17 - Gebeichtet
„Danke sehr." Ich nehme ihm das Glas ab und erlaube mir den ersten Schluck. Aufgrund der beschlagenen Oberfläche kann man ein paar Fingerabdrücke erkennen. „Was hast du dir geholt? Soll das so'n Fitnessfrühstück sein?" Ein winziges Grinsen setzt sich auf die Lippen, während Mikołaj zu essen beginnt. Er sieht auf. Blinzelt langsam.
„Eigentlich nicht. Du könntest höchstens die Basis als Solches betiteln – dieser Joghurt hat schon echt viel Protein." Der Neunzehnjährige lehnt sich zurück. „Keine Ahnung. Glaub, dreißig Gramm sind da schon drinnen. Ohne Haferflocken und Dessertsoße." Ein flüchtiger Blick zu dem Wald. „Du kannst gerne 'was abhaben. Schmeckt wirklich nicht schlecht." Ich lehne lächelnd ab. „Gut, wenn du meinst. Bleibt mehr für mich."
„Was denkst du, will dein Vater von mir wissen?" Es lässt mir keine Ruhe. „Mir fallen da so viele Dinge ein. Auch schlimme, wenn ich ehrlich bin."
„Ich weiß es nicht", gibt Mikołaj leise zu. „Ich kann es immer schlecht einschätzen. Ich kann mir aber gut denken, dass es um Kaden geht. Wie's jetzt mit ihm aussieht, was er macht, ob er die Drogengeschäfte hochgefahren hat ..." Einige Falten bahnen sich einen Weg über die Stirn. „Eine Sache verstehe ich nicht. Warum will er's jetzt wissen? Ich dachte, er hätte mit deinem Vater nun endgültig abgeschlossen?" Er erwidert meinen Blick. „Oder liegt's an uns? Dass wir jetzt Kontakt zueinander haben?"
„Ich bin genauso planlos wie du", gebe ich ungerührt zurück. „Da kann alles möglich sein." Ich denke jedoch schon. Wir haben voneinander nie gewusst und jetzt schon. Ich habe es recht spät festgestellt; mit unserem Kennenlernen bohren wir uns Minute für Minute tiefer in die Vergangenheit, bis ich wir einen Weg erreicht haben, von dem wir nicht mehr abkommen werden. Und geradewegs auf diesem Weg werden wir Dinge entdecken, welche man vor uns über all die Jahre versteckt gehalten hat. Mikołaj und ich haben uns entschieden; wir werden keinen Rückzieher machen.
„Ich versteh' eh nichts mehr, seit mein Vater darauf besteht, dich unbedingt sehen zu wollen." Er kratzt die Reste zusammen, um sie zu essen. Anschließend ergänzt er ruhig: „Wir werden's wohl durchziehen müssen. Du brauchst keine Angst du haben, weil du dich nämlich auf mich verlassen kannst. Ich kann meinen Vater echt schwer einschätzen – ich mache mich daher auf alles gefasst." Der Neunzehnjährige schiebt die Schale ein wenig von sich. Betrachtet den Apfel. „Kann ich dich etwas fragen? Irgendwie wollte ich das schon gestern ... wissen, aber gab wohl keine passende Gelegenheit."
„Ich ... will vorerst nicht darüber reden. Belassen wir's fürs Erste." Ich platziere das Glas auf den Tisch. „Was genau denn?"
Meine Sichtweise hat sich während dieser kurzen Zeitspanne viel zu oft geändert. Gerade schon wieder. Mikołaj ist zu diesem Zeitpunkt für mich ein total normaler Junge, der selbst mit den Gedanken sehr häufig woanders ist.
„Wie ist die Beziehung zwischen dir und deinem Vater? Merkst du ihm irgendwie seine Vergangenheit an?" Keine Musik, wenig Verkehr. Nur die Vögel stimmen fleißig ihre Konzerte an oder schreien sich gegenseitig an. Da ist eben eine Taube von zwei Krähen attackiert worden.
