patrone ins Hirn gejagt. Wäre mir alles zu viel geworden."
„Alaina?" Jakub steuert geschickt einen Themenwechsel bei. „Deine Frau?"
Es funktioniert. Mei Vater geht willentlich darauf ein.
„Jepp. Meine wunderbare Ehefrau." Die Anzeichen der Schmerzen lösen sich in Luft aus, und eine heitere Note untermauert die tiefe Stimme. „Seit genau zwanzig Jahren schon. Das war Liebe auf dem ersten Blick." Er gerät ins Schwärmen. „Die Flucht durch Norddeutschland hatte etwas Gutes. Da habe ich Alaina kennengelernt."
„Auf der Schanze, richtig?", mische ich mich lächelnd ein.
„Ganz genau." Er lacht verhalten. „Jakub, ich finde, wir sollten zu mir. Die Nacht ist noch lang. Wir haben uns sicherlich eine Menge zu erzählen. Was hältst du von dieser Idee?"
„Wenn ich denn darf, warum nicht? Klar, gerne." Jakub zückt den Autoschlüssel hervor. „Vorausgesetzt, du zeigst mir, wo es langgeht. Ich kenne mich hier überhaupt nicht aus."
„Ich könnte jetzt sagen, dass es so etwas wie Google Maps gibt", erwidert mein Vater schelmisch.
„Dann kontere ich, dass der Akku meines Handys inzwischen leer ist."
„Du fährst vor", wendet mein Vater sich an mich. „Wir hinter dir."
„Okay." Ich gehe unbeschwert zu meinem weißen Flitzer. Ich gleite ins Fahrzeug, lasse mich auf dem Fahrersitz nieder. Ist so diese kurze, aber einzigartige Freundschaft zwischen ihnen gewesen? Ich hoffe, dass beide Seiten daraus aus sind, die Bänder neu zu spannen und dass niemand etwas leer daher gesagt hat. Ich beobachte die beiden. Sie haben sich in ein Gespräch vertieft. Manchmal nickt Jakub. Er sucht seinen Wagen auf, mein Vater sein Monster.
Es ist unglaublich. Sie haben es geschafft. Mein Vater hat ihm verzeihen können. Ein Zeichen für mich, dass er bemüht ist, mit der Vergangenheit endgültig abzuschließen und den Schlüssel weit fortzuwerfen. Vielleicht sogar im Meer zu versenken. Ich starte den Motor. Setze etwas zurück, ehe ich losfahre. Langsam. Jakub fährt mir auf. Die Nachhut wird von meinem Vater gebildet. Ich fühle mich spürbar entspannter und lockerer. Eine große Kiste der Sorgen ist endlich vernichtet worden. Ich lehne mich zurück. Fahre vom Parkplatz herunter. Das Handy hat die Karte offenzustehen. Ein paar schnelle Bewegungen (Und ohne, irgendwo gegenzufahren.), und ich kann ohne Schwierigkeiten nach Hause fahren.
Sie haben sich verziehen. Sind nun bereit, gemeinsam einen völlig neuen, vielleicht auch unbekannten Weg zu gehen. Das Schöne ist: Sie meinen es ernst und hegen keinerlei schreckliche Absichten. Wie meine Mutter darauf reagieren wird? Bestimmt genau wie ich.
-
„Ziemlich hübsch", sagt Jakub, als er den Wagen auf der Einfahrt geparkt hat. Mein Vater ist als Erstes auf den Hof gefahren, um das Ungetüm in seinen Käfig zu bringen. Meine Hummel steht unter dem Carport. „Gefällt mir." Das Tor ist bereits zugeglitten. „Drei Autos habt ihr?"
„Einfach und ausreichend. Wir legen nicht wirklich Wert auf Schnickschnack." Er kommt aus der Garage hervor. „Minimalistisch ist das neue Modern." Das Garagentor schließt sich. „Genau. Den Audi, den GTI und dann den dicken Brummer in der Garage." Mein Vater grinst sehr leicht. „Lass' mich raten: Du bist immer noch der verrückte Raser von früher?"
