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20 - Kein Vergessen

„Du hast nicht rein zufällig vor, hier zu übernachten? Wenn ich ehrlich sein soll, passt es mir nicht wirklich, dich so spät nach Hause fahren zu lassen." Wie spät es ist? Also elf Uhr ist es bestimmt nicht mehr. Eigentlich habe ich meinem Vater versprochen, um diese Zeit zu Hause zu sein. Ich hoffe inständig, dass er es nicht so eng sehen wird. Diese plötzliche Unbeschwertheit, die er heute Nachmittag zu Tage gelegt hat, hat ein ungutes Gefühl hinterlassen. Das Gespräch mit meiner Mutter sei nach hinten gestellt – ich weiß genau, dass er sich von Null auf Hundert nicht ändern wird. Das schafft kein Mensch. Besonders er nicht. Ich habe mich längst darauf einstellt, durch einen schweren Sturm zu schreiten. Dieses Mal werde ich mich nicht umdrehen und vor ihm weglaufen. Es ist, als wenn ich einer meiner vielen Ängste ins Auge blicke. Fliehen wird sich nicht lohnen; davon werden die Probleme auch nicht weniger. Er kennt die Wahrheit. Ich weiß es einfach. Einmal tief durchatmen und Mikołajs Blick erwidern. Wir bewahren einen gewissen Abstand zwischen uns. Ich würde mich gerne wieder an ihn schmiegen, seine starken Arme um meinen Körper haben. Es ist dieses Gefühl nach Sicherheit. Oder Geborgenheit, das ich gerne empfinden will.

„Ich hab' nicht 'mal Sachen mit, und ... Nee, das passt schon. So müde bin ich nicht." Es hört sich sehr verlockend an. Nur, Oliver ist hier, und ich kann auf weitere Spekulationen verzichten. Nicht zuletzt wegen Jakub, der mit Mikołaj über mich geredet hat. Worum es konkret gegangen ist? Ich habe nur meinen Namen vernehmen dürfen. „Ich bin schon öfter mitten in der Nacht nach Hause gefahren. Bisher ist mir kein einziges Tier vors Auto gesprungen." Mir ist warm trotz der kühlen Temperaturen. Es müssten höchstens dreizehn Grad sein.

„Hm." Ganz so begeistert hört er sich nicht an. „Pass' aber wenigstens auf dich auf. Fahr' nicht mit hundert durch'n Wald. Nicht so wie ich." Ein schiefes Grinsen huscht auf die Lippen. „Wie dem auch sei. Danke für den schönen Tag. Hat mir echt Spaß gemacht. Vor allem das Training heute – wär' cool, wenn du öfter mitkommst. Andrzej ist immerhin von dir überzeugt." Die glatten Haare, die ihm teilweise bis zu den Augenbrauen reichen, lassen ihn jünger wirken.

„Die Freude ist ganz meinerseits", erwidere ich lächelnd und mustere den weißen Golf. Ich müsste so langsam zusehen, ihn in die Waschanlage zu schieben. Na ja, vom Innenraum muss man nicht anfangen zu reden. Wenn man alle Fußmatten nach draußen holt, könnte man glatt einen Sandkasten errichten. „Ich hätte nichts dagegen. Die Leute da sind ziemlich nett. Besonders Vince und Irina." Mikołaj versucht sogleich, sich nichts anmerken zu lassen. Der aufblitzende Funke in den hellen Augen hat ihn schließlich verraten. Kein Kommentar meinerseits.

„So macht's man sich einfacher, wenn man zu jeden 'nen guten Draht hat." Er hört sich etwas angespannt an. Mikołaj überspielt es mit einer lockeren Bewegung der Hand. „Hab' ich gleich bei Valentin und Martin gemacht, denn die waren mir anfangs nicht sonderlich geheuer. Martin ist inzwischen mein Mann fürs Training. Der Dicke hat 'ne Menge drauf." Er schweigt für ein paar Sekunden. „Ich schätze, ich sollte dich nicht länger aufhalten. Du hast noch ein gutes Stückchen Fahrt vor dir. Willst du morgen früh bei mir mitfahren oder wie sieht es aus?"

Normalerweise wäre ich morgen dran. Elise und ich wechseln uns wöchentlich ab.

„Ich fahre morgen mit meiner Hummel. Fahrdienst." Ich lächele belustigt. „Aber wenn du willst, können wir zusammen in die Stadt. Vorausgesetzt, dein Teilzeitrusse und deine Idioten haben Gleiches mit dir vor."

Mikołaj winkt ab.

„Okay, den muss ich mir für Ivan merken. Hört er bestimmt gern." Ich betrachte den Autoschlüssel. „Ach, die können ohne mich fahren. Finde, du hast für mich mehr Priorität." Wie darf ich das verstehen und in welchen Kontext darf ich es setzen? Ich halte mich zurück. Das Misstrauen sollte sich niemals verziehen. „Dennis und der Rest sind mir nicht ganz geheuer. Sind mir zu blöd." Ich unterdrücke mein Gelächter. „Mit meinen Jungs können die nicht mithalten."

„Du solltest die Unterschiede zwischen diesem und deinem Land berücksichtigen. Hier ist man immer etwas ... anders." Es müsste längst ein neuer Tag angebrochen sein.

