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15 - Vertrauen

Tag drei. Das ist das Erste, das mir durch den Kopf gegangen ist, als ich die Augen geöffnet habe. Der dritte Tag, seit ich Mikołaj kenne. Dieses Mal durchströmt keine angenehme Woge meinen Körper. Die Gedanken von gestern Abend beziehungsweise Nacht sind nicht verschwunden – sie zwingen mich, dass ich mich mit ihnen beschäftige. Ein leiser Seufzer verlässt die Kehle, als ich mich auf die Seite drehe. Ich will gar nicht wissen, wie spät es ist. Wahrscheinlich lässt die Pünktlichkeit mächtig zu wünschen übrig. Wenn ich aber ehrlich bin, habe ich mich darauf eingestellt, für den heutigen Tag die Schule ausfallen zu lassen. Es gibt Wichtigeres.

Ich richte mich auf. Schaue zu meinem Handy, das ich an das Kabel angeschlossen habe. Ich habe mit einer Nachricht gerechnet. Es gibt durchaus welche. Obwohl ich mir bewusst bin, dass ich mir zu viele Hoffnungen mache, greife ich nach dem Gerät und entsperre es. Sechs Uhr fünfundfünfzig; ich bin definitiv zu spät dran. Dass mein Vater mich nicht geweckt hat, zeigt mir, dass er sich nicht im Haus aufhält. Meine Mutter muss wohl denken, dass ich längst weg bin. Nur Elise hat mir geschrieben. Ein sanfter Stich lässt mich zusammenfahren. Warum auch immer ich gehofft habe, dass der Neunzehnjährige mir eine Nachricht hat zukommen lassen. Sie will wissen, ob ich heute fahre. Eine knappe Verneinung meinerseits; ich würde nicht kommen. Es gäbe etwas, das ich klären müsse. Ich bräuchte Verständnis von ihr. Eine ausführliche Erklärung folge später. Ich ertappe mich dabei, wie ich zum Chat zwischen mir und Mikołaj wechsele. Vier Uhr drei. Ist er seit diesem Zeitpunkt wach oder so lange wachgeblieben? Das ist ziemlich schwer zu sagen. Ich schreibe nichts. Lege das Gerät wieder auf den Nachttisch. Schiebe mich müde und teilweise ausgelaugt aus dem Bett. Tappe gedankenversunken zum Fenster. Lasse die Sonnenstrahlen ins Zimmer wandern. Ein raues Murren meinerseits, ehe ich beschließe, nach unten zu gehen. Vielleicht ist meine Mutter schon wach. Ich will mit ihr reden. Und nebenbei hoffen, dass mein Vater nicht anwesend ist – er muss nicht unbedingt mitschneiden, dass ich mit meiner Mutter über Mikołaj reden will.

Aus dem großen Schlafzimmer meiner Eltern tanzen Sonnenstrahlen über den Boden. Sie sind also beide wach. Ich blinzele langsam. Zupfe das vermeintliche Nachthemd zurecht und gehe gemächlichen Schrittes die Treppe herunter. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass sich die rechte Hand ein wenig auf dem glatten Geländer verkrampft hat. Ich brauche keine Sorgen zu hegen; es gibt viele Gespräche, die nur zwischen mir und meiner Mutter geführt worden sind. Ein paar Mal habe ich mitbekommen, wie mein Vater versucht hat, nachzuhaken. Keine Chance. Meine Mutter hat ihm lächelnd aber auch bestimmt zu verstehen gegeben, dass ihm diese Themen nichts angingen.