„Na, was denkst du denn? Dass ich einfach so mein Talent und meine Leidenschaft vergesse? Niemals. Nicht ich. Der Tiger haben inzwischen tausendeinhundert PS, der Audi von uns neunhundert und der Wagen der Kinder gute fünfhundertfünfzig. Ich kann ganz schlecht die Finger von Autos lassen." Er klopft sanft auf die Motorhaube des Porsches. „Ich kann deinen auf zweitausend PS bringen."
„Da sagt man Nein, und du suchst dir den Nächsten." Ich grinse amüsiert. „Tausendfünfhundert sind doch schon genug." Ich höre zu, was mein Vater mir aufträgt. „Ja, klar. Kann ich machen. Dann bis gleich." Ich angele den Hausschlüssel aus der Hosentasche und gehe zu der Tür. Lasse die beiden unter sich. Das Türblatt fällt vollständig ins Schloss.
„Wirklich? Du hast sie gefragt, ob du ihren Wagen aufpolieren kannst?"
„Ich hab's dir gesagt: Ich kann ganz schlecht die Finger von anderen Autos lassen", gibt Jakub schulterzuckend zurück. „Es macht unheimlichen Spaß, an der Technik zu arbeiten." Kadens Gegenüber sieht sich um. „Einmal ein Enthusiast, immer einer. Ich mach' sogar bis heute die Straßen unsicher." Kaden deutet zum hinteren Teil des Hauses. Genauer gesagt, zu einem kleinem Tor, das dorthin führt. „Wir haben alle Stärken, die man mit der Zeit nicht ignoriert. Ganz gleich, ob kriminell oder nicht." Er folgt ihm. „Was sagen deine Geschäfte?"
„Eben." Die knöchelhohen Laternen spenden ein nahezu weißes Licht. „Hey, solange man damit gutes Geld verdient und die Familie ohne Weiteres durchbringen kann, ist es mir egal." Eine bequem aussehende Sitzecke. „Nimm Platz und fühl' dich wie zu Hause." Kaden nimmt auf dem Sofa Platz. „Laufen wieder gut. Zwar nicht wie vor der Knastzeit, aber sind auf dem besten Wege. Es tut gut zu wissen, dass niemand dich vergessen hat und sofort auf dich zurückgreift, sobald du ankündigst, neue Ware anzuschiffen. Ich habe ein paar Mal einen dreistelligen Gewinn erzielen können."
„Lasse ich mir nicht zweimal sagen." Jakub lässt sich auf einem der Stühle nieder. „Wer sich einen Namen gemacht hat, wird quasi wie eine Legende behandelt. Ist bei mir mit den Autorennen nicht viel anders. Nur ... wenn es gut läuft, dann allerhöchstens drei Millionen. Sonst immer im einstelligen Bereich oder im hohen tausender." Ein weitläufiger Garten, umringt von meterhohen sauber gestützten Hecken. Eine Handvoll Obstbäume, ein prächtiges Blumenbeet und ein überdachter Pool. Jakub ist beeindruckt. „Also bist du wieder dabei, Mulitmilliardär zu werden?"
„Zu werden? Bin ich längst, aber ist kein Grund, sich darauf auszuruhen." Kaden sieht zu der Küche. Fahriges Licht tänzelt durch die schemenhafte Dunkelheit. „Hm, ich schätze, Alaina ist nicht zu Hause und Jess hat wohl 'was anderes im Kopf. Jetzt kann man unter sich sein." Kaden lächelt leicht. „Willst du etwas trinken oder so?"
„Nachher, wenn's recht ist", antwortet Jakub entspannt.
„Passt. Gib einfach einen Ton von dir."
„Ich find's gut, dass du damit bescheiden umgehst. Wenn ich daran denke, wie die anderen Händler sich auf ihre Gewinne ausgeruht haben ..." Jakub neigt ein wenig den Kopf zur Seite. „Du hast sie gekannt, oder? Die elf?"
„Gekannt nicht unbedingt. Ich wusste aber, dass es sie gab. Du kennst mich. Ich dulde keine Konkurrenz. Gott, wenn ich daran denke, wie ich früher vorging ... Ich würde eine Menge anders machen und vor allem: Nicht mehr so größenwahnsinnig denken." Kaden atmet hörbar aus. „Für viele Dinge könnte ich mich selbst verfluchen. Bestes Beispiel: Ich war ein totaler Einzelgänger und griff so gut wie nie auf meine achtzehn Mittelmänner zurück." Er räuspert sich spöttisch. „Kein Wunder, dass ich sehr selten große Gewinne einfahren durfte."