„Ich weiß. Ist einer der Gründe, warum ich später hier leben will. Hier legt man Wert auf Struktur und Leistung. Find' ich persönlich gut." Er begegnet meinem Blick. „Tja, Jess. Ich würde sagen: Bis morgen." Er hält sich zurück. Wartet wohl auf etwas. Eine gewisse Vorahnung durchkämmt mich. Also mache ich einen Schritt auf ihn zu, lasse die Lücke zwischen uns verschwinden und umarme ihn. „Meld' dich nachher, wenn du angekommen bist." Sie sind leise, wenngleich sie nahe an meinem Ohr sind. Sämtliche Anspannung fällt von mir, als Mikołaj seine Arme um mich legt und mich vorsichtig an sich drückt. Mein Herz hüpft vor Freude los, und ein angenehmes Prickeln entsteht.

„Mach' ich." Irgendwie will ich nicht, dass er mich loslässt. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein; mir kommt es vor, als würde Mikołaj Gleiches ebenso nicht wollen. „Wir sehen uns morgen." Ein sanfter Ruck geht durch mich, und er nimmt die Arme von mir.

„Ja ..." Er beobachtet mich. Wie gestern oder heute Nachmittag. Bevor ich einsteige, schaue ich zu dem Neunzehnjährigen. Präge mir seine kleine, aber kräftige Gestalt ein. Die glatten dunkelblonden Haare, welche ihn zu verjüngen scheinen. Und automatisch habe ich seinen Vater vor Augen. Es ist verrückt. Ich schüttele sehr leicht den Kopf und setze mich auf den weichen Sportsitz. Starte den Wagen per Knopfdruck. Mikołaj zieht sich ein wenig zurück, mehr zu dem hübschen Audi. Ich winke ihm lächelnd zu. Er erwidert beides. Obwohl sich die Glieder allmählich schwer anfühlen, mag der Geist vital und belebt sein. Nicht zuletzt wegen der Gedanken, die wie ein kleiner Sturm durch den Kopf wirbeln. Es ist unglaublich. Diese Begegnung mit Jakub. Ich habe mit allem gerechnet. Na ja, anscheinend doch nicht, immerhin hat er mich mehr als überrascht. Er will sich mit meinem Vater versöhnen. Ist bereit, die Vergangenheit endgültig zu begraben. Einerseits finde ich es gut, dass er diesen wichtigen Schritt gegangen ist, aber anderseits ... Ich weiß nicht, ob mein Vater dazu bereit ist. Manchmal erlebe ich, wie er in einer altvertrauten Rage ausbricht und über Dinge poltert, die mir fremd sind. Diese Gangs von früher existieren nicht mehr. Keine einzige. Was aus den geworden ist? Keine Ahnung. Ich vermute, dass sie sich entweder von selbst aufgelöst, getötet haben oder sind von den Behörden gefasst worden. Ich könnte Jakub fragen. Jetzt kann ich den Samstag kaum abwarten. Die nächsten Stunden werden zäh sein.

Ich fahre im langsamen Tempo durch die leeren Straßen. Die meisten Lichter sind erloschen. Keine Seele geistert durch die Gegend. Mal flitzt eine Katze über die Straße oder ich sehe Fliegenschwärme unter dem warmen Licht der Straßenlaternen. Manchmal knallt solch ein dickes Vieh gegen die Windschutzscheibe und verendet als schmieriger Fleck. Ich habe beschlossen, keine Musik laufen zu lassen. Die Stille würde irgendwie guttun. Denke ich. Ich kann nicht aufhören, über die beiden nachzudenken. Mikołaj: Sein Name bringt mich zum Lächeln. Verursacht eine verlegene Röte auf den Wangen. Kurzum: Mir wird ganz warm ums Herz. Soviel dazu, ich schaffe es, die Welt ohne die rosarote Brille zu sehen. Dank ihm nehme ich sie anders wahr. Für mich scheint alles perfekt zu sein. Diese Hoffnung hat derweil ein regelrechtes Feuer entfacht. Kein Wunder, dass mir so warm ist. Dann wäre da Jakub. Hätte man mir nicht gesagt oder würde ich nicht wissen, dass er dreiundvierzig Jahre alt ist, hätte ich ihn glatt für einen sehr attraktiven Mittzwanziger gehalten. Anscheinend muss ich mir die grauen Strähnen, die ich auf dem Foto entdeckt habe, eingebildet haben. Bestimmt hat es an dem Licht gelegen. Jakub könnte glatt der jüngere Bruder von Mikołaj sein. Er sieht ein Ticken vitaler aus als der Neunzehnjährige.

Ich suche den Weg durch den Wald. Um diese Zeiten müssten noch mehr Tiere unterwegs sein. Sinne schärfen und konzentrieren. Die Nadel überschreitet nicht die siebzig. Solange mir niemand entgegenkommt, fahre ich auf der Leitlinie. So könnte ich eine Sekunde eher reagieren und die Tiere im Graben rechtzeitig wahrnehmen. Manchmal funkeln Augenpaare aus dem Wald. Oder einige Rehe stehen auf dem geteerten Radweg und spähen zu mir. Ich schlucke leise und lasse die Nadel auf die sechzig fallen. Geschätzte zweihundert Meter vor mir läuft ein Fuchs über die Straße. Warum zur Hölle sind heute so viele Tiere unterwegs? Ich stoße den angehaltenen Atem aus und fahre wachsam weiter. Für die nächsten zehn Minuten passiert nichts. Trotzdem fahre ich nicht schneller. Jede Stille lockt mit falscher Sicherheit. Kurz vor der Autobahnauffahrt schießt eine Art Marder aus dem Gebüsch und läuft über den Asphalt. Mein Fuß findet automatisch die Bremse. Ich bohre die Fingernägel in das Lenkrad. Wechsele den Gang. Ein tonloses Murren, und ich krieche langsam weiter. Ein Marder. Na ja, immer noch besser als ein Reh oder sogar ein Wildschwein.

