19 - Er ist es
Ein verdammt guter Zufall, dass ich meine Eltern draußen erwische. Ich bin endlich angekommen. Fünf Minuten vor sechzehn Uhr. Zwischen meinem kleinen Flitzer und dem zweifarbigen Ungetüm meines Vaters besteht eine großzügige Lücke. Die Papiere verbleiben hinter der Sonnenblende, als ich aussteige. Das Portemonnaie in dem Seitenfach bei der Tür. Ich hole meine Schultasche aus dem Kofferraum und lasse sie achtlos neben dem vorderen Reifen fallen. Ich sehe verstohlen zu ihm. Warte, bis er von meiner Ankunft Notiz nimmt. Die Sonnenstrahlen tänzeln über die breite Motorhaube. Es ist ja nicht so, dass der Wagen schon vorher sehr sauber gewesen ist. Mein Vater findet immer eine Stelle, die ihm nicht passt.
„Schön, dass du wieder da bist." Er erhebt sich vor dem stattlichen Flügel. Lehnt sich etwas an ihn. „Pünktlich."
„Wie du es wolltest." Ich zucke mit den Schultern und geselle mich zu ihm. „Hat für uns kein Problem dargestellt. Haben nur noch schnell Mittag gegessen." Ich lächele etwas, als er mich umarmt. Automatisch schmiege ich mich an ihn.
„Das hättest du ruhig melden können. Jetzt haben wir dir etwas weggestellt." Er schmunzelt und lässt mich los. „Wie war's?" Täusche ich mich oder lässt er sich nun viel leichter auf Mikołaj ansprechen?
„Dann ist es eben Abendessen." Der blaue Lack glänzt. „Ist ja auch nicht schlimm." Ich erwidere seinen ausgeglichenen Blick. Mich beschleicht der Verdacht, dass meine Mutter etwas damit zu tun hat. Wo ist sie eigentlich? Anscheinend muss sie nach hinten gegangen sein. „Lustig. Wir haben sehr viel erzählt, sind etwas durch Köpenick spazieren gegangen und haben überlegt, was uns morgen in der Schule erwarten wird." Mein Ton wird sanft. „Er hat nichts Unanständiges gemacht, sonst hätte ich etwas gesagt. Mikołaj war mir gegenüber sehr vernünftig." Was auch dem Fakt geschuldet ist, dass er weiß, wer mein Vater ist. „Hättest 'mal sehen müssen, wie er unser Mittagessen getragen hat. Manchmal habe ich gedacht, dass es gleich auf den Boden fällt. Mehr Glück als Verstand hat er."
Sein Blick wird forschend. Zu meiner Erleichterung nehme ich keinerlei Anspannung wahr. Vielleicht täusche ich mich auch nur.
„Dann lasst euch ruhig Ausreden einfallen. Die freuen sich bestimmt, wenn ihr die ihnen auftischt." Okay, was ist passiert? Warum ist er so entspannt? „Freut mich, Jess. Wichtig ist, dass du glücklich bist. Ach und, eine Sache." Ich hebe die Augenbrauen. „Er soll aufpassen, wie er dich behandelt. Ansonsten darf er sich auf eine kleine persönliche Runde freuen."
„Kann ich erfahren, was mit dir los ist?" Ich grinse schief. „Na ja, gestern warst du so ziemlich dagegen, dass ich mich mit ihm treffe oder Zeit mit Mikołaj verbringe. Heute, so kommt es mir vor, stellt es für dich kein Problem dar. Ist schon verdächtig, findest du nicht auch?"
Er lacht leise.
„Diese Frage kannst du gerne an deine Mutter weiterreichen. Sie hat mir klargemacht, dass ich so langsam lernen muss zu akzeptieren, dass du ein erwachsener Mensch bist." Mein Vater lächelt sehr leicht. „Viele Sorgen sind grundlos. In all dem Eifer, dich vor allem Übel zu beschützen, ist mir dabei das Wesentliche entgangen. Nämlich deine Zufriedenheit und das Glücklich sein." Seine dunklen Augen erfassen den protzigen Wagen. „Ich hoffe, dass du es mir nicht allzu übel nimmst und es irgendwie nachvollziehen kannst."
Einfach so? Einige Zweifel blühen in mir auf. Das glaube ich nicht. Mein Vater weiß, wie er Emotionen so verstecken muss, dass man sie nicht identifizieren kann.
„Es ist voll und ganz nachvollziehbar. Das hab' ich schon mehrfach gesagt." Ich husche mehr in die Schatten des Carports und habe es beinahe geschafft, über dem Eimer mit dem Waschwasser zu stolpern. „Keine Sorge ist unberechtigt – du hast immerhin einen Grund. Sicher, ich mag sie nicht kennen, aber ... Ich glaube dir." Ich lehne mich an einen Pfeiler. „Das heißt also, dass ich mich öfter mit ihm treffen darf?"
„Unter der Voraussetzung, dass du ihm nichts über dich erzählst." Was er wohl vorhat? Es wird zunehmend verdächtiger.
„Das weiß ich. Werde ich so oder so nicht tun." Wenn er wüsste, was Mikołaj inzwischen alles über mich weiß und ich über ihn. „Danke." Wäre nicht unwahrscheinlich, wenn er mich einen Kopf kürzer machen wird.
Er winkt ab.
„Nicht dafür. Es wird so langsam Zeit, eigene Erfahrungen zu sammeln, hm?" Er schaut zum Haus. „Vergiss trotzdem nicht, dass wir für dich da sind, falls etwas sein sollte." Er hat eine dünne Schnittwunde auf dem Arm – die sieht sogar relativ frisch aus.
„Werde ich nicht vergessen." Ich hadere ein wenig, ehe ich frage: „Was hast du eigentlich in Leipzig gemacht?"