„Aus Fehlern lernt man bekanntlich am besten. Und hey, nicht alles sollte man verfluchen. Wer weiß, ob du vielleicht doch jemand anderes geworden bist, wärst du in der Vergangenheit andere Wege gegangen." Jakub zuckt mit den Schultern. „Kennst du Jevhen?"
„Prokofjew?"
„Ja."
„Ich habe ihn nie erwischt. Wenn, dann nur fast. Der ist mir entkommen. Hab' mich ziemlich darüber geärgert."
„Lebt sogar noch. Ist inzwischen mein engster Freund geworden."
„Ach, wirklich?", hakt Kaden überrascht nach. „Wie kommt es denn dazu? Oder, nein, warte. Wie bist du überhaupt mit ihm in Kontakt gekommen? Hast du nach ihm gesucht?"
„Ich verarsche dich nicht. Ist mein voller Ernst." Jakub lässt sich tiefer im Stuhl sinken. Stützt beide Arme auf der Lehne ab. Es nicht dunkel – die eingebauten Strahler, gedimmt, verteilen eine angenehme Helligkeit. Ausreichend, um die jeweiligen Gesichtszüge des Gegenübers zu erkennen und zu interpretieren. „Ich ... brachte Jacek weg. Ist aus der Gang abgehauen, weil er Angst um sein Leben hatte. Als du nach mir suchen wolltest, hast du indirekt deine Leute auf meine Landsleute aufgehetzt. Ein paar von ihnen waren gestorben oder begangen Selbstmord. Wie dem auch sei. Auf dem Rückweg hat Jevhen mich abgefangen. Ich dachte erst, der Idiot will mich zu einem Rennen auffordern. Erst fuhr er plötzlich ziemlich dicht hinter mir ... Natürlich mit eingeschaltetem Fernlicht, sodass ich noch blinder als jetzt war." Er mustert den Glastisch, auf dem ein Buch, Aschenbecher und eine stilvolle Vase thronen. „Der fing mich teilweise auf der Straße ab oder hat mich ausgebremst. Werde ich nie vergessen, als er plötzlich mitten auf dem Standstreifen stand und mich eingeholt hat. Total irre, sag' ich dir. Ich habe nicht nach ihm gesucht, sondern er nach mir. Zu dem Zeitpunkt haben wir das gleiche Ziel gehabt: Wir wollten dich umbringen."
„Hat ja gut funktioniert", meint Kaden trocken.
„Hm, wir können beide froh sein, dass wir von unseren Plänen abgesehen haben", sagt Jakub betont ruhig. „Jedenfalls: Wir lernten uns viel besser kennen. Jevhen hat mir sogar gebeichtet, dass er sogar vorhatte, mich umzulegen, nachdem du von der Liste gestrichen wurdest. Hat er Gott sei Dank nicht getan, weil er erkannt hat, dass ich mich ernsthaft verändern will. Jevhen hat mir mächtig unter die Arme gegriffen."
„Ist er eigentlich noch aktiv?"
„Nein. Hat wegen seines Alters aufgehört. Soweit ich weiß, fokussiert er sich auf seinen Job als Rechtsanwalt und auf seine Leidenschaft als Sportler. Falls du es wissen willst: Kainz, Brož und die anderen beiden sind nicht mehr aktiv. Einer hat aufgegeben, zwei sind getötet worden und die eine hat Selbstmord betrieben. Jevhen ist der Einzige der elf, der noch lebt. Oder überlebt hat. Keine Ahnung, wie ich das nennen soll. Du hast also freies Feld."
„Weiß ich. Davon habe ich schon gehört." Kaden bleibt die Ruhe selbst. „Ich habe nicht nur Kontakte zu der deutschen Untergrundszene." Da huscht ein Igel durch die Hecken. „Erklärt, weshalb ich mein Einflussgebiet zügig vergrößert habe. Westeuropa inzwischen komplett, Osteuropa folgt langsam. Mal schauen, wie es sich entwickeln wird. Die Feinde werden nämlich nicht weniger."