An sich verläuft die Fahrt unkompliziert. Ich bin pünktlich zu Hause angekommen. Ich linse durch die Frontscheibe zum Haus. Sie müssten schlafen. Oder aber, mein Vater ist noch auf den Beinen und hat sich in sein Büro verzogen. Wenigstens steht er nicht hier draußen. Die Scheinwerfer strahlen nicht mehr, als ich aussteige, die Habseligkeiten einsammele und den Wagen verriegele. Wortlos husche ich zu der Haustür. Öffne sie und trete in den lichtlosen Flur. Ich schlüpfe aus den Schuhen und hänge die Schlüssel weg. Eigentlich könnte ich nachsehen. Also tappe ich zu der Treppe, gehe nach oben, zielstrebig zum Arbeitszimmer meines Vaters. Das liegt unmittelbar gegenüber dem Schlafzimmer meiner Eltern. Die Tür lehnt an, und ein einzelner Lichtstreifen zwängt sich nach draußen. Überrascht bin ich nicht. Die Mundwinkel zucken sehr leicht, als ich die dunkle Holztür mehr öffne und hineinspähe. Er bemerkt mich vorerst nicht; scheint wohl sehr in der Arbeit vertieft zu sein. Ich vernehme das kaum wahrnehmbare Klackern von Tasten.

„Paps?", frage ich leise und trete in das vollgestellte Zimmer ein. Nahezu jede Wand wird von Schränken oder Regeln bedeckt. Verschieden große Ordner reihen sich auf dem Fensterbrett oder auf den Schränken. Lose Blätter türmen sich auf dem Tisch. Mein Vater hat ein paar Hefter dazugelegt. Der oberste ich aufgeschlagen. „Kann ich bei dir bleiben?" Er stellt das Tippen ein und sieht vom Bildschirm auf. Hinter ihm das große Fenster mit der halb zugezogenen Gardine. Im hinteren Garten leuchten die Strahler beim Pool. „Ich kann nämlich nicht schlafen." Ich hätte in mein Zimmer gehen sollen, um mich umzuziehen. So hätte ich keinen Verdacht erregt.

„Du hast morgen Schule", meint er etwas abwesend. Abends hin ist der Ton in der tiefen Stimme ziemlich rau. In sechs Stunden musst du wieder aufstehen." Er nimmt einige Blätter zur Hand. Studiert den Inhalt.

„Schon." Ich zögere zunächst, ehe ich zu ihm gehe. „Was machst du da?" Ich beneide ihn um sein Talent. Wenig Schlaf und trotzdem munter und bereit für den nächsten Tag.

„Arbeiten." Er hält etwas inne, als ich meine Hände auf seinen breiten Schultern lege. „Du solltest wirklich ins Bett gehen, Jess. Es ist viel zu spät für dich." Ich werfe einen Blick zu den Papierstapeln. Viel Geschriebenes mit zu vielen Zahlen. Da gibt es sogar Abschnitte, die er auf Englisch und Spanisch verfasst hat. Für seine sehr fragwürdige Arbeit hat er etliche Sprachen erlernt. Englisch, französisch, spanisch, sogar türkisch. Käufer bevorzugen Händler, die ihre Sprache beherrschten. Das schaffe Vertrauen und Verlässlichkeit.

„Du kannst mich gerne morgen früh aus dem Bett scheuchen oder mich in Schlafklamotten zur Schule schicken. Ist mir egal." Der Blick wandert zum Laptop. Erfasst die Fotografien und Karten mit den eingezeichneten Routen und Markierungen. „Willst du nicht auch schlafen gehen?"

„Hm, das werde ich auch tun. Darauf kannst du dich verlassen." Er nimmt das Tippen erneut auf. Ich sehe ihm dabei zu. „Wenn ich den Spaß hier fertig habe. Könnte allerdings etwas dauern." Nach nur wenigen Sekunden hört er wieder auf. „Was ist wirklich los? Ich glaube nämlich nicht, dass du nicht nur nicht schlafen kannst." Mein Vater schiebt die Hefter und die anderen Papiertürme zur Seite, damit ich mich dort niederlassen kann. „Ist irgendetwas passiert, was ich wissen darf oder sollte?"

„Was ist das?" Ich zeige auf die Karte.

Mein Vater seufzt kurz.

„Eine der Routen, die ich für den Transport nach Russland entwickelt habe. Jetzt heißt es zu überlegen, welche Methode die beste Schrägstrich effektivste ist. Gerade die Belgier und Deutschen sind eine gewisse Herausforderung. Die lassen sich nicht oder kaum bezahlen." Er sieht mich an. „Ist auch nicht weiter wichtig." Mein Vater stimmt einen erwartungsvollen Ton an. „Also, Kleines. Nicht drum herum reden. Was beschäftigt dich? Lief bei eurer Verabredung nichts Gutes?"