„Das Übliche", antwortet er etwas ausweichend und beginnt erneut, den Wagen zu säubern. Ich denke, ich werde ihm helfen. „Ein paar Leute getroffen, die mir ein sehr gutes Angebot gemacht haben. Alles in allem habe ich einen großzügigen Gewinn einfahren dürfen." Er ahnt, worauf ich hinauswill. „Okay, einer hat meinen müssen, gegen die Regeln zu spielen. Das ist halb so schlimm. Da kenne ich Schlimmeres." Also hat er schon wieder sein Leben aufs Spiel gesetzt. Für Geld. „Wenigstens ist die Ware jetzt nicht mehr mein Problem." Ich öffne die Beifahrertür und lasse mich auf den weichen Sitz fallen. Mustere das luxuriöse Interieur. Okay, da kann ich nichts mehr machen. „Wie ich es deiner Mutter gesagt habe: Ich mach' diesen Job schon ein paar Jährchen. Daher kann ich die Käufer und Vermittler sehr genau einschätzen und rechtzeitig reagieren, sofern ich feststelle, dass da etwas nicht stimmt. Bis jetzt habe ich jeden Deal oder jede Abwicklung überstanden."
Da ich in diesem Augenblick auf sämtliche Diskussionen verzichten kann, nicke ich nur. Ich stelle mir stattdessen vor, wie es wäre, mit diesem Monster zu fahren. Die ungeheuerliche Kraft zu bündeln, um das wilde Biest zu zähmen. Tausendfünfhundert PS – die versprechen einen unglaublichen Fahrspaß. Er hat die ganze Leistung einmal ausnutzen dürfen. Mitten in der Nacht, auf einer Autobahn. Er hat mir immer versichert, nur über die Stränge zu schlagen, sobald er sich sicher ist, dass ihn niemand ernsthaft behindern oder gar gefährden kann.
„Wann darf ich eigentlich mit dem hier fahren?", wechsele ich das Thema, um eine lockere Atmosphäre zu kreieren. Glücklicherweise geht mein Vater darauf ein.
„Wenn du fünfundzwanzig Jahre lang den Führerschein und während dieser Zeit keinen einzigen Unfall gebaut hast." Er sieht amüsiert zu mir. „Vergiss es, Jess. Tausendfünfhundert PS sind nicht ohne. Der Wagen braucht eine sehr erfahrene Hand."
„Und was ist, wenn du dabei wärst?"
„Denkst du ernsthaft, ich werde dich ohne mich meinen Wagen fahren lassen?" Ich mache mich ein wenig klein. „Also bitte." Er streicht mir durch die Haare. „In den nächsten Jahren nicht. Erst, wenn ich mir sehr sicher bin, dass du genügend Erfahrung gesammelt hast und dein Fahrstil besser ist."
„Also so schlecht ist mein Fahrstil nicht", nehme ich mich selbst in Schutz.
„Unsicher. Nicht schlecht, sondern unsicher. Mir fällt sehr häufig auf, dass du stellenweise zu unnachsichtig und unvorsichtig bist. Ich sag' nur beim Flughafen, als du dem Kombi fast hinten 'reingefahren wärst, als er plötzlich gebremst hast." Ich murre unverständliche Wörter. „Geduld ist das Zauberwort, meine Kleine." Belustigt von meiner Reaktion, wendet er sich von mir ab und widmet sich dem Dach.
„Toll. Bis dahin bin ich ausgezogen."
„Und? Während Besuche könntest du eventuell fahren." Er linst zu mir. „Es sei denn, du hast vor, nicht mehr zu uns zu kommen."
„Quatsch, so weit wird es nicht kommen", stelle ich es zügig klar und lächele. „Dafür stimmt das Verhältnis viel zu sehr." Ich glaube, ich werde später nach Kiel gehen. Sofern sich ein duales Studium finden lässt.
„Da hast du allerdings recht." Das rot-schwarze Hemd umhüllt den starken Oberkörper. Wenn ich ehrlich bin, bin ich nach wie vor sehr fasziniert von der Tatsache, dass mein Vater nahezu zeitlos altert. Bei ihm scheint der ganze Stress Positives zu bewirken.
„Wo ist eigentlich Mama? Hinten im Garten?"
„Entweder da oder liegt oben auf der Terrasse, um sich zu sonnen."
Eigentlich könnte ich auch mit ihm darüber reden.
„Ah, okay." Ich schiebe mich aus dem Wagen und schließe die Tür. „Wäre es ein Problem für dich, wenn ich in einer Stunde wieder zu Mikołaj fahre? Wir wollen mit Ivan, Jonas, Hanna und Elise bei ihm grillen." Rein theoretisch müsste er mir die Lüge abkaufen, weil ich sie selbstverständlich vermittle.
„Tu', was du nicht lassen kannst. Hauptsache, du kommst rechtzeitig wieder, damit du morgen früh pünktlich aus dem Bett kommst. Ansonsten werde ich dich mit Matratze zur Schule bringen." Ich schnaube amüsiert.
„Allerspätestens elf Uhr." Ich nehme mein Smartphone zur Hand. Mikołaj hat mir vor ungefähr zehn Minuten geschrieben. „Ich gehe 'rein. Sachen wegbringen." Ich sammele den Rucksack vom Boden auf und gehe entspannt zur Haustür. In meinem Kopf geistern die Bilder, wie ich dieses monströse Tier führe, umher. Eine schöne Vorstellung, auch wenn ich weiß, dass ich noch etliche Jahre warten darf.
Miko: Hab' gerade eine Antwort von ihm bekommen: Wir sollen gegen 21:30 Uhr bei der Bruno-Taut-Straße 4 sein. Da wird er auf uns warten.