„Er macht sich zu viele Sorgen um mich", beginne ich zögernd. „Ja, man merkt's manchmal. Ich kann es nachvollziehen und versuche, das Beste daraus zu machen. Es ist nicht leicht, aber es geht. Es ist die Angst, jemand Geliebtes zu verlieren, weißt du? Ich weiß nicht, ob du schon davon gehört hast: Sein bester Freund ist vor achtzehn Jahren gestorben. Er hat's mit ansehen müssen. Das hat ihn wohl sehr geprägt." Mikołaj hört mir schweigend zu. „Er behandelt mich und meine Mutter wie zwei sehr kostspielige Diamanten. Hört sich komisch an, ist aber so. Es ... lässt sich schlecht beschreiben. Sie ist einzigartig." Ich lächele leicht. „Ich könnte mir keinen besseren Vater wünschen."
„Mal abgesehen von den kleinen Fehltritten, die ich mir oft erlaube, ist es bei mir genauso." Er fährt mit der linken Hand durch seine Haare. Sie sind zur Hälfte trocken. An einigen Stellen kräuseln sie sich sehr sanft. „Er macht mir sehr deutlich, wie viel ich und der Rest von uns ihm bedeuten. Ich denk', er hat auch Angst, uns zu verlieren. Ist zudem dem Fakt geschuldet, dass er so lange drogenabhängig gewesen ist."
„Kriegt man davon noch etwas mit?"
„Na ja, man sieht es ihm an. Er ist dreiundvierzig und sieht trotzdem wie Mitte zwanzig aus. Du glaubst gar nicht, wie oft das zu Missverständnissen geführt hat, als wir entweder nach Warschau oder Lublin gefahren sind; Mutter und Sohn." Ich lache, selbst Mikołaj kann sich kein Grinsen verkneifen. „Ja, mittlerweile nimmt er es mit Humor, wenn man ihn für den Sohn meiner Mutter hält. Ist zwar etwas bizarr, wenn wir die Sache aufklären – denen ist es verdammt peinlich und unangenehm." Er räuspert sich belustigt. „Klar, meiner Mutter sieht man's Alter auch nicht wirklich an. Sie altert aber „normal". Nicht schnell, auch nicht zu langsam. Sie wird nur um ein, zwei Jahre jünger geschätzt." Der Neunzehnjährige setzt das Glas an die Lippen, jedoch ergänzt er mild: „Ein paar Nachwirkungen spürt man bis heute. Leichte Reizbarkeit, Ungeduld, schnelle Wutausbrüche oder wenig Selbstbeherrschung."
„Allein die Vorstellung ist ziemlich gut", meine ich und strecke die Beine aus. „Der arme Jakub." Ich kann mir ausmalen, dass dies vor meiner beziehungsweise unserer Zeit häufig der Fall gewesen ist. Mitte zwanzig und trotzdem das Aussehen eines Teenagers besitzend. Ein Fluch und Segen zugleich. „Wo ist denn bitte schön Lublin? In der Nähe von Warschau?"
„Der kann's ab. Vor allem wenn man beinahe auf Augenhöhe ist. Da machen Diskussionen umso mehr Spaß." Er schüttelt langsam den Kopf. „Hundertsechzig Kilometer würde ich nicht unbedingt als ‚Nähe' bezeichnen. Liegt eher an der ukrainischen Grenze. Wir fahren immer durch die Stadt, wenn wir nach Kiew wollen. Mein Vater kennt dort jemanden, mit dem er seit fast zwanzig Jahren ziemlich gut befreundet ist. Der gute Jevhen ist zwar inzwischen stolze sechzig, aber topfit. So wie ich ihn verstanden habe, ist er vor meiner Geburt ein aktiver und vor allem erfolgreicher Drogenhändler im gesamten osteuropäischen Gebiet, teilweise bis nach Kasachstan, gewesen. Kaden und er haben sich verabscheut." Neugier blitzt in meinen Augen auf. „Du, ich weiß auch nicht alles. Nur das, was er mir nebenbei erzählt hat oder was ich von Sascha, seinem verdammt loyalen Begleiter, gehört habe. Früher soll's wohl so etwas wie ein Ring aus vielversprechenden Händlern gegeben haben – elf Stück. Dein Vater hat bis auf fünf alle eigenhändig oder durch bezahlte Söldner umgebracht. Konkurrenz werde niemals geduldet. Der Ring existiert nicht mehr, da zwei von ihnen von den dortigen Spezialeinheiten gefasst worden sind, einer hat sich selbst umgebracht, die anderen beiden haben sich zurückgezogen und die Geschäfte aufgegeben. Bei Jevhen kann ich's verstehen; er ist alt geworden, und Daryna soll nicht das Gleiche machen wie er. Na ja." Er zuckt mit den Schultern. „War schon echt spannend, dem zuzuhören, aber mein Vater hat darauf bestanden, dass ich nichts erfahren soll."