„Na ja, eigentlich nichts weiter ...", murmele ich kleinlaut und mustere meine Beine. Gott, es ist so verdammt schwer, die Wahrheit zu sagen. „Oder doch." Jetzt hat er mein Zögern festgestellt. Seine Haltung verlangt nach einer Antwort. Aber er drängt mich nicht zu einer, sondern gibt mir die Zeit, die ich brauche. Ich senke den Kopf. Die Worte gehen in einem beinahe undeutlichem Flüstern unter: „Ich hab' dich schon wieder angelogen." Ich rechne mit einem Vorwurf. Mit Zorn. Irgendetwas, das den Ärger zum Ausdruck bringt. Nichts geschieht. Das ist trotzdem kein gutes Zeichen. Mein Vater ist in der Lage, mit einfachen und vor allem klaren Sätzen mir Schuldgefühle zu bereiten.

„Ich weiß, umso schöner, dass du es zugibst." Ich höre genau hin. Er spricht ruhig, aber nicht mit der Art, wie er es sonst tut, wenn er seine Vorwürfe indirekt verbreiten will. „Du warst bei Mikołaj, aber allein." Woher er das nun wieder weiß, kann ich mir erahnen. Elise hat meinem Vater ihre Handynummer gegeben. Für die absoluten Notfälle. Notfall; ein sehr dehnbarer Begriff. Wenn es nach meinem Vater gehen würde, stellt alles eine verdammte Wichtigkeit dar. Oder aber, meine Mutter hat es ihm verraten. „Was ist passiert, dass du so ein Gesicht ziehst?" Eine Schärfe kehrt in die Stimme. „Er hat dich aber in Ruhe gelassen?"

Ich blinzele schnell.

„Um es gleich klarzustellen: Kein Kuss, kein Anfassen. Nichts. Nur Reden und Mittagessen." Dass ich mit ihm trainiert und für mich entschieden habe, seinem Club oder wie man das nennt beizutreten, muss er nicht erfahren. „Auch, als ich gestern Nachmittag wieder zu ihm gefahren bin." Ich sollte die Bombe zum Platzen bringen. Mir ist unser einzigartiges Verhältnis sehr wichtig. „Ich habe mich mit Jakub getroffen. Um halb zehn auf einem Parkplatz." Ich verstumme augenblicklich. Halte für einige Sekunden den Atem an. Wage es nicht, meinem Vater in die kalten, nahezu schwarzen Augen zu schauen.

Ich kann diese Stille zwischen uns nicht ausstehen. Sie kann alles bedeuten. Was sie am ehesten kann: Diese Wut offenlegen, obwohl mein Vater sich nichts anmerken lässt. Ein schwaches Zittern bebt durch meinen Körper. Es gibt sehr wenige Augenblicke in meinem Leben, als ich vor meinem Vater Furcht verspürt habe. Einer dieser Momente ist jetzt.

„Du hast was getan?"

Ich falte die Finger ineinander. Kann diese Nervosität nicht verstecken.

„Ich habe mich mit Jakub getroffen", wiederhole ich meine Antwort und höre, wie er hörbar ausatmet. Ich presse die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, ehe ich ergänze: „Bevor ich die Sache noch schlimmer mache: Jakub hat reden wollen. Wollte sich außerdem nach dir erkundigen. Er hat ... er hat mir erzählt, dass er sich mit dir versöhnen will. Und ..."

„Was hast du ihm über mich erzählt?" Nicht nur die Augen sind dunkel. Auch der Ton. Er verkündet Unheil. Was habe ich gesagt? Ein Sturm zieht auf, und ich werde mich geradewegs in ihn begeben. Es wird Zeit, der Angst die Stirn zu bieten.

„Da-dass du ... ein anderer Mensch geworden bist und ... du wieder als Drogenhändler tätig bist." Ich sehe ihn scheu an. Weil er es von mir verlangt hat. „Na ja, er hat wissen wollen, ob du wieder ... mit anderen zusammenarbeitest. Jakub meinte, dass du früher achtzehn Leute gehabt hättest." Er verengt die Augen. Ich mache mich klein. „I-ich hab' nur gesagt, dass ich es ni-nicht genau wüsste, aber dass du z-zwei Namen besonders oft erwähnt hast." Es ist schlimmer, als auf den Henker zu warten. Selbst der wäre mir gerade viel lieber.

„Was noch?"

Es fühlt sich wie ein Verhör an. Ich bin die Täterin und er der böse Bulle. Den guten gibt's nicht.

„Mikołaj und ich ... haben wissen wollen, was f-früher zwischen euch passiert ist." Unbewusst gewinne ich an Selbstbewusstsein. „Du warst mit ihm befreundet. Warum hast du das nie erwähnt?"