Wo auch immer sich diese Straße befindet. Er wird es schon wissen. Vom Hausflur aus steuere ich die Küche an. Den Rucksack lasse ich bei der Garderobe liegen. Ich suche nach dem Sprudelwasser, das ich heute Morgen getrunken habe. Während ich mich weiterhin auf die Nachricht konzentriere, schenke ich mir etwas ein.
Ich: Das ist aber noch in Köpenick, oder?
Ich setze mich auf einen der Stühle hin. Nippe am Glas.
Miko: Ja, zwischen der B96a und B179. Falls du damit etwas anfangen kannst: Bei der Haltestelle Berlin-Grünau.
Ich: Wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich damit nichts anfangen, aber du wirst schon wissen, wo wir hinmüssen.
Miko: Nö, dafür gibt's ja Maps. Ich kenne mich in Berlin keinen Meter aus. Ich habe den Ausländerbonus.
Ich: So gesehen ich auch, denn ich komme auch nicht aus Berlin.
Miko: Gibt's überhaupt deutsche Ausländer?
Ich: Theoretisch schon.
Ich lege das Handy weg und denke nach. Halb zehn, da werde ich Mikołajs Vater sehen und kennenlernen. Ein mulmiges Gefühl breitet sich in mir aus. Wie er wohl auf mich reagieren wird? Ob er nach wie vor der unberechenbare junge Mann von früher ist? Schön, Mikołaj hat mir erzählt, dass er von den Drogen weggekommen ist, doch die Entzugserscheinungen halten bis heute an. Ich werde mich auf Mikołaj verlassen müssen.
-
Wir sind früher als vereinbart angekommen. Gegen einundzwanzig Uhr zwanzig. Wenigstens ist der große Parkplatz leer. Mikołaj hat sich mitten auf die unbesetzte Fläche gestellt. Wir sind schweigend ausgestiegen. Haben uns an die Motorhaube gelehnt und beobachten wortlos die Umgebung. Der Treffpunkt ist ein Parkplatz eines Lidls. Obwohl der Laden längst geschlossen hat, tummeln sich hier vereinzelt Passanten herum. Einige von ihnen lachen übertrieben laut oder grölen. Die Ursache liegt in unmittelbarer Nähe; eine Bar, aus der dumpfe Musik hämmert. Ich verfolge eine Gruppe von vier Männern mit meinem Blick, die schwankend über den Parkplatz gehen. Zwei von ihnen stützen sich gegenseitig. Der lauteste von ihnen schwenkt eine Flasche umher. Was sie da sagen, kann ich nicht verstehen – die Aussprache ist schwammig und lallend.
Es ist kühler geworden. Zwar nicht so sehr, dass man eine Jacke braucht, dennoch spürbar. Ich drücke mich ein wenig an Mikołaj, der einen Arm um mich legt und die Fingerspitzen über meinen Arm wandern lässt. Ein stummes Lächeln bildet sich auf meinen Lippen. Seine Nähe fühlt sich dieses Mal richtig an. Sie spendet mir die Sicherheit, die ich in diesem Moment brauche.
„Ich werde einschreiten, sollte ich merken, dass da etwas nicht stimmt." Seine Stimme hört sich so fern an. „Da wird's mir egal sein, ob er mein Vater ist oder nicht." Er hat sich in langärmlige Sachen gekleidet, ich ebenfalls. Die Mücken sind dieses Jahr besonders hungrig und nervig. „Du brauchst daher keine Angst zu haben."
„Habe ich nicht, solange du bei mir bist." Ich klemme eine Haarsträhne hinter das rechte Ohr. „Wenn ich ganz ehrlich bin, bin ich etwas nervös. Ich habe mich die ganze Hinfahrt über gefragt, was er von uns will ... oder von mir."
„Er will sicherlich etwas über deinen Vater wissen", murmelt Mikołaj kaum hörbar. Mittlerweile liegt der Parkplatz in absoluter Stille da. Selbst auf den angrenzenden Straßen spielt sich kein richtiger Verkehr ab. Nur der Lärm von den ein- oder ausfahrenden Zügen oder der Bundesstraße dröhnt bis zu uns. Irgendwo brüllen sich welche an. Manche Vögel kreischen umher. Da vorn bei den Einkaufskörben schleichen zwei Katzen umher.
„Oder warum wir plötzlich zueinander in Kontakt stehen", ergänze ich gedankenverloren und spiele an einigen Fäden herum.
„Na ja, das kann er sich eigentlich denken." Er wird urplötzlich stumm, als sich kreisrunde Scheinwerfer in der Dunkelheit abzeichnen. Ein tiefes Dröhnen wird zunehmend lauter, und wenige Sekunden später rollt der stattliche Porsche auf den Parkplatz. Mein Blick gleitet unweigerlich zum ansehnlichen Heckspoiler, ehe er die sportliche Form des Wagens aufnimmt. Keine Frage; es handelt sich um den roten Neunhundertelfer von Jakub, jenem Freund meines Vaters, der inzwischen sein verhasster Feind ist. Er bleibt genau vor uns stehen. Ich kneife ein wenig die Augen zusammen. Das Brummen ebbt ab, die gleißenden Scheinwerfer erlöschen. Ich spüre, wie Mikołaj mich fester an sich drückt, als sich die Fahrertür öffnet. Er richtet sich auf, stellt sich ein wenig vor mich. Ich zucke mit keiner Wimper. Blicke unwegsam zu der recht kleinen Gestalt, die aus dem Sportwagen steigt. Mikołaj hat sich absichtlich in der Nähe von zwei Laternen gestellt. Das orangefarbene Licht fällt lautlos auf Jakub herab.