Was ist früher alles passiert?
„Also ... habt ihr dort Urlaub gemacht?" Ich will nicht auf den Teil eingehen, der sich um meinen Vater dreht. Wenigstens scheint Mikołaj es zu merken.
„Richtig. Sowohl in Kiew als auch in Lwiw. Die Stadt liegt sozusagen gleich hinter der Grenze. Nächstes Jahr wollen wir mit Jevhen und seiner Familie nach Odessa, ans Schwarze Meer. Schön mit dem Auto geführt durch halb Osteuropa." Das Glas ist bis zur Hälfte leer. „Kann ja wieder ein Spaß werden." Er mustert mich. „Fahrt ihr eigentlich woanders hin?"
„Ist doch lustig. So sieht man viel mehr, als wenn man nur am Fliegen ist." Kurze Stille. „Na ja, selten. Dann, meist nur nach Amsterdam, Kopenhagen. Vienna ist auch einmal dabei gewesen oder Paris. Mein Vater versucht so oft es geht, fremde Orte zu meiden. Es reicht ihm schon, wenn er durch Deutschland fährt oder es muss." Ich hätte eine Menge von der Welt sehen können. „Ich sehe nicht viel."
„Amsterdam?" Seine Augen schimmern plötzlich. „Echt? Da bist du schon gewesen?" Ein kurzes Nicken. „Wie ist es da?"
„Ein Ticken besser als Hamburg und um Welten als Berlin." Ich beschließe, die Beine über die Armlehne zu legen. Dazu rutsche ich tiefer in den Stuhl. „Sehr offen, farbenfroh und ... unbeschwert. Vor allem abends, wenn die Partymeilen loslegen. Es macht ziemlich Spaß, unter Betrunkenen und Kiffern zu sein, weil man die so schön auslachen kann. Meine Mutter arbeitet in den verschiedenen Städten. Das kombinieren wir immer mit dem Urlaub. Wir bleiben dann für ein paar Tage in der Stadt."
„Und ich fand Hamburg schon so unsagbar heftig. Die Reeperbahn ist einfach Legende." Der Pole kann die Begeisterung kaum verbergen. „Eigentlich schade, dass ich nicht in meiner alten Klasse bin; unsere Abschlussfahrt wäre nach Amsterdam gegangen." Er erwidert meinen Blick. „Wir können ja zusammen irgendeinen einen Spontantrip nach Holland machen." Ich lächele schief. „Warum guckst du jetzt so? Ich mein's ernst." Ihm scheint wohl ein Licht aufgegangen zu sein. „Ach, komm'. Ich werd' ja wohl nicht versuchen, dich 'rumzukriegen, damit ich mit dir ins Bett hüpfe. So'n Idiot bin ich nicht."
„Bei dir weiß man es nicht", gebe ich trocken zurück.
„Und warum denkst du das jetzt?" Kein Hohn.
„Nun, rein zufällig hast du seit vorgestern mit mindestens vier Weibern geschlafen? Ich will gar nicht wissen, wie viele davon auf der Rückbank deines Schrottaudis gelegen haben." Ein Wort, das ihn nicht unberührt lässt. Mikołaj schnaubt hörbar. „Du kannst deinen widerlichen Schwanz da behalten, wo ich ihn nicht sehen muss."