„Weil dich das nichts angeht." Wie seine Leute sich früher unter seinem gefährlichen Blick gefühlt haben mussten? Bestimmt genauso beschissen wie ich. „Die Scheiße ist Vergangenheit." Er richtet sich auf. Mein Vater bemüht sich sehr, beherrscht zu klingen. Ich bin mir bewusst, dass er vorzugsweise dem Ärger Luft machen will. Mich gar anschreien will. Na ja, so gesehen hätte ich es verdient. Ohne dass er es gewollt hat, habe ich ein Teil seines neuen Lebens an Jakub weitergegeben. Vielleicht heckt er doch Böses aus. Vielleicht will er mir etwas antun oder meinen Vater endgültig umbringen, weil er selbst nie mit einem Teil der zerrütteten Vergangenheit abgeschlossen hat. Die Sache mit seinem Bruder. Wie hieß er? Milosz? Ich denke schon. Mein Vater ist bis heute nicht über den Tod seiner Schwester hinweggekommen. Ich kann mir gut vorstellen, dass zwischen Jakub und Milosz eine ähnliche starke Verbindung existiert hat. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie wütend ich gerade auf dich bin, Jess. Da ich mir selbst versprochen habe, in deiner Gegenwart stets ruhig zu bleiben, werde ich es auch entsprechend tun." Genau diese Sache flößt mir Furcht ein. Er ist wie ein Vulkan, der droht, unangekündigt auszubrechen. Hinter der falschen ruhigen Fassade brodelt es gewaltig. Es bedarf nur einen einzigen Tropfen, damit die Massen die Wand sprengen und hervorschießt. „Ist dir klar, dass Jakub dir hätte etwas antun können? Er ist nicht blöd, verdammt. Er weiß, dass du meine Tochter bist."

„Aber Mikołaj war doch die ganze Zeit bei mir. Er hätte eingegriffen, hätte Jakub mir etwas antun wollen." Ich verziehe den Mund, als mein Vater verächtlich lacht. „Ich meine das ernst. Mikołaj hat selbst gesagt, dass er hierbei keine Unterschiede machen würde." Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Soll ich ehrlich sein? Ich kann nicht nachvollziehen, warum du ihn immer noch so sehr hasst wie früher. Jakub hat sich verändert. Ich habe es selbst mitbekommen, sonst würde ich hier ja nicht sitzen. Er ist nicht mehr drogenabhängig oder aggressiv oder was weiß ich. Jakub ist ein komplett anderer Mensch." Ich hebe den Kopf. Sein Blick – bedrohlich und eisig – verhärtet sich, sodass ich einen unangenehmen Schauder wahrnehme. Ich bemühe mich, die Stimme nicht wackeln zu lassen. „Im Gegensatz zu dir hat er mit Früher abgeschlossen. Er konzentriert sich auf das Hier und Jetzt." Die Fingerknöchel zeichnen sich weiß unter der gebräunten Haut ab. „Er will sich mit dir versöhnen und verzeiht dir für deine damaligen Taten." Mir kommt diese gruselige Narbe in den Sinn. „Auch wenn du es nicht hören willst: Euch verbinden die gleichen Schicksale. Ihr seid beide von Zuhause abgehauen, seid in der gleichen Gang gelandet. Wart Schwerverbrecher – du bist ja immer noch einer – und ihr beide habt Narben, die ihr euch gegenseitig zugefügt habt. Verdammt, du und Jakub habt ein ..." Weiter komme ich nicht, weil ich festgestellt habe, dass ich unlängst zusehen darf, wie der Vulkan ausbricht. Anstelle loszubrüllen fegt er mit einer raschen Handbewegung etliche Papiere und Ordner vom Tisch. Wegen des Aufpralls zucke ich erschrocken zusammen. Das Herz springt gleich aus der Brust, und die Stirn fängt an zu glühen. Er baut sich zornig vor mir auf. Ich halte den Blick starr auf meine Knie gerichtet.

„Wag' es ja nicht, mich mit diesem elenden Arschloch in Verbindung zu setzen", zischt er warnend und eindringlich. „Jakub und ich waren NIE Freunde gewesen und werden es NIE sein. Wir haben nichts gemeinsam, verstanden?" Er senkt die Stimme. „Glaub' nicht alles, was man dir erzählt, Jess. Es gibt ganz viele Leute, die mehr Lügen als Wahrheiten verbreiten. Und Jakub ist so einer. Er hat sich nicht verändert. Niemand kann sich mir nichts, dir nichts verändern." Ich nehme kalten Rauch wahr, der an seiner Kleidung haftet. „Und dieser Mikołaj ist nicht viel anders." Ein plötzlicher Sinneswandel überkommt ihn. Mein Vater wendet sich von mir ab, dreht mir ein wenig den breiten Rücken zu. „Ich hätte von Anfang an etwas dagegen machen müssen. Diese Begegnung zwischen euch ist ein großer Fehler gewesen." Der Zorn ist verschwunden, der Ton ... verloren. „Ja, ich denke, dass ich dich von heute an viel mehr im Auge behalten werde. Ich werde schon dafür sorgen, dass er mit dir nichts mehr zu tun haben will." Sämtliche Begeisterung ist wie fortgewischt. „Geh' jetzt. Es ist spät und du hast morgen Schule. Ich werde dich hinbringen. Dich und Elise."

Das werde ich ihm nicht mehr ausreden können. Um weitere Unannehmlichkeiten zu ersparen, schiebe ich mich schweigend von der Tischkante, steige über die verstreuten Blätter und Ordner und verlasse wortlos das Büro. Die Sicht verschwimmt leicht, und keine zwei Sekunden später laufen die ersten Tränen die Wangen hinab. Ich hätte sein verfluchtes Büro nicht aufsuchen sollen. Es hätte mir all das erspart. Mit leicht hängendem Kopf gehe ich zu meinem Zimmer. Es wäre klüger, das Licht anzuschalten. Na ja, selbst wenn ich über irgendetwas stolpern sollte; so müsste ich wenigstens nicht in die Schule.