„Musst du wissen. Du machst das schon. Ich sage dazu nichts. Habe so oder so keine Ahnung." Tattoos zieren beide Arme. „Wie hast du eigentlich deine Frau kennengelernt?"
Kaden lächelt sogleich los.
„Noch im Jahr meiner Flucht. Ich habe mich zu dem Zeitpunkt in Hamburg aufgehalten. Julien hat, bevor er gestorben ist, mir verraten, dass er in San Pauli einen Unterschlupf hat, der behördenfremd ist. Ich habe mich also dort aufgehalten. Immer darauf achtend, keinen Trubel zu veranstalten oder ungewollte Aufmerksamkeit zu generieren. Da lief eine Art Schanzenfest. Traditionell abgehalten von den dortigen Einheimischen. Ein richtiger Touristenmagnet, das sage ich dir. Ich habe mir nichts dabei gedacht, mich einmal unter die Leute zu mischen. Einfach, um mich abzulenken. All den Scheiß mit der Flucht für ein paar Stunden vergessen. Kapuze auf, gewöhnliche Kleidung an und los geht's. In der Nähe der ganzen Stripclubs und Bordelle, auf einer Art Restaurantinsel, wollte ich mir etwas zu trinken besorgen. Die waren alle gut dabei, teilweise stark betrunken. Besoffen auch. Fand ich lustig. Aber niemand hat von mir Notiz genommen. Ich war da und keinen hat's interessiert. An der Bar habe ich sie gesehen. Eine knallpinke Trainingsjacke, schwarze Jogginghose und bunte Sneaker. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwer es mir gefallen ist, sie anzusprechen. Mir war es so verdammt peinlich und unangenehm. Nicht zuletzt wegen der Tatsache, dass sie mich anfangs abservieren wollte, weil ich genervt habe. Warum auch immer."
„Dir war's peinlich, mit einer Frau zu reden?"
„So seltsam es sich anhört, ja." Und Jakub lacht leise los. „Ich habe auch die Sorge gehabt, dass sie durchdrehen würde, sobald sie merkt, wen sie da vor sich hat. Hat ihr aber Gott sei Dank nicht gestört, weil sie in mir einen anderen Menschen gesehen hat. Du, das sage ich dir", Kaden berührt seine Schläfen, „das war vielleicht peinlich. Kein Wort 'rausbekommen, habe nur gestottert und wurde rot wie eine verdammte Tomate."
„Och, wie süß. Da war wohl jemand über beide Ohren verliebt." Kaden murmelt etwas Unverständliches, das Jakub wiederum amüsant findet. „Ist doch schön. Wahre Liebe gibt's also."
„Nach der Nummer, ja. Ich habe ohne Scheiß an die wahre Liebe geglaubt. Tja, jetzt sind wir miteinander verheiratet und haben eine wunderbare Tochter." Interesse mischt sich in die Stimme ein. „Jetzt zu dir. Wie ist das bei dir zustande gekommen?"
„Pff, die kürzeste Kurzversion: Ich habe meine Ex-Freundin betrogen, habe Trost bei meiner Ehefrau gesucht und haben uns wenige Tage später eingestanden, dass wir uns ineinander verguckt ha- ... Okay, dann die längere Version: Ich lernte Sarah gleich an dem Tag meines Ausbruchs kennen. Huuben nahm mich bei sich auf, weil er derjenige war, der mich vor den Beamten gerettet hat. Ich hab' mich in einer Scheißmülltonne versteckt." Er zieht die Nase kraus. „Keine schöne Angelegenheit. Er fand mich und brachte mich raus aus Berlin. Nach Potsdam. Martijn hat mir meinen Wagen gebracht. Von dem... Zollamt geklaut. Ist damit geradewegs durch den Zaun gebrettert und hat noch irgendwelche Leute mitgenommen. Es hat fast drei Wochen gedauert, den wieder auf Vordermann zu bringen. Oliver hat mich dann gesehen, als ich am Wagen gearbeitet habe. Ich weiß noch, wie er mir voller Stolz seine Spielzeugsammlung an schnellen Autos präsentiert hat." Auch Jakub schwebt auf der Woge der Nostalgie mit. „Er hüpfte dann auf dem Fahrersitz herum, bis dann irgendwann Sarah gekommen ist. Seit dem Tag haben wir uns hervorragend verstanden."