Er lacht für eine Sekunde.
„Also bitte. Solange du nicht willst, bleibt er da, wo er immer ... Sorry. Ich geh' nicht weiter ins Detail." Ich hebe eine Augenbraue. „Wenn die wollen, dann sage ich nicht Nein. Den Spaß lasse ich mir nicht entgehen. Ich wäre ein Idiot, wenn ja."
„Der bist du auch schon so."
„Na, vielen Dank auch."
„Warum bist du so?" Ich suche seinen Blick. „Dass du Mädchen wie ein Objekt deiner Bedürfnisse behandelst? Hast du das mit deiner Freundin auch so gemacht oder bist du ihr ständig fremdgegangen?"
Die Antwort, die folgt, versetzt mich in unübersehbare Überraschung.
„Was für eine Freundin? Ich hab' noch nie eine Freundin gehabt."
„Schon gehört? Bayern ist ein Land im Land."
„Bitte?"
„Ob du blöd bist, habe ich gefragt."
„Ey, warum bin ich denn wieder blöd?" Ich nähere mich einer gewissen Grenze seiner mentalen Ausdauer.
„Du hast mich gerade angelogen."
„Hä?"
„Du willst mir ernsthaft verkaufen, dass du noch nie eine Freundin gehabt hast?"
Mikołaj seufzt scharf.
„Das hört sich aus meinem Mund verrückt an, is' aber die Wahrheit. Ich habe in meinen neunzehn Jahren nie eine Beziehung geführt." Er sagt das mit so einer Selbstverständlichkeit, dass ich das Ganze lächerlich finde. „Ja, glaub' doch, was du willst. Meine Fresse, ich weiß eh, was richtig ist. Und das ist wahr. Liegt daran, dass ich keinen Bock auf diese Verantwortung habe. Ich müsste ein Stück meiner Freiheit aufgeben und für jemand da sein – krieg' ich bei meinem Glück eh nicht hin. Also lass' ich's lieber, bevor ich 'ne Katastrophe ins Leben rufe."
Und mit eben diesem Typen habe ich mir meine erste Beziehung vorgestellt. Schön, wenn man die Wahrheit schonungslos ins Gesicht geklatscht bekommt.
„Du hast keine Bindungsängste?"
„Nee. Nur keine Lust auf dieses Ausmaß an Verantwortung. Du kannst mir 'n Kaktus anvertrauen, und der wird in einer Woche verrecken. Ich bin nicht nur für Beziehungen geeignet, sondern auch nicht für Pflanzen. Da is' der Daumen mehr als schwarz." Sein Blick wird eindringlich. „So, jetzt weißt du Bescheid. Du kannst gerne diesem Freak Delilah ausrichten, dass ich nicht auf einer Beziehung aus bin. Auch nicht auf Freundschaft Plus. Ich will sie nicht wie eine Klette am Arsch zu hängen haben."
Ich schmunzele.
„Heißt das, du hast keinerlei Interesse an ihr?"
„Seh' ich so aus, als hätte ich an ihr Interesse?" Er steigert sich allmählich in seinen Ärger hinein. Ich finde es lustig.
„Jepp. Du machst auch den Eindruck, als stehen Amélie, Lena, Julia oder Valerie auf deiner Liste."
Mikołaj murrt hörbar.
„Ja, für Sex. Aber nicht für mehr. Sex is' wenigstens unkompliziert. Danach kann ich sie alle abservieren. In sieben von zehn Fällen kommen die eh wieder angerkrochen, weil sie sich nach meiner Nähe sehnen. So lange ... Schluss. Du ziehst wieder ein Gesicht."
„Ich weiß echt nicht, was ich von dir halten soll. Du hast gerade deine Chance bei mir vertan."
„Kann ich es irgendwie wieder ändern?"
„Red' einfach nicht über deine Puppen und über Sex."
Mikołaj neigt sehr leicht den Kopf zur Seite.