Ich will Mikołaj weiterhin sehen wollen. Mein Vater darf nicht dafür sorgen, dass ich nichts mehr von ihm höre. Ob er sich bewusst ist, was er mir damit antun wird? Wahrscheinlich nicht. Ein leiser Seufzer verlässt mich. Plötzlich will ich nichts weiter, als ins Bett zu gehen. Ich will den gestrigen Tag Schrägstrich diesen heutigen frühen Morgen vergessen. Wie sehr ich mir wünsche, in Mikołajs Armen zu liegen, damit er mir den nötigen Trost spendet.

Ich betrete mein Zimmer. Luge nach draußen. Was soll ich schon machen? Ich nähere mich dem Fenster. Lasse die Rollos herunter, ehe ich beginne, mich umzuziehen. Ich sollte die Unterwäsche zurückbringen, immerhin gehört sie nicht mir. Nachdem ich mich fertig umgezogen und die abendlichen Gewohnheiten erledigt habe, bin ich unter die Bettdecke gekrochen und bin in die Finsternis abgetaucht. An Schlaf ist nicht zu denken. Ich drehe mich um, greife nach dem Handy.

Ich: Es waren eine Menge Tiere unterwegs. Mir ist keins vors Auto gesprungen. Bin seit knappen fünfzehn Minuten zu Hause.

Eigentlich sollte ich das Smartphone wieder wegpacken und schlafen. Ich muss bald frühzeitig aufstehen.

Miko: Dachte schon, da sei etwas passiert. Aber gut zu wissen. Dann kann ich beruhigt sein. Schlaf' gut, Jess. Wir sehen uns morgen.

Von mir kommt keine Antwort, obwohl ich eine hätte schreiben wollen. Das Gerät liegt wieder da, wo es vorhin gelegen hat. Ich wälze mich um, starre die Wand an. Wenn er wüsste, was eben geschehen ist. Warum kann mein Vater ihm nicht verzeihen? Wenn man es ganz exakt haben will, sind nicht nur zwanzig Jahre vergangen, sondern ganze siebenundzwanzig Jahre. Sollte man während dieses Abschnitts nicht irgendwann einmal lernen zu verzeihen? Ich schiebe einen Arm unter das Kopfkissen. Das ist nicht fair. Ich schließe die Augen. Eigentlich könnte ich die nächste Nacht durchmachen. Okay, ein zweites Mal würde ich es nicht durchhalten.

-

Wie auch immer ich es geschafft habe, einzuschlafen, ist mir ein Rätsel. Und dass ich mich sogar halbwegs erholt und erfrischt fühle, sowieso. Pünktlich um halb sieben bin ich aufgestanden – ich habe den Wecker nicht überhört. Ohne dass ein kratziges Wort über die Lippen weicht, kleide ich mich für den heutigen Tag ein. Dann beginne ich, die Tasche für den heutigen Tag zu packen. Zwei Bücher und den Allzweckblock. Federtasche und das Ladekabel. Kopfhörer? Die würde ich nicht brauchen. Mit der Tasche verlasse ich das Zimmer, als ich vorher das Sonnenlicht in das Zimmer gelassen und ein Fenster auf Kipp gebracht habe. Ob mein Vater überhaupt geschlafen hat? Keine Ahnung. Ich würde es ihm zutrauen, wenn er die Nacht durchgemacht hat. Noch an das gestrige Gespräch denkend, gehe ich schweren Schrittes die Treppe herunter. Mit jeder Bewegung wächst in mir das Bedürfnis, umzukehren und mich unter die Decke zu verziehen. Mein Handy vibriert. Ich sehe nicht nach. Unten in der Küche ist mein Vater dabei, Frühstück zu bereiten. Zwei Tassen – meine Mutter schläft anscheinend noch. Die Tasche bleibt vor der Kücheninsel liegen, und ich nehme auf einem der Stühle Platz. Das Handy liegt neben dem Teller.

„Gut geschlafen?" Schön wär's. Ich zucke nur mit den Schultern. „Vergiss nicht, dass ich euch beide zur Schule bringe und wieder abhole." Ich frage mich gerade, wie er dafür sorgen will, dass Mikołaj nichts mehr mit mir zu tun haben will. „Iss, damit du wacher wirst." Komischerweise verspüre ich keinen Appetit, aber ich raffe mich zu einigen Speisen auf. Der Tag würde heute lang sein, und bis dreizehn Uhr ist es noch lange hin.

„Kann ich dich etwas fragen?" Es lässt mir keine Ruhe. Ich habe das Müsli nicht einmal richtig angerührt.

Mein Vater senkt die Hand mit der Tasse Kaffee. Er lehnt am Herd. Ich schlucke leise, lasse den Blick über ihn schweifen. Ein schwarzes lockeres Shirt mit dem Logo einer Sportsmarke. Eine gleichfarbige Jogginghose. Die braunen Haare etwas verstrubbelt. Er wirkt nichtsdestotrotz wach und aufmerksam.

„Was denn?"

„Versprich mir vorher, nicht wütend zu werden oder so. Ist ... nur eine normale Frage." Irgendwie muss ich den ersten Schritt auf das gefährliche Terrain setzen. Er hebt eine Augenbraue. „Geht noch 'mal wegen gestern Schrägstrich heute Morgen." Keine Reaktion von ihm. „Warum denkst du, dass Jakub sich nicht verändert hat? Ich meine, wäre er immer noch dieser aggressive Typ von früher, hätte er mir etwas angetan." Er bleibt wie vorher. Das liegt bestimmt daran, dass es früher Morgen ist. „Bitte sage mir doch endlich, warum du ihn immer noch so sehr hasst." Fast schon flehend.