Ich spähe in die Küche, ehe ich durch den stilvollen Bogen schreite. Ein köstlicher Duft schwebt durch den Raum. Auf dem Tisch liegen zwei dicke Ordner. Davor ein sauberer Stapel Papiere mit Skizzen und Fotografien. Ich entdecke meine Mutter, die soeben die Tasse mit heißem Wasser auffüllen will. Ich hadere zunächst mit mir. Jetzt könnte ich einen Rückzieher machen. Durchatmen. Ruhig bleiben. Es gibt nichts, wovor ich mich fürchten muss. Ich beobachte sie, während ich mich ein wenig an den Stein des Bogens lehne. Sie hat ihre langen braunen Haare zu einem schnellen Dutt zusammengefasst. Einige Strähnchen scheinen dagegen zu protestieren, indem sie abstehen. Ihr schmächtiger Oberkörper wird von einem Shirt meines Vaters verhüllt, und über die langen garzellenartigen Beine hat sie schwarze Leggins gestreift. Würde man meine Mutter sehen, würde niemand auf die Idee kommen, dass sie zweiundvierzig ist. Die Blüte der Jugend scheint nie verwelkt zu sein; es kommt oft vor, dass sie, sobald wir in Berlin durch die Straßen schlendern, von Passanten angesprochen wird. Man dreht sich häufig nach ihr um. Nicht, weil sie mit meinem Vater verheiratet ist, sondern weil sie umwerfend aussieht.

„Guten Morgen, Kleines." Jetzt hat sie mich entdeckt. „Ich dachte, du seist schon los?" Ihre dunkelgrünen Augen richten sich zu der Uhr. „Du bist ziemlich spät dran." Kein Vorwurf. Nur eine bloße Feststellung einer Tatsache. Ich stoße mich vom Bogen ab und gehe zu ihr. Überlege nicht länger und umarme sie. Ein kleines Lächeln hat sich auf ihre wohlgeformten Lippen gesetzt, als sie die Geste erwidert. „Lass' mich raten: Da ist etwas passiert, über das du reden möchtest?"

Ich lasse sie zwar los, dennoch bleibe ich an meiner Mutter geschmiegt. Sie ist nur ein halber Kopf kleiner als mein Vater.

„Papa ist rein zufällig nicht hier?" Ich mustere den Tisch mit den Ordnern. „Wie ist eigentlich Paris gewesen?" Ich seufze erneut. „Eigentlich schon, ja."

„Nein. Ist seit viertel sechs nicht mehr hier. Hat gemeint, er müsste nach Leipzig." Sie fährt mit der rechten Hand durch mein zerzaustes Haar. „Sehr schön. Es hat alles geklappt. Sie haben mich angenommen. Waren wohl sehr von meiner Art überzeugt. So zumindest hat es mir mein Agent erzählt." Ein Hauch Ernst ummantelt die sanfte Stimme. „Und Papa soll davon nichts mitbekommen, weil es vermutlich um einen Jungen geht?" Meine Mutter schiebt mich behutsam zu einem der Hocker. Ich nehme wortlos auf einem Platz. „Also habe ich es richtig verstanden."

Eine schwache Welle der Erleichterung rollt durch mein Bewusstsein. Ich spiele an einem Ordner herum. Meine Mutter stellt die halbvolle Kaffeetasse auf dem Tisch ab, ehe sie mich fragt, ob ich einen Tee will. Ich nicke bloß. Dann sortiere ich meine Worte. Überlege, wie ich sie am ehesten formulieren kann.

„Weißt du, ich finde es ... blöd, dass er versucht, mich von Jungs fernzuhalten. So langsam nervt es. Ich bin mittlerweile achtzehn Jahre alt und habe immer noch keinen Freund gehabt." Dort ist sie abgebildet. Eingehüllt in einem eleganten weißen Gewand. „Seit Mikołaj, so heißt er übrigens, neu dazugekommen ist, hat es mit den Streitigkeiten zwischen uns angefangen. Ich habe mehrfach versucht, ihm klarzumachen, dass ich erwachsen bin und eigene Entscheidungen treffen kann und will. Ich will nicht mehr eingeschränkt werden." Meine Mutter nimmt neben mir Platz. Sieht mir ruhig in die Augen. „Ich mache daraus kein Geheimnis: Ja, Mikołaj ist jemand, der von jetzt auf eben ein anderes Mädchen am Start hat. Ich weiß, dass er sie nur fürs Eine ... benutzt. Allein schon, wie sich das anhört." Ich verziehe das Gesicht. „Aber er sieht nicht schlecht aus. Und ... ja." Da ist sie wieder, diese verhasste Röte. „Ich habe mich in ihn verguckt."