„Du fühlst dich dabei nicht wohl, wenn ich es auch nur andeute, oder?"
„Was genau?"
„Du weißt, was ich meine." Keine Reaktion meinerseits. „Du reagierst empfindlich. Kann es sein, dass dir gewisse Erfahrungen fehlen?" Die erste Person, die es nett umschreibt.
„Selbst wenn: Hat dich nichts anzugehen."
„Ah ja, sehr gut zu wissen." Verdammte Scheiße. Diese Aussage ist wie ein gefundenes Fressen für ihn. Jetzt wird er erst recht nicht lockerlassen. Ich beiße mir auf die untere Lippe und werfe einen Blick zu der grün-braunen Baumlandschaft. Ich bin ganz ehrlich: Eigentlich habe ich mir vorgestellt, wie er derjenige ist, der mich in diese neuartige Welt bringt und mich durch sie führt. Mikołaj soll mir all die Erfahrungen schenken, welche mir bisher fehlen. Dieser irre, abstoßend-heiße Pole soll mein erster Freund sein. Niemand sonst. Na ja, nachdem Mikołaj überzeugt gesagt hat, er werde keine Beziehung führen beziehungsweise eingehen, kann ich es so oder so vergessen.
„Wie du meinst." Mir entgeht nicht, wie er mich anschaut. „Hör' auf, mich so blöd anzustarren."
„Weißt du, ich kann's echt nicht verstehen, wie du es sein kannst. Du bist ein verdammt hübsches Mädchen. Hast einen attraktiven Körper, für den dich sehr viele Mädchen sicherlich beneiden, deine Art und Weise sind korrekt und stimmen – du hast im Endeffekt nichts zu verlieren." Ich fange unbewusst an zu lächeln. Sein Kompliment lässt mich nicht kalt. Mikołaj spielt die Chance weiter aus. „Dein Lächeln ist umwerfend, steckt an." Der Ton seiner tiefen Stimme nimmt eine leise und doch sanfte Note an. Und ich Idiot lasse mich von dieser charmanten Art einlullen. „Wie ein Engel, den man auf die Erde gesandt hat, damit er die anderen glücklich machen kann." Er erhebt sich und geht zu mir. Lässt sich neben mir in die Hocke. Die Fingerkuppen der linken Hand wandern behutsam über meinen Handrücken. „Du kannst, wenn du willst."
Meine Wangen glühen. Einerseits ist es mir unangenehm, aber anderseits; mein Herz klopft viel zu schnell. Ein sehr schwaches Zittern ist entstanden. Und irgendwie kann ich nicht wie vorher atmen.
„Was macht dich da so sicher?" Ich zögere nicht. Sehe ihm in die nahezu weißen Augen. Mir ist erst im Nachhinein aufgefallen, dass ich leiser spreche.
„Dein Körper hat's mir verraten." Ist das vielleicht peinlich.
„Ah ja. Ich hinterfrag's am besten nicht." Ich bewege ein wenig die Finger. „Was hast du jetzt vor?"
„Das, was du eigentlich willst, dir aber nicht traust." Er wandert derweil über den Arm hinweg. Manchmal berühren sie den Saum meines Shirts. Jede Stelle, über die die Fingerkuppen hinweg gestrichen sind, prickelt etwas. Als würde ein Schmetterling über die blanke Haut trippeln.
Also noch eindeutiger können die Anspielungen nicht sein.
„Nein." Ich ziehe meinen Arm weg. „Schlag's dir aus dem Kopf."
Mikołaj lässt sich nicht die Enttäuschung oder gar die Frustration anmerken. Er bleibt ruhig und verweilt weiterhin in seiner aktuell eingenommenen Position.
„Und wieso?", will er erfahren. Der Pole richtet sich ein wenig auf und stützt sich auf der Armlehne ab. Ich könnte ihm durch die dunkelblonden Haare streichen.
„Ich will nicht wie ein wertloses Spielzeug behandelt werden."