Er nimmt einen Schluck aus der Tasse und betrachtet sie. Mein Vater erwidert meinen etwas aufgewühlten Blick.

„Weißt du, es gibt Dinge, die man gerne für sich behalten will", fängt er an, seufzt jedoch, als ich die Arme vor der Brust verschränke. „Du wirst wohl keine Ruhe geben, oder?" Ich schüttele den Kopf. „Tja, das wird sich auch nicht ändern, solange du mit Mikołaj zu tun hast." Er setzt sich neben mich. Ich esse weiter. „Es ist aber schon ziemlich lange her."

„Du meinst, zwanzig Jahre? Oder genauer gesagt, siebenundzwanzig Jahre?" Ich löffele die Schale leer und beginne stattdessen, zwei Brötchen aufzuschneiden.

„Eigentlich siebenundzwanzig Jahre. Zweitausenddreizehn fing alles an." Er mustert einen Apfel. „In einigen Punkten hast du Recht gehabt, Jess. Ja, Jakub und ich waren Freunde. Er war vierzehn, ich sechzehn, als wir uns zum ersten Mal begegneten." Er linst zur Uhr. „Ich half ihm, sich in die Gang zu integrieren. Ich fand schnell heraus, dass er drogenabhängig war. Ja, es stimmt: Mit vierzehn nahm er das erste Mal seinen Engel." Ich schaue ihn gebannt an. „Man konnte ihn schwer bändigen. Wenn man hört, schön, er ist vierzehn. Vierzehnjährige kriegen nichts auf die Reihe oder seien zu schwach. Nicht Jakub. Der hat einen nach dem anderen zerfetzt, wenn man es so will. Ich weiß noch, dass drei Mitglieder es bitter bereut haben." Er führt es nicht weiter aus. „Trotzdem war Jakub mir dankbar. In dem Jahr lernten wir uns viel besser kennen. Wir unternahmen viel zusammen, lachten und machten Berlin unsicher. Ich half ihm auch, Deutsch zu erlernen. Er wollte es mehr oder weniger nicht, aber nahm die Hilfe an." Ich kann es mir kaum vorstellen. Er und Jakub. Zwei völlig unerfahrene Jungs, die ein neues Leben für sich entdeckt haben oder es kennenlernen wollen. Fernab von gewohnten Routinen oder Sicherheit. „Zwei Jahre voller Spaß und Blödsinn. Als ich dann achtzehn wurde, ging die Freundschaft in den Ruin. Es war dem geschuldet, dass ich Anführer wurde und begann, ein vielversprechender Drogenhändler zu werden. Falls du das auch noch wissen willst: Mit siebzehn habe ich das erste Mal Ware verkauft. Bisschen Kokain." Ein Brötchen ist aufgegessen. Manchmal nehme ich einen Schluck vom Tee. „Nach dieser Entscheidung vergaß ich Jakub. Statt Jakub war Julien mir wichtiger." Ein alter Schmerz untermauert die Stimme. „Julien und ich waren wie Brüder, obwohl wir uns anfangs bis aufs Blut hassten. Er versuchte sogar, mich umzubringen, weil er sich nicht damit abfand, dass ich Anführer wurde und nicht er. Er wich mir nie von der Seite und ich ihm nicht. Zusammen waren wir unschlagbar."

„Du ... hast ihn also ignoriert."

„Bewusst vergessen." Er streicht sich durch die Haare. „Eine Sache habe ich sehr schnell gelernt: Lieb gewordene Leute können eine sehr gefährliche Waffe gegen jemanden selbst sein. Sie sind gefährlicher, als man denkt." Der lange Schnitt ist verheilt. „Man hängt mit dem ganzen Herzen an sie. Warum ich Julien nicht vergessen habe: Tja, er war anders als Jakub. Unberechenbarer und einen Ticken extremer. Anders als Jakub kann er bei seinen Taten denken und unterscheiden."

„Also habe ich das richtig verstanden: Du hast ihn nur vergessen, weil du ... Angst hattest, sein potenzieller Tod oder Verlust könnte dich sehr verletzen?"