Er geht in aller Ruhe zu uns. Die Nervosität wächst an, ich schlucke nahezu unhörbar. Ein eigenartiges Gefühl flutet durch mich, als er vor seinem Wagen innehält und Mikołajs Blick erwidert. Das ist er also, Jakub Zsaskaski. Jemand, der meinem Vater sehr loyal ergeben gewesen, von einer heimtückischen Droge abhängig gewesen ist und der bis heute die Straßen unsicher macht. Wir sagen nichts. Jakub hat sich kaum verändert. Man kann fast schon sagen, dass er in der Vergangenheit steckengeblieben ist, was das Äußere angeht. Keine Falten, keine grauen Strähnen. Immer noch zu jung aussehend, viel zu vital. Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Jakub sieht wie der jüngere Bruder von Mikołaj aus.
Dann nimmt der Neunzehnjährige seinen Arm von mir und schreitet zu Jakub. Ich bleibe wachsam. Er umarmt ihn. Innig, als hätte er ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Es sieht ein wenig eigenartig aus, denn beide sind für ihr Alter ziemlich klein.
„Ich freue mich auch, dich wiederzusehen, Mikołaj", höre ich Jakub sagen. Wenigstens verleiht seine Stimme ihm den Anschein, dass man es mit einem erwachsenen Mann zu tun hat. „Geht es dir soweit gut?" Er lässt ihn langsam los. Der Neunzehnjährige tritt wieder zu mir. Zieht mich zu sich heran.
„Mir ja", antwortet er ruhig. „Es passt soweit alles." Ich kann auf seinen starken Unterarmen diverse Tattoos erkennen. Ein russisches Wort, das sich über die gesamte äußere Seite des rechten Unterarms schlängelt. Auf dem linken ein Tribal, das sich bis zu dem Handgelenk windet. Ich kann zudem die Narben auf dem rechten Unterarm erkennen. Woher die stammen, kann ich in etwa erahnen. „Wie geht's es dir und den anderen?"
„Recht gut, schätze ich." Sein Blick macht mir etwas Angst. Jakub mag friedgesinnt sein, doch die Narbe, welche sich über das grau-weiße Auge zieht, verleiht ihm ein aggressives Antlitz. „Ich kann mich bisher nicht beschweren." Er lässt mich nicht aus den Augen. „Den anderen passt es soweit. Łukasz vermisst dich schon." Ein Ansatz eines Lächelns huscht über die schmalen Lippen. „Ansonsten geht jeder seinen Routinen nach." Als hätte ich eine Zeitreise in das Jahr zweitausendzweiundzwanzig unternommen. „Es ist außerdem schön, dich endlich zu sehen, Jess." Jakub regt sich nicht. Mikołaj behält den Arm um meiner Taille. „Du kommst ganz nach Kaden." Keine scharfe Note. Ganz neutral und ruhig. „Lass' mich raten: Er weiß nicht, dass du hier bist?"
„Was genau willst du von ihr?", mischt sich Mikołaj ein. „Ich sag's ganz direkt: Hast du vor, ihr etwas anzutun, werde ich nicht zögern, um einzuschreiten." Ihm ist es egal, dass er vor sich seinen Vater zu stehen hat.
Jakub hebt ein wenig die Hände.
„Sie hat mit den Machenschaften von Kaden nichts zu tun. Auch nicht mit meiner Vergangenheit. Warum also soll ich ihr etwas antun?" Dieses Mal sieht er zu Mikołaj. „Ich will nur mit ihr reden. Mehr nicht. Da musst du nicht den Helden spielen." Der harte Akzent sorgt dafür, dass ich einige Wörter nicht gut aufnehmen kann. „Im Gegenzug werde ich ihr oder dir alles erzählen, was ihr wissen wollt. Auch Dinge aus meiner beziehungsweise Kadens Vergangenheit. Ich kann mir gut vorstellen, dass ihr euch die Gerichtsverhandlungen angeschaut habt. Nicht alles, was dort gesagt worden ist, stimmt."
Kann ich ihm einfach so glauben? Zugegeben, Jakub wirkt nicht danach, eine Auseinandersetzung anzuzetteln oder mir etwas anzutun. Er hört sich überzeugend an. Ich wechsele mit Mikołaj einen flüchtigen Blick.
„In diesem Punkt bist du ganz anders als mein Vater." Meine Stimme ist wacklig. Jakub muss meine Furcht ihm gegenüber unlängst wahrgenommen haben. „Für ihn ist Mikołaj ein Dorn im Auge, weil er dein Sohn ist." Er zieht keine Miene. „Obwohl er nichts mit eurer Vergangenheit zu tun hat." Jakub nickt langsam. „Über was willst mit mir reden? Über meinen Vater?"
„Ich weiß. Anders als er kann ich nach einer bestimmten Zeit mit vergangenen Dingen abschließen. Ich lasse mich nicht mehr von früheren Geschehnissen beeinflussen." Er lehnt sich an die Motorhaube seines Porsches. „Es hat zwar sehr lange gedauert, bis ich diese Haltung habe, dennoch hat sich die Mühe ausgezahlt." Was dieses Wort wohl bedeuten mag? „Richtig. Deshalb wollte ich dich sehen. Ich will gerne wissen, was er macht und ... wie es ihm geht."
„Warum eigentlich?", grätscht Mikołaj dazwischen.
Jakub seufzt kurz.
„Weil ich gelernt habe zu verzeihen. Es sind knappe zwanzig Jahre vergangen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Das ist nicht ohne. Ich glaube außerdem, dass er sich verändert hat. Zum Guten. Anders kann ich mir nicht erklären, weshalb du hier bist, Jess." Sein Lächeln lässt mich ein wenig zögern. Sicher, es macht ihn freundlicher, aber wären da nicht diese verdammten Zweifel. Oder diese gruselige Narbe. „Ich habe ihm verziehen. Mit all dem Scheiß von damals abgeschlossen. Was für mich zählt, ist das hier und jetzt. Und meine eigene Familie."
„Du ... verzeihst ihm", wiederhole ich langsam.