„Du solltest verstehen, dass er Angst hat, dass dich jemand verletzen könnte. Oder gar auf die schiefe Bahn leitet. Er will dich nur vor dem Übel beschützen, weil er nicht will, dass dich jemand negativ verändert." Ich wirke keineswegs überzeugt. „Ich kann dich verstehen, Jess. Meine Mutter hat auch alles versucht, um mich von Jungs oder Männern fernzuhalten. Ich habe mich ständig mit ihr gestritten. Es sind oft Dinge gefallen, die man im Nachhinein bereut hat. Doch ich habe es verstanden und bereue es nicht." Ich beende den Blickkontakt. „In deinem Alter will man Vieles ausprobieren und neue Grenzen kennenlernen. Vielleicht alte überschreiten. Es ist nicht schlimm, denn so fängst du an, über dich hinauszuwachsen. Nur ... Wir können nicht sehen, was genau passiert. Als Elternteil geht man zu oft vom Schlimmsten aus." Sie nimmt einen Schluck Kaffee. „Er will dich nicht verlieren oder dir zusehen müssen, wie du dich veränderst. Ins Negative." Kein Wort von mir. „Mikołaj also?" Nichts. „Der Name sagt mir etwas." Ich höre genauer hin. „Ein typischer Macho?"

„Vielleicht", gebe ich leise zurück. „Aber es nervt. Ich hoffe, dass er es irgendwann lernt. Ich kann und werde nicht auf ewig das kleine Mädchen bleiben und sein." Ich bitte meine Mutter, mir ihr Handy auszuhändigen. „Warte, ich zeige ihn dir. Dann kannst du dir ein Urteil über ihn bilden." Meine Mutter ist auf etlichen Internetplattformen angemeldet. Selbst ihre Fans oder Vertragspartner glauben nicht, dass sie keine junge dreißig mehr ist. „Er hier." Ich drehe das Handy zu ihr, nachdem meine Mutter sich zu mir gebeugt hat. „Er ist seit Montag ein Austauschschüler. Kommt aus Polen." Ich löse meine Finger vom Handy, damit meine Mutter es nehmen kann. „Papa ist überhaupt nicht begeistert. Ich dachte, er würde keine große Sache daraus machen; immerhin ist Mikołaj ein normaler Junge. Aber als er mir dann gesagt hat, dass er der Sohn von ... Jakub sein soll, habe ich kurz Angst gehabt."

„Ach, deshalb erkenne ich ihn wieder. Er hat die Augen von ihm. Sieht ihm sehr ähnlich." Er hat etwas in die Story hochgeladen. „Es wundert mich nicht, dass du dich in ihn verguckt hast." Ihr Lächeln hat etwas Beruhigendes an sich.

„Du ... findest es also nicht schlimm oder so, dass er sozusagen mein Favorit ist?"

„Warum sollte ich es schlimm finden? Er ist immerhin ein hübscher Kerl. Würde gut zu dir passen."

Verlegenheit macht sich in mir breit.

„Nun ja. Er ist ... Weißt du doch. Jakub und Papa ..."

„Das sollte dich und Mikołaj nicht interessieren." Sie legt die rechte Hand auf meine. Streicht behutsam über den Handrücken. „Ihr habt mit dieser speziellen Art von Feindschaft nichts zu tun. Zumal wegen des Fakts, dass ihr vier völlig unterschiedlichen Generationen angehört." Sie hört nicht auf. „Habt ihr schon miteinander geredet? Euch schon getroffen?"