„Du meinst Li-Wen, oder?" Kaden richtet sich mehr auf. „Ich hab's mit angesehen. Deine Flucht aus dem Transporter und teilweise durch den Bezirk. Ich habe nicht schlecht gestaunt ... und war echt wütend."
„Hm? Ach, ja. Ja, war meine Ex-Freundin. Es lief einfach nicht mehr. Hauptsächlich wegen ihres Verrates und meiner Knastzeit. Da waren die Gefühle schnell wieder weg." Jakub schaut zu der offenen Terrassentür. „Sie stand auf dich. Hab' ich auch während unserer Beziehung bemerkt. Ist bloß schade, dass sie es nie angesprochen hat."
„Ich weiß. Es war daher umso leichter, an die Informationen der Behörde zu kommen. Falls du es wissen willst: Wir gingen für ein paar Wochen eine Beziehung ein. Hielt nicht lange, weil ich beschlossen habe, eigene Wege zu gehen. Sie auch. Ich weiß aber nicht, wo sie sich aktuell aufhält. Der Kontakt hat sich verloren."
„Hab' ich mir schon gedacht." Jakub zuckt mit den Schultern. „Ich habe mich damit eh abgefunden. Ich habe immerhin Sarah gefunden. Sie ist die Frau, die mir alles bedeutet." Er blinzelt langsam. „Wo ist eigentlich deine hin?"
„Gut, dass du es ansprichst." Kaden schnaubt belustigt und holt sein Handy hervor. Eine Nachricht von vor einer dreiviertel Stunde. „Ist bei ihren Freundinnen in Berlin. Machen sich da einen entspannten Abend Schrägstrich Nacht. Würde sagen: Frauenfreie Zone." Sie lachen unbeschwert los.
„Na, nicht ganz. Deine Tochter ist noch hier", erinnert Jakub ihn.
Kaden vollbringt eine wegwerfende Handbewegung.
„Die Kleine kriegt nichts mit. Ist höchstwahrscheinlich mit der Technik beschäftigt. Soll sie auch. Hauptsache, sie kommt auf andere Gedanken."
„Du hältst nicht viel von der Tatsache, dass sie sich für meinen Sohn interessiert, nicht wahr?"
„Ehrlich gesagt, nein. Nimm es mir bitte nicht übel: Dein Sohn ist die schlechteste Wahl für sie."
„Wegen seines Verhaltens?"
„Unter anderem. Na ja, und ... Sie ist viel zu naiv, wenn du verstehst, wie ich das meine." Kaden sieht hoch. „Ich finde nämlich, dass sie mit jemand anderes diese Erfahrungen machen soll."
„Kann ich verstehen. Bei dir ist das noch 'mal eine ganz andere Nummer", äußert Jakub, „als Vater, finde ich, geht man mit Töchtern anders um als mit Söhnen."
„Da ist 'was dran." Ein angenehmes Schweigen breitet sich zwischen ihnen aus. „Die Gangs existieren nicht mehr."
„Seit du mit Julien abgehauen bist, hab' schon 'von gehört. Abgehauen, umgebracht oder sich gegenseitig getötet. Ich schätze, sie haben versucht, insbesondere uns aus dem Verkehr zu holen." Jakub dreht den silbernen Ring umher. „Zumal Jason vorher gestorben ist."
„Wegen seiner Krankheit. Ich habe es nicht mehr geschafft, ihn dazu zu bringen, sich weiter am Leben zu erhalten. Ich kam nicht mehr durch zu ihm", sagt Kaden leise. „Nur noch Haut und Knochen." Sie haben ihn beide respektiert und gemocht. „Da waren es nur noch zwei."
„Ist so." Jakub nickt bedächtig. „Weißt du was? Ich finde, wir sollten auf uns anstoßen. Ein Zeichen des Neuversuchs."
„Bier?"
„Das, was du da hast. Aber bitte nichts Starkes. Ich muss noch fahren", ruft Jakub ihm belustigt nach.