„Ja." Jakub sieht für einen Augenblick zu der Straße. „Wie ich gesagt habe: Ich lebe im Hier und Jetzt und nicht im Damals."
„Du weißt schon, dass sich das ein kleines bisschen komisch anhört?" Mikołaj bleibt gefasst.
„Verständlich. Ihr habt sicherlich mein früheres Ich vor Augen." Jakub grinst etwas. „Als ich der böse drogenabhängige Psycho aus Warschau gewesen bin, der alles niederschlägt, was nicht bei drei auf dem Baum ist." Er mag es vielleicht lustig finden. Mikołaj und ich nicht. „Der bin ich nicht mehr. Seit achtzehn Jahren bin ich clean. Das wird auch so bleiben."
„Was ist früher zwischen dir und meinem Vater passiert? Grundlos würde mein Vater dich nicht so extrem verabscheuen." Ich suche seinen neutralen Blick. „Mein Vater hat seine Geschäfte wieder hochgefahren. Er ist viel häufiger unterwegs und länger weg. Ihm geht es soweit gut. Wirkt zumindest so auf mich." Jakub kommt mir forschend vor. „Ist aber noch nicht so lange der Fall. Es hat ziemlich lange gedauert, bis er sich wieder auf die Straße getraut hat. Er hat alles über den Rechner abgewickelt und koordiniert."
„Habt ihr denn genügend Zeit? Ansonsten könnte ein anderer Tag besser sein." Jakub spielt mit dem Autoschlüssel herum. „Ich sage vorerst nur, dass wir vor ungefähr siebenundzwanzig Jahren eine besondere Freundschaft führten." Man müsste unseren Gesichtsausdruck sehen. „Hm, ich erinnere mich an den Tag, als sei er gestern gewesen." Ein wehmütiger Funke untermauert die Stimme, als er fortfährt: „Es war der Tag, als er aus seinem Zuhause abgehauen ist. Ich war länger in der Gang als er. Er wollte mir helfen, weil ich extremst verletzt war." Jakub deutet auf seine tätowierten Arme. „Die habe ich mir stechen lassen, damit ich die Narben nicht mehr sehen muss."
„Das sind nicht seine einzigen", murmelt Mikołaj mir zu. „Er hat auch welche auf der Brust und auf dem Rücken."
Jakub runzelt etwas die Stirn.
„Wie dem auch sei. Wir verstanden uns recht gut. Klar, man war misstrauisch, zumal ich zu dem Zeitpunkt kein Bisschen Deutsch verstand und sprechen konnte. Aber Kaden half mir, wo es nur ging. Ich ihm auch – es ging mehr oder weniger um die Gepflogenheiten und Routinen innerhalb der Gang."
Es hört sich wie eine erfundene Geschichte an. Das kann nie und nimmer stimmen. Jakub und er, sehr enge Freunde. Dass ich nicht lache. Unvorstellbar! Sie verachten sich, wünschen einander den Tod. Diese Narben in deren Gesichter sprechen Vieles aus.
„Angenommen, die Sache stimmt. Wie und warum bist du dieser Gang beigetreten?", will Mikołaj wissen. Verständnislosigkeit und Ungläubigkeit zeichnen ihn aus. „Dieser Scheiß kann einfach nicht wahr sein. Das ist gelogen."
Jakub schüttelt gemächlich den Kopf.
„Ist es nicht, Mikołaj", stellt er unweigerlich klar. „Es ist die Wahrheit." Der ältere Pole hält inne, als zwei Fahrzeuge über den Parkplatz brettern und dabei die Drehzahlmesser hochhalten. Ein alter Civic und ein neuerer Golf. Manchmal quietschen die Reifen über den Boden. Na ja, da habe ich zu früh gehofft. Sie haben unsere Fahrzeuge entdeckt. Der schwarze Civic fährt sogar zu uns hin. Wenigstens hält er nicht an. „Ich habe alles während dieser Gerichtstermine erzählt. Dieser Teil war wahr."
„Welcher nicht? Was war gelogen? Ich weiß echt nicht mehr, was ich dir glauben soll und was nicht", meint Mikołaj ein wenig bitter. Schweigend lege ich meine Hände auf seinen Arm. Versuche irgendwie, ihm Ruhe zu vermitteln.
„Ich verübele es dir nicht. Wir haben es immerhin sehr überzeugend geschildert." Die beiden Chaoten sind wieder verschwunden. „Als deine Mutter Zeugin war. Sie hat abgestritten, dass sie nach Kadens Verhaftung weiterhin Kontakt zu mir hätte. Sie hat denen nicht erzählt, dass ich längst eine Beziehung mit ihr geführt habe. Oder Jacek; er hat alles widerlegt, was mit mir zu tun hatte. Lustigerweise war ich sogar bei den Gerichtsterminen anwesend – man hat mich nur nicht erkannt." Jakub räuspert sich. „Ich mache euch beiden einen Vorschlag: Entweder komme ich am Wochenende zu euch oder ihr zu mir, und wir werden weiterreden. Dann werdet ihr alles von mir hören, was ihr wissen wollt. Dieses Mal ohne Lügen und Geheimniskrämerei." Sein eisblaues Auge erfasst mich. „Was sagt ihr dazu?"
Ich muss nicht lange überlegen. Für mich steht die Entscheidung längst fest. Ich werde ihn wiedersehen, ganz gleich, was Mikołaj von diesem Vorhaben hält. Jetzt endlich habe ich die einmalige Chance, mehr über meinen Vater zu erfahren. Oder Dinge, die bisher nie erwähnt worden sind.
„Samstagabend, gleiche Uhrzeit", antwortet der Neunzehnjährige. „Du kommst wieder hierher." Er ist wieder besonnener geworden. Jakub sieht mich an. Ich nicke nur. „Ich schätze, das wäre damit geklärt."