„Genau das habe ich Papa versucht klarzumachen, aber er will es nicht einsehen. Er wird nur wütend darüber. Und ich will nicht, dass er das ist." Elise müsste inzwischen auf dem Weg zur Schule sein. „Klar, ich kann es verstehen, dass er die Sorge hat, Mikołaj würde mich ausnutzen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich diese Angst auch." Ich schweige für einige Sekunden. „Sowohl als auch. Gleich am ersten Tag. Ich bin echt hin und weg von seinem Auto und den Augen gewesen. Er ist mit dem RS sieben seiner Mutter zur Schule gekommen. Hört sich nicht nur gut an, auch die Mitfahrt ist unglaublich." Ein leises Gelächter. „Ich habe mich gestern zum zweiten Mal mit ihm getroffen. Papa hat nichts gewusst. Mikołaj hat mich gestern abgeholt. So hat es sich ergeben. „Nur ..." Die Stimmung ändert sich. Der Ton rutscht in die Tiefe, der Blick wird ein wenig gesenkt. „Es ist nicht mehr so schön gewesen. Abends hin. Er hat etwas zu viel getrunken. Ich wollte gehen, weil ich mich nachher unwohl gefühlt habe. Er ist manchmal echt nahe gekommen." Ich steuere zügig eine Ergänzung bei: „Er hat nicht versucht, mich zu küssen oder so. Wurde nur anhänglich und ... Ich ... Mir ging es etwas zu schnell." Ein paar Bilder blitzen in meinem Kopf auf. Wortfetzen kommen und gehen. „Bevor ich gegangen bin, hat er noch gesagt, dass er sich mehr erhofft hätte."

„Es ist nicht schlimm, dass du nicht darauf eingegangen bist. Fühlst du dich nicht wohl, dann lass' es einfach sein. Es bringt nichts, sich dazu zu zwingen. Am Ende wird es ganz schlimm." Die Tasse ist fast leer. „Was denkst du, hat er damit gemeint?"

Tatsächlich bin ich mir darüber unsicher. Gestern noch habe ich mich an einer bestimmten Sache festgeklammert. Aber jetzt, wo ich erneut darüber nachdenke ...

„Weiß ich nicht", gestehe ich, „das kann wieder alles bedeuten. Nach Sex hat er sich nicht angehört. Da hätte eine Menge gefehlt." Die Gedanken sind ziemlich durcheinander. „Sollte ich dranbleiben? Ich weiß wirklich nicht mehr weiter."

„Solltest du, aber mit einem gesunden Maß an Misstrauen. Denn wenn er ein Macho ein soll, – du kannst es immerhin am ehesten einschätzen – solltest du vorsichtig sein und die Dinge erst recht langsam angehen. Falls er ernsthaftes Interesse an dir hat, wird es für ihn kein Problem sein, und er wird mit viel Geduld darauf eingehen." Sie lächelt etwas. „Es wird Zeit, dass du diese Erfahrungen sammelst. Du bist nämlich alt genug. Wie du gesagt hast, und ich stimme dir in dem Punkt voll und ganz zu: Du bist in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen, weil du erwachsen bist."

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viel du mir von der Last abgenommen hast, die ich seit gestern mit mir herumschleppe." Ich bin fähig, ihr Lächeln zu erwidern. „Danke, Mama."

„Dafür brauchst du nicht zu bedanken", entgegnet sie liebevollen Tons. „Es ist für mich eine Selbstverständlichkeit."

„Da gibt es allerdings noch eine kleine Frage, bevor ich essen will ... Okay, eigentlich zwei."

„Ich höre."

„Darf ich für heute zu Hause bleiben?"

Sie lacht kurzzeitig.

„Ich sage Bescheid, dass du starke Bauchschmerzen hast, die Übelkeiten hervorrufen."

Ich könnte vor Freude ein Dreieck in die Luft springen.

„Und die zweite: Wie hast du eigentlich Papa kennengelernt?"

Ein schalkhafter Funke schimmert in den Augen.

„Gegenfrage: Aus welchem Grund möchtest du das wissen?" Sie erhebt sich, um mir Frühstück zu machen.

„Weil Papa nie etwas erzählt hat. Na gut, es liegt auch daran, dass ich ... Ich oute mich: Ich habe gestern mit Mikołaj einige Gerichtsverhandlungstage von ihm und Jakub angesehen. Das ist übrigens der Anlass gewesen zu trinken. Mikołaj hat es nicht gut aufgenommen, als ihm klargeworden ist, was für ein Mensch sein Vater früher gewesen ist."