„Das bist du für mich nicht." Er zuckt ein wenig zusammen, als ich es schließlich doch tue. „Für mich bist du ein einzigartiges Mädchen. Unter uns gesagt: Ich will mich nicht mit deinem Vater anlegen. Der wird mich umbringen."
„Erst nachdem du ihn kennengelernt hast." Sie sind weich.
„Selbst darauf kann ich verzichten."
Ich lächele knapp.
„Tja, fast hättest du es geschafft."
„Weiß ich."
„Gib dir mehr Mühe und überdenk' dein Verhalten. Vielleicht kriegst du 'ne Chance."
„Du bist die erste Person, die mich abgewiesen hat."
„Das Leben ist kein Wunschkonzert."
„Ach, wie schade aber auch." Mikołaj erhebt sich. „Kommst du mit 'rein?"
„Um was zu machen?"
„Zocken? 'Ne Serie anfangen oder 'n Film auf Netflix 'reinziehen?"
„Kein Netflix and chill."
„Och, kurwa. Das kann ich also auch vergessen." Ich verdrehe die Augen. „Wollen wir stattdessen 'ne Runde raus? Spazieren gehen? Wir können auch gerne 'ne kleine Sporteinheit durchziehen. Kein Bettsport. Is' nicht beabsichtigt."
Ich schiebe mich vom Stuhl. Okay, Mikołaj zieht mich herunter. Lächelnd lasse ich mich zu ihm ziehen und schmiege mich an ihn. Der Neunzehnjährige legt einen Arm um mich.
„Und wie gedenkst du, 'ne Runde zu trainieren? Grundsätzlich hab' ich nichts dagegen einzuwenden. Würde mir gerne ein Bild deiner Künste machen. Nur: Ich hab' keine Sachen mit, und ich werde garantiert keine vierzig Minuten nach Hause fahren, nur um Sportsachen zu besorgen."
„Also, du bist fast auf Augenhöhe mit mir, bist kräftig gebaut ... Du kannst welche von mir haben. Sportsachen hab' ich genug. Die würden dir problemlos passen."
„Du meinst es ernst."
„Sonst hätte ich es nicht gesagt." Wir schaffen es irgendwie, uns gemeinsam ins Wohnzimmer zu quetschen.
„Na ja, bei dir weiß man es nie." Sein mürrisches Räuspern lässt mich amüsiert schnauben. „Und was ist mit den restlichen Klamotten? Ich werde mir definitiv nicht meine vollgeschwitzte Klamotte ein zweites Mal anziehen."
„Ich hab' sogar ein paar BHs und so hier." Ich starre ihn an. „Nee, das ist keine Siegerprämie. Die sind von meiner Cousine. Der Bruder meiner Mutter lebt drüben in Spandau. Da meine Cousine ziemlich oft bei Oliver übernachtet, hat sie eben ein paar ihrer Kleidungsstücke hiergelassen. Sie ist dreizehn. So in etwa kommt sie mit dir hin, was Brustumfang angeht." Ich finde es unglaublich, mit was für einer Leichtigkeit er diese Sätze heraushaut. „Die kommt morgen Nachmittag vorbei. Früher Schulschluss. Was richtig gruselig ist; die hat irgendwie meine Nummer herausgefunden. Manchmal hab' ich das Gefühl, dass sie mich etwas zu sehr ... vergöttert. Keine Ahnung, wie ich's sonst nennen soll."
„Ah ja", gebe ich langsam von mir und betrete mit ihm die vorübergehende Übernachtungsmöglichkeit. Mikołaj lässt mich los und geht zu einem bestimmten Schrank. „Was macht sie denn genau?"
Er seufzt genervt.
„Mir auf die Eier gehen", antwortet er, „da kommen jeden Tag sinnlose Nachrichten. Vor allem diese Scheißsmileys nerven. Ich denk' oft, dass die mehr in mir sieht. Das macht mir Angst, wenn man bedenkt, dass diese Hexe meine Familie ist. Zwar nicht ersten Grades, aber trotzdem Familie." Er deutet in den Schrank. „Hier. Ich hab' keine Ahnung, was du für eine exakte Größe hast. Hab's nur abgeschätzt. Guck' am besten selbst nach."