„Wie ihr wollt. Dann werde ich euch um halb zehn hier wieder erwarten." Jakub erhebt sich. Nur, um die Dokumente für sein Fahrzeug hervorzuholen. „Jess? Was weißt du über die Machenschaften von Kaden? Hast du davon irgendetwas mitbekommen?"
Ich sollte vorsichtig sein, was ich von mir gebe. Aber anderseits ... Jakub wirkt nicht annähernd danach, als hätte er Böses geplant. Nur langsam befreie ich mich aus dem Zwiespalt.
„Na ja, nur so viel, dass er so langsam anfängt, seinen Einfluss auf Osteuropa auszuweiten", beantworte ich seine Frage. „Soweit ich es richtig gelesen habe, ist er schon bis nach Weißrussland gekommen." Ich blinzele langsam, als ich Mikołajs leise Frage wahrgenommen habe. „Er dokumentiert jeden Auftrag, jeden Transportweg, Käufer, Verkäufer. Also alles. Da gibt es stellenweise ziemlich dicke Ordner in seinem ... Büro." Ich sollte zusehen, dass ich langsam wieder nach Hause komme. „Man kann auch Karten finden, wo bestimmte Routen eingetragen worden sind. Da habe ich einmal gesehen, dass eine von Irland nach Weißrussland geht. Vielleicht auch bis nach Estland hoch. Ich habe nicht genau hingesehen." Mir wird bewusst, was für einen Aufwand mein Vater betreibt, nur um ordentlich Geld zu scheffeln. Profit auf Kosten der Bevölkerung.
„Arbeitet er wieder mit anderen zusammen? So wie damals?" Verwirrung spiegelt sich in meinem Gesicht wider. „Haben sie das nicht in den Gerichtsverhandlungen erklärt?" Ich tausche mit Mikołaj einen verständnislosen Blick. „Müssten sie eigentlich. Egal. Du weißt, dass Kaden die deutsche Szene unter Kontrolle hatte, indem er für jedes Bundesland einen Vermittler eingesetzt hat? Für Berlin sogar zwei. Insgesamt also achtzehn Untergebene, die nach seiner Pfeife tanzten." Stimmt. „Hat er immer noch solche Leute angeheuert oder dazu genötigt?"
Ich habe einem Dokument entnehmen können, dass er zwei Namen besonders häufig erwähnt hat. Ein Glück, dass er sie maschinell anfertigt. Seine Schrift ist grausig.
„Ich weiß es nicht", gebe ich etwas leise zu. „Das habe ich nicht lesen können." Jakub lehnt wieder an der Motorhaube. „Es wäre komisch, weil er bisher allein diese Dinger abgewickelt hat. Er vertraut keinem mehr. Da ist er zu vorsichtig."
„Nach der Scheiße, die er durchgemacht hat, ist es nachvollziehbar." Jakub hält für einige Sekunden inne. „Angefangen mit mir; ich habe den Bruch sozusagen begonnen." Er winkt ab, denn Mikołaj will wissen, was er damit meint. „Später. Ist, wie gesagt, eine lange Geschichte."
„Wenn du meinst", murrt Mikołaj.
„Äh, Jakub? Kann ich dich etwas fragen?", erhebe ich zögernd die Stimme.
„Natürlich." Er lächelt sehr leicht.
Ich schlucke kaum hörbar.
„Wie hast du es geschafft, über all die Jahre unentdeckt zu bleiben? Die Polizei hat immerhin nach dir intensiv gefahndet."
„Anfangs war es sehr schwierig. Manchmal wurde ich beinahe erwischt, hätte ich nicht Sarah an meiner Seite gehabt. Länger als drei Tage haben wir uns nie irgendwo aufgehalten. Zu groß war die Gefahr, gefunden zu werden. Wir haben uns bewusst für eine Kleinstadt entschieden, denn jeder normale Mensch geht davon aus, dass man sich als Schwerverbrecher in einer Großstadt versteckt. Warschau, Posen, Krakau ... Die haben da vielleicht Wellen geschlagen." Wenn man sehr genau hinschaut, kann man Ansätze von Tattoos auf seiner Brust erkennen. „In Łagów kennt dich niemand. Gut, es hat ein paar Fälle gegeben, wo man mich gesehen hat. Niemand hat Panik geschoben, weil ich mich zivilisiert habe. Oder zumindest sehr gute Fortschritte gemacht habe. Ein paar Wochen nach Kadens Verhaftung bin ich allein nach Kiew gefahren wegen des Entzuges, den ich mit einem sehr guten Freund durchgezogen habe. Während meines Aufenthalts ging der Trubel mächtig zurück – einige Idioten haben verbreitet, dass ich längst tot sei. Ich hatte davon profitiert, weil ich meine Ruhe hatte." Jakub ist kurzweilig still. „Ich habe einen Job gefunden und so für Routine gesorgt. Sie wussten um meine Umstände, aber für meinen Chef zählen einzig und allein meine Fähigkeiten. Er ist von mir überzeugt und lässt mich bei sich arbeiten. Seitdem kriegen wir viel mehr Aufträge 'rein."
„Hattest du nie ... Angst gehabt, mein Vater könnte dich finden und Rache ausüben?"
„Wenn ich ehrlich bin, nein. Er ist seit dem Tod seiner Schwester ein gebrochener Mensch, der nie über den Verlust hinwegkommen wird. Er wird nicht loslassen können. Auch heute nicht. Er kann mich finden, das traue ich ihm zu, aber er wird sich nicht mehr die Mühe machen, mich oder meine Familie aus der Welt zu schaffen." Mikołaj hält sich aus dem Gespräch heraus. „Ich finde es allerdings schön, dass er endlich die passende Frau für sich gefunden hat. Vielleicht lernt er jetzt endlich, mit dem Vergangenen abzuschließen."