„Früher oder später wärst du so oder so dahintergekommen. Ich bin von Anfang an dagegen gewesen, ein Geheimnis aus seiner Vergangenheit zu machen." Die heitere Note ist ein wenig abgeklungen. „Zumal du nun alt genug bist, um es zu verstehen." Sie stellt einen Teller vor mir, neben eine kleine Schale. Ich schiebe die Dokumente und Unterlagen ein wenig fort. „Es überrascht dich bestimmt nicht, dass Papa die Drogengeschäfte seit einigen Jahren wieder aufgenommen hat und das Einflussgebiet nach und nach erweitert?"

„Erklärt zumindest, warum er viel öfter außer Haus ist. Und diese komischen Leute drüben bei der stillgelegten Fabrik. Ich hab's nur zufällig gesehen, als ich von Elise gekommen bin. Ich habe echt angenommen, einer von diesen Gruseltypen würde mir ins Auto schießen." Ich bleibe zu meiner Verblüffung ruhig.

„Richtig. Oder, warum er nun den Nachfolger des alten Superwagens hat. Sein Statussymbol." Ich murmele einen flüchtigen Dank, nachdem sie mir das Frühstück zubereitet hat. Ich beginne, das Müsli zu verspeisen. „Du wirst es mir nicht glauben, aber dein Vater ist auf mich zugekommen." Ich sehe sie erstaunt an. Ihr Lächeln steckt mich an. „Das hättest du nicht gedacht, was? Wer geht schon davon aus?" Meine Mutter stellt die leere Tasse in den Geschirrspüler. „Ganz klassisch auf der Schanze in Hamburg. Da ist vielleicht 'was losgewesen – ich glaube, dort hat man eine Art Viertelfest abgehalten. Jedenfalls war es abends hin besonders witzig."

„Hamburg?"

„Ja. Der Ursprung meiner Karriere. Dort habe ich den ersten Vertrag unterschreiben können. Für diese Agentur bin ich nach wie vor tätig." Ich konzentriere mich wieder aufs Frühstück. „Valentin und Pauline haben mich mitgenommen. Haben gemeint, darauf müsste man anstoßen. Also haben wir uns einen lustigen Abend auf der Schanze gemacht. Mit was weiß ich für Typen gesprochen, gelacht und so weiter." Sie scheint allmählich in den Erinnerungen zu versinken, denn ich habe festgestellt, dass ein Hauch Nostalgie die Stimme untermauert. „Als wäre es gestern gewesen. Ich weiß noch, dass ich etwas Neues zu trinken holen wollte. Valentin hat es ein bisschen übertrieben. Sehr zum Leidwesen von Pauline. Tja, es ist spät gewesen, es sind immer mehr geworden und der Alkohol ist nicht mehr wegzudenken gewesen. Also habe ich gewartet. Manchmal einen Typen abgewiesen, der mit mir sprechen wollte. Betrunkene mögen lustig sein, doch es gibt etliche, die nervig sind."

„Hast du Papa auch abgewiesen?", frage ich amüsiert.

Sie lacht verhalten.

„Wollte ich erst", antwortet meine Mutter belustigt. „Ich bin genervt gewesen. Habe keine Lust mehr gehabt. Jedenfalls: Ich habe versucht, ihm klarzumachen, dass ich kein Interesse hätte, aber dann ... Ich habe trotz der falschen Identität sein wahres Ich erkannt. Ich habe schon vorher eine Menge von ihm gehört. Habe daher ein bestimmtes Bild im Kopf gehabt. Dann ist habe ich meine Meinung geändert; er ist nicht so aufdringlich gewesen, nett und vor allem: Nicht betrunken. Tja, eine knappe Erklärung an Valentin und Pauline, warum ich kurz weggehe. So hat es sich ergeben."