„Hast du 'n Foto von ihr?"
„Kann ich dir gerne zeigen. Aber erschreck' dich nicht." Der Neunzehnjährige sammelt das Handy vom Nachttisch. „Halleluja, was habe ich gesagt? Sie nervt. Da, schon wieder Herzen über Herzen." Er setzt sich auf das Bett. „Oliver is' so'n verdammtes Arschloch. Er hat ihr erzählt, dass ich einen RS sieben fahre. Sie fragt mich gerade, ob ich sie morgen abholen könnte."
Ich nehme unschlüssig einige BHs heraus. Ein paar sind speziell für den Sport gedacht, andere pushen, wenige sind normal. Grundsätzlich stört es mich nicht, dass ich die Unterwäsche anderer trage; Elise und ich tun es immerhin ziemlich oft.
„Ich würd' aus reinem Prinzip zustimmen." Etwas Schlichtes müsste genügen, und dieser BH fühlt sich nicht an, als würde er pushen. Weiß mit schwarzen Punkten. „Komm', mach's doch, das wird witzig werden."
„Unter einer Bedingung. Du kommst mit. Allein tu' ich mir diesen Scheiß nicht an." Ich schätze, ich habe meine vorherige Wahl. „Ich dreh' durch und fahr' den Audi in 'n Baum oder so." Ich sehe auf sein Handy. „Hier, das ist sie. Sophie heißt sie."
„Also so schlecht sieht sie für ihr Alter nicht aus." Ich lache für einige Sekunden, als Mikołaj mir einen vernichtenden Blick zuwirft. „Doch, ich find', dass sie hübsch aussieht. Würde man locker älter schätzen."
„Ja, wer auch ordentlich nachhilft, schafft's ohne Probleme." Sie hat glatte braune Haare, die sie zu einem hohen Zopf gefasst hat. Diesen wiederum hat sie geflochten. Der gerade Pony lässt ihr Gesicht schmaler erscheinen. Sie hat auch blaue Augen, nur sind die keineswegs so weiß wie bei Mikołaj. „Und? Hast du etwas Passendes gefunden?"
Ich beschließe, nicht weiter darauf einzugehen.
„'Was Einfaches", antworte ich und sehe zu einer seiner Taschen, die er vor einem Schrank abgestellt hat. Mikołaj hat zu ihr gedeutet. „Deine Sportklamotten?"
„Ich hab' keine Lust gehabt, die in den Schrank zu sortieren. Du kannst ruhig nachsehen, was dir passt." Der Pole seufzt. „Die braucht definitiv Hilfe." Er widmet sich der Konversation mit seiner Cousine. Ich sinke unterdessen in die Hocke und beginne, nach ansprechender Kleidung zu suchen. Wie ich es mir gedacht habe, ist der Großteil von Adidas. Entweder weiß, schwarz, blau oder sogar rot – ich entscheide mich für eine dunkelblaue Shorts und ein schwarzes Shirt. „Ich hab' sie 'mal gefragt, ob sie 'nen Freund hätte. Hätte ich 'mal lieber nicht tun sollen."
„Tja." Ich grinse etwas. „Ich jedenfalls hab' ein paar Sachen." Mikołaj sieht sofort auf und legt das Smartphone weg.
„Ich pack' ein paar Sachen zusammen. Danach können wir auch gleich los. Andrzej freut sich bestimmt, dich zu sehen. Er bevorzugt Leute, die schon 'was aufm Kasten haben." Und schon ist der Pole aus dem Zimmer verschwunden. Ich sehe ihm amüsiert nach. Seine zeitlich begrenzte Abwesenheit nutze ich fürs Umziehen. Ich lasse mir keine Zeit; wer weiß, ob Mikołaj nicht ohne Vorankündigung ins Zimmer kommt. Die schwarz-weiße Unterwäsche liegt auf dem Bett. Ich streife mir das Shirt über. Zupfe an dem oberen Kleidungsstück. Das ist mir zwar etwas groß, jedoch passt die Hose perfekt. „Jepp, find' ich sehr gut." Ich blinzele und richte die Augen zu ihm. „Hab' Duschsachen, Wasserflaschen und Schlappen eingepackt. Wirst du brauchen. Ach und: Brauchst du Bandagen oder trainierst du ohne? Du trainierst nicht selten mit Beine."