„Richtig. Manchmal trifft es dich so sehr, dass du damit nicht mehr klarkommst. Jeder Verlust verändert Menschen zum Schlechten." Er leert die Tasse. „Jetzt zu deiner Frage, warum ich ihn immer noch so sehr hasse. Jakub verriet mich und meine Gang. Verrat ist das schwerste Vergehen, das man innerhalb krimineller Kreise begehen kann. Er gab Informationen an die Behörden, die uns mehr oder weniger dezimierten. Das wurde nie groß zum Thema, weil man verhindern wollte, dass es zu viel Aufmerksamkeit erregte. Ich muss aber zugeben, dass ich nicht ganz unschuldig bin. Jakub suchte nach seinem Bruder. Ich fand ihn längst, nicht zuletzt wegen zwei herausragenden Jungs, die unter meiner Fittiche tätig waren. Ich verschwieg Jakub den Erfolg." Ein tiefer Seufzer. „Ich wollte sicherstellen, dass ich weiterhin auf ihn zählen konnte. Seine Treue gewährleisten. Loyalität über Familie. Der Verrat kam schnell ans Tageslicht. Ich war wütend. So wütend, dass ich ihn umbringen wollte. Julien hielt mich davon ab – er hätte eine bessere Idee. Jeder Tod wäre eine Erlösung. Also habe ich ihm das Auge zerstört, während die anderen, meine damaligen engsten Vertrauten, auf ihn einschlugen. Wir erniedrigten ihn und machten ihn nicht nur körperlich fertig. Jakub war ein Wrack. Mit diesem Tag war er der Feind unserer Gang. Er floh. Ab da fing es an, die Jagd nach ihm. Ich mache daraus kein Geheimnis: Ich wollte ihn in den Selbstmord treiben. Ein paar Mal hätte ich es geschafft. Ich brachte etliche seiner liebgewordenen Personen um. Vor allem sein Bruder. An dem Tag nahm man ihn fest und steckte ihn in U-Haft für, ich glaube, zwei Jahre. Mein Rachefeldzug ging natürlich weiter. Ich stand sogar kurz davor, seine jetzige Frau zu töten. Sie und Oliver. Es hätte ihm fast den Rest gegeben." Er schweigt für einige Sekunden. „In all der blinden Wut vergaß ich, auf Lucy zu aufzupassen. Ich wusste längst, dass sie sein Ziel war. Nicht nur Liebe macht blind. Bevor ich irgendetwas machen konnte, war sie tot. Erschossen durch Jakub. Er drehte den Spieß um und trieb mich beinahe in den Tod. In ihrem Haus schlug er mich nieder. Ich ... flehte ihn an, die Sache endlich hinter sich zu bringen. Es gäbe schließlich nichts mehr zu verlieren. Jakub sagte die gleichen Worte wie ich damals: Ich würde mir wünschen zu sterben. Das tat ich sogar." Ich gebe zu, dass ich so langsam nichts mehr hören will. Aber ich unterbreche ihn nicht. „Ich sollte diesen Tag nicht mehr vergessen. Die Narbe ist von ihm. So wie ich ihm das Auge zerstörte, ist die jetzt hier." Von der linken Wange bis zum Kinn. „Es ist der Verlust, über den ich nicht hinwegkommen werde und der Verrat, den ich ihm niemals verzeihen werde."

Mir ist der Appetit endgültig vergangen. Das andere Brötchen bleibt auf dem Teller liegen. Das Gesagte muss schließlich auch noch verarbeitet werden. Ehre und Loyalität – ich hätte niemals gedacht, dass ihm diese Prinzipien bis heute sehr wichtig sind. Wobei ... Wie kann man so nachtragend sein? Natürlich spreche ich es nicht aus. Siebenundzwanzig Jahre. Jakub hat es immerhin auch geschafft.

„Das ist jetzt schon so langer her", höre ich mich selbst murmeln, „warum kannst du damit nicht abschließen?"

„Weil kein Verrat vergessen wird." Er bleibt ruhig. „Eigentlich müsste ich immer noch versuchen, ihn umzubringen. So handhabten wir es früher. Jeder Verräter gehörte mit dem Tod bestraft." Was zur Hölle war früher los mit ihm? „Aber in dieser Hinsicht habe ich mich verändert. Ich will nichts mehr mit dem Gangleben zu tun haben. Die existieren zudem auch nicht mehr." Ich spiele mit der Tasse herum. „Die meisten haben sich gegenseitig umgebracht oder starben anderweitig durch die Einsatzkräfte. Ein paar von ihnen sind gefasst worden. Wenige haben die Flucht geschafft. Keine Ahnung. Julien erzählte am Tag meines Ausbruchs, dass die Behörden einen weiteren Übergriff planen würden. Sicher war's nie. Schlussendlich taten sie es doch. Mir war es so oder so egal."

„Und was ... wäre, wenn du es jetzt tun würdest? Du hast selbst gesagt, dass du mit der Gang nichts mehr zu tun haben willst. Das schließt für mich die Prinzipien und Gepflogenheiten mit ein."

Mein Vater wird leise. Ich sehe ihn zögerlich an.

„Im Grunde genommen hast du recht." Er erwidert meinen Blick. „Ich kann es dennoch nicht."

„Und warum?"

„Weil er meine Schwester erschossen hat. Den letzten Anker meiner Familie." Er späht zur Uhr. „Du solltest dich fertigmachen. In knapp zehn Minuten geht es los." Mein Vater erhebt sich und beginnt, die Lebensmittel und das Geschirr wegzuräumen.

„Eine Frage hätte ich da noch." Er hält inne. „Warum willst du nicht, dass ich etwas mit Mikołaj zu tun habe? Liegt es nur daran, dass er der Sohn von Jakub ist?"

„Nicht nur. Du weißt selbst, zu welcher Kategorie er gehört. Ich will nicht, dass er dich verletzt und dich auf dumme Gedanken bringt." Damit ist unser Gespräch beendet. Ich erhebe mich. Packe einen Becher mit Müsli und eine Wasserflasche in meine Tasche, ehe ich das Badezimmer aufsuche. Ich brauche etwas Zeit, um die Gedanken zu ordnen. Ich bin weiter in die Vergangenheit vorgedrungen. So langsam kann ich mir einige Bilder ausmalen. Auch die, die ich eigentlich nicht sehen will. Ob er sich jetzt eingesteht, dass Jakub und er doch eng miteinander verbunden sind und das gleiche Schicksal teilen? Früher oder später wird er es einsehen. Dann wird er bereit sein, sich mit Jakub zu versöhnen.

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