„Hast du ... denn keine Angst gehabt? Jeder, den ich kenne, kriegt schon eine halbe Panikattacke, wenn man auch nur über ihn berichtet."

„Ganz ehrlich: Kein einziges Mal", antwortet sie ehrlich. „Ich habe sehr viel über ihn gehört. Von ihm, seinen Taten. Einfach von allem. Ich habe gedacht: Gut, dann ist es so. Aber wann hat man als Normalsterblicher die einmalige Chance, mit einem Schwerverbrecher zu reden, der geradewegs aus dem Gefängnis ausgebrochen ist? Schlimmer kann es so oder so nicht mehr werden." Ich hebe ein wenig die Augenbrauen. Tue die Antwort mit einem Nicken ab. „Du hättest erleben müssen, wie ... verlegen er gewesen ist. Ist wohl das erste Mal, dass er mit einer völlig fremden Frau gesprochen hat, die nicht in seinen Kreisen verwickelt ist. Ich habe es ziemlich süß gefunden. Das hat mein Bild von ihm völlig verändert. Da habe ich gemerkt, dass er ein anderer Mensch werden will."

„Papa ist ... es peinlich gewesen, mit dir zu reden? Als ob. Das passt überhaupt nicht zu ihm." Wenn ich daran denke, wie er sich jetzt verhält und aufführt. Unvorstellbar.

„So in etwa, ja." Ich sehe mir den goldenen Ehering an ihrem Finger an. Einfach gehalten. Eine Gravur, die jedes Herz erwärmt. „Er hat kaum die richtigen Worte gefunden, mir selten in die Augen geschaut, während wir miteinander gesprochen haben." Sie betrachtet ihn selbst. „Er hat mich angesprochen, weil er mich interessant gefunden hätte. Da habe ich nicht schlecht gestaunt. Wenn man bedenkt: Eine gewöhnliche Frau, die unter teilweise sehr attraktiven Damen untergeht. Du solltest wissen, dass ich mich für diesen Abend für eine ... sagen wir, sehr bequeme Garderobe entschieden habe." Das heißt auf Deutsch: Sehr dezentes Make-up, zerzauste Haare, Jogginghose, entweder mit oder ohne einer Trainingsjacke. Vielleicht mit einem Pullover oder einem sicherlich großen Shirt. Vielleicht mit Schlappen oder Sneakers. Bei solchen Sachen ist meine Mutter sehr unkompliziert.

„Genauer", fordere ich sie schelmisch auf. „Addiletten mit Trainingsanzug?"

„Addiletten nicht, aber den bequemen Trainingsanzug. Die pinke Jacke."

„Kein Wunder, dass du ihm gefallen hast. Du bist bestimmt die Einzige gewesen, die so herumgelaufen ist."

„Ach, selbst für Hamburger Verhältnisse ist dieser Aufzug viel zu unauffällig", meint sie herablassend. „Selbst wenn ich meine knallroten Pumps angezogen hätte; ich wäre nicht aufgefallen." Wir lachen beide. „Jedenfalls: Wir haben viel geredet. Er hat mich mehrfach gefragt, was ich von ihm halte und ob ich Angst hätte. Ich hätte ihm eine Chance gegeben, schließlich verdient sie jeder. Zumal dein Vater keinerlei Anstalten gemacht hat, mich in irgendeiner Weise zu verletzen." Ich höre vollkommen gebannt zu. „Seine Wohnung hättest du sehen müssen: So chaotisch und zugemüllt. Ich habe einen halben Schock bekommen – zu seiner Verteidigung: Ihm hat sie nicht gehört. Soweit ich ihn damals richtig verstanden habe, hat Julien sie besessen."

„Hat Papa dir erzählt, was mit ihm passiert ist? Ich habe ein paar Dinge von Julien gehört. Ihn aber nie gesehen." Auch nicht im Internet. Sämtliche Fotos scheinen sich aufgelöst zu haben.

„Es sollte eigentlich ein Geheimnis bleiben, denn dein Vater hat nicht gewollt, dass man seinen besten Freund so sehr in die Öffentlichkeit zieht." Ich erwidere ihren Blick. Dann seufzt sie für eine Sekunde. „Von mir hast du nichts gehört, okay?"