„Du kannst sie gerne dazu packen. Lieber haben als brauchen." Ich füge etwas interessiert hinzu: „Wer ist dieser Andrzej? Ein Freund von dir?"
„Nicht von mir, sondern meines Vaters. Ist vor zwanzig Jahren ein Läufer deines Vaters gewesen, bevor er beschlossen hat, unbemerkt aus der Gang zu fliehen. Hat seinen Tod vorgetäuscht. Aufwendiger, als man denkt. Er hat mit meinem Vater gleichzeitig angefangen zu kämpfen. Theoretisch kann man sagen, dass man es mit einem Ableger von ihm zu tun hat, wenn man mit Andrzej trainiert."
„Ohne Scherz. Jetzt freue ich mich schon so'n bisschen auf das Training." Ich folge ihm nach draußen, nachdem er die Klamotten in der Tasche verstaut hat. „Ist er auf dem Gebiet des Kickboxens tätig?"
„Kannst du auch. Ich warne dich vor: Es wird scheiße anstrengend. Der macht mich körperlich fertig." Es soll heute nicht so warm sein wie gestern. Allerdings verzichte ich auf eine Jacke. „Nicht nur, sonst wär's auch etwas unvorteilhaft für dich. Karate und Ringen beherrscht er auch. Is' 'ne Maschine."
„Kann es irgendwie sein, dass gefühlt jeder Osteuropäer so'n halber Schlägertyp ist?" Mikołaj unterdrückt sein Gelächter, und wir verlassen die Wohnung, nachdem der Neunzehnjährige das Vorhandensein der wichtigen Habseligkeiten überprüft hat.
„Nee, das sind eher die Südländer, die sich für 'was Besseres halten. Aber bei denen ist das so, dass die meistens nur 'ne große Fresse haben und es lieben, aufzumucken und andere einzuschüchtern." Es ist kurz vor Mittag. Erstaunlich, wie schnell die Zeit vergeht. „Das Gute bei Andrzej ist, dass er verdammt unkompliziert ist. Er trainiert auch andere, aber wenn beispielsweise ich oder Martin zu ihm kommen, ist einer seiner Lieblinge, dann schiebt er spezielle Einzelstunden ein. Wir beide können jederzeit zu ihm kommen." Er hält mir unten die Tür auf. „Du musst ihm nur beweisen, was du kannst, dann hast du dich bei ihm beliebt gemacht."
„Wir werden sehen." Selbst Mikołaj hat sich umgezogen. Die schwarze Hose ist geblieben, nur das Oberteil hat er gegen ein weißes ausgetauscht. „Trotzdem ist die Vorfreude da. Endlich wieder ordentlich trainieren. Bin bestimmt eingerostet." Der braune Corsa steht da nicht mehr.
„Quatsch. Du doch nicht." Der Neunzehnjährige entriegelt den Audi. Ich bin nach wie vor von den Lichtern beeindruckt. „Lass' uns keine Zeit verschwenden. Je eher wir da sind, umso länger können wir dort bleiben."
Andere bleiben zu Hause, machen sich in der Wohnung einen gemeinsamen entspannten Tag. Vielleicht gehen sie nach draußen, um die Sonne zu genießen oder um einfach eine Runde spazieren zu gehen. Tja, und dann kommen wir. Als indirektes erstes Date werden wir zusammen trainieren. Ja, so kann man das auch 'mal machen. Ich beobachte ihn, wie er den schwarzen Panther vom Parkplatz dirigiert. Nichtsdestotrotz freue ich mich schon sehr darauf.
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