Er ist eigentlich nur so, weil du derjenige warst, der sie erschossen hat. Nur, weil du damals nicht über den Tod deines Bruder hinweggekommen bist. Ein Gedanke, den ich für mich behalte. Du hattest selbst nicht loslassen können.
„Würdest du dich mit Kaden versöhnen wollen?", fragt der Neunzehnjährige. „Wenn du die Möglichkeit hättest."
„Ja." Kein Zögern, kein Herumgerede. „Es ist viel Zeit vergangen. Wir haben uns beide verändert. Zum Guten. Wir sollten die letzten zwanzig Jahre abhaken." Er meint es ernst und macht uns sprachlos. Jakub mustert uns, ehe er sich ein wenig zurücklehnt und wartet, was wir zu sagen haben. Ich finde es gut. Das zeigt mir, dass er voll und ganz verändert hat. Dass von seinem früheren Ich keine Spuren mehr vorhanden sind.
„Es ist schade, dass mein Vater diese Einstellung nicht hat." Sein Wagen müsste locker die dreihundert erreichen. „Du bist nach wie vor sein verhasster Feind."
„Er wäre also bereit, mich umzulegen, sollte er mich wiedersehen."
„Das ... würde ich so nicht sagen", erwidere ich zögerlich. „Ich glaube nämlich nicht. Hoffe ich einfach 'mal." Jakub bleibt ruhig. Das hätte ich nicht erwartet.
„Ich werde schon sehen, sollte es soweit sein." Ich sehe Mikołaj an. Ihm missfällt es, dass sein Vater solch eine Einstellung hat.
„Du willst dich ernsthaft mit Kaden treffen? Du hörst dir schon selbst zu, oder?" Und der Neunzehnjährige geht wieder zu ihm. Ich beobachte ihn still, wenn auch sorgenvoll. Die folgenden Gesprächsfetzen gehen in der polnischen Sprache unter. Ich rühre mich nicht vom Fleck, als ich feststelle, dass die Gestikulation zunimmt. Es ist Mikołaj, der ab und zu lauter wird. Er versucht Jakub klarzumachen, dass diese Idee nichts weiter als Risiken und Gefahren mit sich bringt und zu nichts führt. Nicht, solange mein Vater seine Haltung bewahrt.
Dann plötzlich kehrt Stille ein. Ich erhebe mich mehr, sehe, wie Mikołaj sich an Jakub schmiegt und er die Arme um seinen Sohn legt. Ein einzigartiges Bild, das mich ein wenig lächeln lässt.
„Es wird schon, Kleiner. Lass' das meine Sorge sein. Ich kenne Kaden am besten." Er lässt ihn vorsichtig los. Ich muss genauer hinhören, um die nächsten Wörter aufzunehmen: „Du solltest für jemand Besonderes da sein." Ein verhaltenes Gelächter von ihm, als Mikołaj verwirrt fragt, wen er meint. „Wirst du schon von allein wissen. Ich sag' nur so viel: Du hättest endlich die richtige Person fürs Leben gefunden." Als Mikołaj zu mir sieht, grinst Jakub knapp. „Wie schön, der werte Herr hat endlich verstanden, was ich meine."
Sie reden über mich? Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Zu seinem Glück habe ich nicht alles verstanden.
„Äh ...", stammelt Mikołaj und entfernt sich einen Schritt von seinem Vater. „Na ja ..."
„Nicht na ja. Wenn dir das Offensichtliche entgeht, bist du auf beiden Augen blind. Und blinder als ich kannst du nicht sein." Jakub klopft ihm belustigt auf den Rücken. „Du machst das schon, Mikołaj. Nur so als kleiner Tipp: Diese Chance wirst du so schnell nicht mehr haben. Nutz' sie." Er sieht auf die Uhr am linken Handgelenk. „Anderthalb Stunden. Wie schnell die Zeit vergeht."
Was zur Hölle meint er denn damit? Das ist ja wie eine Nuss, die ich nicht knacken kann. Ich werde wohl die Nacht dafür aufopfern müssen.
„Danke. Echt. Ich werd' die Nacht nicht mehr schlafen können", brummt der Neunzehnjährige und verschränkt für ein paar Minuten die Arme vor der Brust.
„Gern geschehen", gibt Jakub unberührt zurück. „Wenn ich ihr beide wärt, würde ich so langsam zusehen, dass ihr nach Hause kommt. Wir haben leider kein Wochenende." Da hat er recht. „Dann werden wir uns Samstagabend hier wiedersehen. Gleiche Uhrzeit." Er wendet sich an mir. „Es war schön, dich kennenzulernen, Jess. Ich hoffe, dass du von mir einen anderen Eindruck bekommen hast."
„Ja, klar." Ehrlich gemeinte Worte. „Ganz anders, als man sonst so hört."
„Hab' ich doch gesagt", wirft Mikołaj zufrieden ein. „Die anderen erzählen eh 'n Scheiß."
„Würde ich so nicht sagen. Ist deren gutes Recht." Jakub gähnt leise. „Mikołaj, du weißt Bescheid." Er winkt sogleich ab. „Sonst wirst du es späterhin bereuen."
„Vielleicht." Er gesellt sich zu mir. „Sieh zu, dass du zu Mama und Łukasz fährst. Ich komm' hier bestens klar."
„Reiß' dich einfach zusammen, okay? Mach's einfach. Du wirst du viele Probleme ersparen." Jakub verdreht die Augen, als Mikołaj einen schnippischen Kommentar von sich gibt. „Andernfalls wird's mir eine Riesenfreude bereiten, dich nach Hause zu holen." Mikołaj wird augenblicklich still. „Deine Entscheidung." Er entriegelt den Wagen. „Ach, und eine Sache: Sollte ich mitkriegen, wie du den Audi misshandelst oder irgendwelche Kratzer 'reinhaust, kannst du dich darauf einstellen, mit Bus und Bahn zu fahren. Aber erst, nachdem du eine Tracht Prügel bekommen hast." Wenngleich ein scherzhafter Unterton die Stimme dominiert, spüre ich, dass ein Fünkchen Wahrheit hinter dem Gesagten ist.