„Habe ich auch nicht."

„Dein Vater ist aus dem Gefängnis entkommen, weil Julien ihm geholfen hat", erklärt sie, „wie genau sie das angestellt haben, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls ist dieser Versuch nicht lange unentdeckt geblieben. Spätestens als sie haben flüchten wollen, haben zu viele Einsatzkräfte die Verfolgung aufgenommen. Eine Verfolgungsjagd durch halb Berlin. Ein Wagen hat am Ende ihren erwischt. Man hat auf sie geschossen. Erst auf die Reifen. Dann auf Julien. Sie haben ihn erst nicht getroffen. Aber einen Reifen. Julien hat deinen Vater beschützen wollen. Ihm den Rücken freigehalten, damit er fliehen kann. Du weißt sicherlich, dass er und Julien sehr enge Freunde gewesen sind. Man kann schon beinahe sagen: Sie sind wie Brüder gewesen. Julien ist aufgrund eines gezielten Schusses in den Oberschenkel verblutet." Irgendwie ist mir der Appetit vergangen, allerdings bewege ich mich dazu, die Brötchen anzurühren. „Er kann den Tod nach wie vor nicht verarbeiten."

„Ist irgendwie verständlich", murmele ich und mustere den Teller. Anschließend die leere Schale. „Wer könnte das schon?"

„Niemand. Nicht ohne Hilfe. Und da ist er mir dankbar, dass ich ihm helfe. Auch dass du ihm hilfst."

Verständnislosigkeit spiegelt sich im Gesicht wider.

„Wie helfe ich ihm denn? Ich kriege ja nicht einmal mit, wenn er ‚trauert'. Außerdem verursache ich gerade weitere Probleme."

„Tust du nicht. Du wirst nur erwachsen, und dein Vater kann es nicht wirklich wahrhaben und es akzeptieren. Das ist völlig normal." Ihr Handy klingelt, und meine Mutter wirft einen flüchtigen Blick auf das Display. Zuckt mit den Schultern und schaltet es in den stummen Modus um. „Du hilfst ihm mit deiner Anwesenheit. Ihm reicht es aus, wenn er dich sehen kann."

Einige Falten bilden sich auf der Stirn.

„Ah ja", sage ich langsam. „Du weißt es eh am besten." Ich sollte nach Mikołaj schauen. Mich vergewissern, dass es ihm gut geht und er keinen Mist angestellt hat. „Mama? Fändest du es schlimm, wenn ich nachher zu Mikołaj fahre? Meine Sachen ... liegen noch im Kofferraum seines Wagens. Die müsste ich holen."

Das Gesagte muss ich erst einmal sacken lassen. Ihre Schilderungen werfen nach und nach ein anderes Licht auf meinen Vater. So langsam fange ich an, auch die letzten Zweifel bezüglich seiner strengen Maßnahmen zu beseitigen. Er will mich nur beschützen und sicherstellen, dass mir nichts Schlimmes widerfährt. Trotzdem ist es blöd. Ich will auch gern erwachsen werden.

„Wenn du mir versprichst, noch am Nachmittag nach Hause zu kommen, dann nicht." Ich nicke knapp. „Es geht nämlich um deinen Vater. Er hat mir geschrieben, dass er gegen vier zu Hause sein will."

„Ist okay." Ich verspeise die beiden Brötchen. Fühle mich für den kommenden Vormittag gestärkt. „Mit welchem Auto ist Papa unterwegs?" Es kommt nicht gerade selten vor, dass er ohne Vorankündigung meinen nimmt. Einmal habe ich deshalb die ersten beiden Stunden verpasst.

„Mit meinem", folgt die Antwort und nimmt mir den Teller ab.

„Was für ein Wunder; er hat 'mal nicht meinen genommen", gebe ich trocken von mir. „Ich gehe schnell nach oben. Mich fertig machen."