„Fahren auch noch. Man fährt kein Auto, wenn man Alkohol im Blut hat." In der Speisekammer befindet sich noch ein schwarzer Kasten mit gut acht gefüllten Flaschen.
„Ein Bier macht sich bei mir nicht bemerkbar, vor allem nicht in meinem Fall", gibt Jakub ungerührt zurück. Kaden geht wieder nach draußen. Öffnet eine geschickt und händigt sie ihm sein Gegenüber aus. „Danke sehr." Jakub betrachtet das Etikett. „Wärst du mit Radler um die Ecke gekommen, hätte ich dir die Flasche über den Kopf gezogen."
„Radler ist kein Bier." Kaden hebt ein wenig die Flasche an. „Also, mein Guter: Auf uns, auf einen gemeinsamen Neuanfang und auf die Zeit, die jetzt noch kommt." Ein Lächeln, das auf Ehrlichkeit und Wohlsein fußt. „Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass du mir verziehen hast."
„Das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich weiß es sehr zu schätzen." Sie stoßen an und erlauben sich den ersten Schluck. „Fast drei Jahrzehnte haben wir keinen Kontakt zueinander gehabt. Da muss eine gewisse Menge aufgeholt werden."
„Eine gewisse Menge? Ganz schön viel." Kaden grinst. „Die Zeit muss nur stimmen."
„Oder so." Jakub erwidert es. „Spontan ist auch gut. Ach, meld' dich bei mir oder ich werde mich bei dir melden, und wir schauen, ob's passt oder nicht. Ich meine, ich weiß, wie es bei dir aussieht. Du aber nicht, wie's bei mir ausschaut. Sarah würde deine Familie gerne kennenlernen wollen."
„Ist sie denn gut auf mich anzusprechen?", fragt Kaden zweifelnd nach.
„Natürlich. Besonders seit ich dir verziehen habe. Sie ist sich auch bewusst, dass du dich auch ziemlich verändert hast. Abgrundtief schlechte Menschen gründen keine Familie."
„Hm, okay." Ein weiterer Schluck. „Ich werde schauen."
„Keinen Stress. Ich erwarte nicht, dass wir alles überstürzen."
Die Gespräche reichen bis tief in die Nacht. Ein paar Blicke auf die Uhr haben ausgereicht, um zu wissen, dass es weit nach zwei Uhr morgens ist. Vielleicht sogar schon drei Uhr. Sie haben gelacht, teilweise ernste Töne angeschlagen oder einfach nichts gesagt und die angenehme Stille ausgekostet. Sie sehen sich mit anderen Augen. Haben sich auf einer völlig fremden und doch vertrauten Ebene wiedergetroffen. Manchmal hat Kaden sich gefühlt, als wäre er durch die Zeit gereist. Zu den Ursprüngen ihrer Freundschaft. Ob dieser Weg in eine ähnliche, wenn nicht sogar gleiche Weise mündet? Er wünscht es sich.
Der nächste Tag dämmert bereits an, als sie sich voneinander verabschiedet haben. Es ist bedauerlich, aber Jakub hätte noch ein gutes Stück Fahrt vor sich. Sie würden einen passenden Tag finden. Früher, als beide denken. Eine Freude, die auf beiden Seiten fußt. Dann ist er davongefahren. In die anfänglich verschwommene Schwärze der alternden Nacht. Er hat ihm nachgeschaut. So lange, bis er rote Sportwagen abgebogen ist. Ein dünnes Lächeln kräuselt die Lippen. Kaden hat gar nicht gemerkt, wie Alaina zu ihm geschwebt ist. Erst, als sie ihre schmächtigen Arme um ihn legt, gleitet er in die Realität zurück. Wann ist sie wiedergekehrt? Kaden hat davon keinerlei Notiz genommen. Er streicht über ihre zierlichen Hände. Ihr Haar kitzelt seinen Hals. Es sei Zeit, ins Haus zu gehen. Kaden geht widerstandlos mit. Behält ihre rechte Hand umfasst. Ein rauchig-süßlicher Geruch umhüllt ihre Gestalt. Keine Frage von ihm.
Der Tag kann bedenkenlos eingeläutet werden. Ein Tag mit einem kleinen Feuer einer alten Hoffnung.
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