„Werden wir sehen." Mikołaj grinst schief. „Wir sehen uns." Auch er ist sich bewusst, dass sein Vater nichts leer daher gesagt hat. Ich muss unweigerlich an die bis heute andauernden Entzugserscheinungen denken, von der Mikołaj gesprochen hat.
„Erwarte ich." Er steigt ein. Keine fünf Sekunden später erwacht der rote Tiger zum Leben. Ich kneife ein wenig die Augen zusammen. Lausche nebenbei dem eindrucksvollen Dröhnen. Eine schwunghafte Bewegung des Lenkrades genügt, und Jakub fährt quer über den Parkplatz.
„Dass er's auch einfach nicht lassen kann." Der Neunzehnjährige lacht und schüttelt anschließend den Kopf. „War schon damals so und ist es immer noch. Es gibt Dinge, die man mit den Jahren nie verlernt." Jakub dreht geschickte Schleifen. Weißer Rauch hüllt den roten Wagen ein, die Reifen quietschen laut über den Grund. „Ich krieg's mit dem Audi auch hin. Ist gar nicht so schwer, wie man denkt." Ein aufheulender Motor, und er rast vom Parkplatz. Jakub besinnt sich zügig, sobald er die Straße erreicht hat. „Was für ein Angeber." Der Porsche hat sich kein Bisschen verändert. Höchstens von der Leistung. Was hat Mikołaj gesagt? Er besäße inzwischen tausendeinhundert PS? Soweit ich weiß, gibt es diese Modelle mit einer Stärke von gerade einmal fünfhundertvierzig PS.
„Also ich fand's nicht schlecht", erwidere ich gedankenverloren. Der Sportwagen entfernt sich immer mehr von uns. Bald ist es nur noch ein dumpfer Laut in der Ferne. „Ich mag den Wagen. Finde ich persönlich besser als den meines Vaters." Wir haben beschlossen, für eine Weile hier draußen zu sein.
„Schon lustig, was wir für unterschiedliche Favoriten haben. Der Pur Sport ist nicht ohne. Tausendfünfhundert PS hat man nicht einfach so. Bist du schon 'mal mitgefahren?"
„Vorausgesetzt, man nutzt die Leistung aus." Schwarze Reifenabdrücke zieren den Grund, über welchem Jakub mit dem Porsche gedriftet ist. „Ein paar Mal, ja. Als wir einen Städtetrip unternommen haben. Der letzte liegt aber ein paar Jahre zurück. Ist immer lustig, wenn die anderen dich anstarren." Mein Vater hat sich gerne darüber aufgeregt. Für ihn sei der Superwagen ein ganz normales Fahrzeug. Seine Definition von normal ist schon speziell genug.
„Lass' mich raten: Für ihn ist es ein absolutes no-go, dass du mit dem Teil fährst? Meiner ist fast ausgeflippt, als ich hinterm Steuer saß. Klar, ich würd' gerne mit dem Neunhundertelfer fahren – allein schon, wie er aussieht, verspricht er eine unglaubliche Fahrt. Und da er ihn extremst modifiziert hat ... Du bist König der Autobahnen."
„Na ja, ich kann es verstehen. Ich stehe nicht in der Versicherung mit drinnen, habe zu wenig Fahrerfahrung, und ich bin ... zu locker und gleichgültig, was das Verkehrsgeschehen angeht. Manchmal habe ich mehr Glück als Verstand. Da hätte es den einen oder anderen Unfall geben können, hätte ich nicht rechtzeitig reagiert."
„Ich sei angeblich zu radikal unterwegs." Ich schmunzele. „Zu dichtes Auffahren, offensive Fahrweise. Ich überschreite gerne das Tempolimit um mehrere Bereiche ... Ich hab' 'mal gesagt, dass es an Papa läge, weil er wie ein Irrer über die Straßen brettert. Ein Glück, dass meine Mutter zu dem Zeitpunkt da gewesen ist." Der Pole sieht mich an. „Wenn du los willst, musst du es nur sagen."
Ich nicke langsam.
„In knapp fünfzehn Minuten", murmele ich und erlaube es ihm, dass er mich zu sich zieht. „Wir können ja bis dahin die Nacht genießen."
„Klar." Es fühlt sich richtig an. Mikołaj verändert die Position, sodass ich unmittelbar vor ihm stehe. Ich lehne mich mit dem Rücken an ihn. Die starken Arme werden um meinen Bauch gelegt. Gerade mache ich mir Hoffnung auf mehr. Ich habe schon wieder viel zu viele Bilder im Kopf. Aber was ist mit Morgen? Wie wird er an diesem Tage sein? Genau wie heute? Wenn ich ganz ehrlich bin, bezweifele ich es. Er mag gerade ein völlig anderer Kerl sein. Ich habe das Gefühl, dass er mich irgendwie mag. Vielleicht bilde ich es mir auch ein. Glaube, das tue ich auch. Die Realität ist noch nie schön gewesen. Morgen wird er mich wie Luft behandeln. Wollen wir wetten? Da werde ich nicht mehr wichtig sein. Hm, wenn man bedenkt, dass seine Barbiepuppen auch etwas von ihm wollen. Da kann ich nicht mehr mithalten. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Ich muss dringend mit Elise reden. Ich hoffe nur, dass sie es mir nicht übel nimmt, dass ich sie mehr oder weniger vernachlässigt habe.
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