„Kein Stress, Kleines", ruft sie mir schmunzelnd nach und räumt die restlichen Lebensmittel weg. Ich höre nicht mehr weiter hin, sondern suche mein Zimmer auf. Es steht für mich fest: Ich werde nachher zu Mikołaj fahren, um nach ihn zu sehen. Soll er ruhig denken, was er will; er hat gestern keinen guten Eindruck gemacht, was seinen Zustand betrifft.

Ich schließe hinter mir die Tür. Was für heute angemessen wäre? Ich überlege. Schweife unbewusst zu gestern ab. Er erhoffe sich mehr. Ein Satz, den man beliebig oft verstehen kann. Den kann man aus so vielen Winkeln betrachten, dass einem schwindelig wird. Sollte er das gemeint haben, woran ich gerade denke, könnte ich mich in meine bequemste Kleidung werfen. Genau das tue ich nun. Die schwarze Jogginghose, dazu das blaue T-Shirt, das allein schon von den Ärmeln her bis zu den Ellenbögen reicht. Ich fühle mich, als würde ich in einen typischen Sonntag hineinleben. Ein kurzer Blick in den Spiegel genügt, um für mich zu bestätigen, dass meine Figur in der heutigen Auswahl untergeht. Nachdem ich die restlichen morgendlichen Routinen erledigt habe, nehme ich auf meinem Bett Platz und befreie das Handy vom Ladekabel. Die meisten Nachrichten kommen aus der Klassengruppe. Der Funken Empörung, der anfangs nur schwach geschimmert hat, fängt an, wie ein kleines Feuer zu lodern, als ich die ersten Nachrichten lese. Sie handeln von mir und Mikołaj. Dass wir beide zeitgleich fehlen, sei kein Zufall. Die meisten Mädchen sind natürlich nicht begeistert; wenn Delilah mir schreibt, bedeutet dies nie etwas Gutes. Ein paar lassen anzügliche oder gar spitzzüngige Kommentare los. Ich murre leise und beschließe, die Gruppe stummzuschalten. Delilah wird ignoriert.

Ich hege Hoffnung, dass Mikołaj wach ist. Immerhin um sieben Uhr zehn. Als ich unten gewesen bin. Also habe ich ihn sozusagen verpasst, denn auf meine Frage, wie es ihm gehe, reagiert er nicht. Da wird sich einer sicherlich freuen, wenn ich ihm einen Besuch abstatten werde.

Er hat ungelogen die komplette Flasche leergetrunken und dazu zwei Bier, wobei er eins nicht mehr geschafft hat. Dass der Junge sich keine Alkoholvergiftung geholt hat, wundert mich sehr. Ich verziehe sehr leicht den Mund. Vielleicht wäre es besser, jetzt schon zu ihm zu fahren. Er ist wach, sonst hätte er nicht die Nachrichten gelesen. Ich klettere vom Bett herunter. Sammele Handy und Portemonnaie ein und begebe mich zur Treppe. Sollen sie ruhig reden; mir ist es egal. Ich weiß, was richtig und was falsch ist. Niemand braucht die Wahrheit zu erfahren. Ich schlendere die Treppe herunter. Mikołaj braucht jemanden, weil es ihm schlecht geht. Ich kann mir gut vorstellen, dass die anderen seinen aktuellen Zustand nicht einmal kennen, trotz der Tatsache, dass er ihn indirekt veröffentlicht hat.

„Fährst du jetzt schon los?", will meine Mutter wissen, als ich nach den Schlüsseln suche. Ich glaube, ich ziehe mir eine dünne Jacke über.

„Je früher, desto besser", gebe ich zurück und stopfe die Sachen in die Jackentaschen. „Ihm geht es gerade nicht so gut, weißt du?" Ich drehe mich zu ihr um. „Ich werde bis zwei wegbleiben. Lange werde ich hoffentlich nicht brauchen." Erwidere ihre flüchtige Umarmung, ehe ich anschließend feststelle, wie meine Mutter mir behutsam den Zopf löst, sodass die Haare lautlos auf die Schultern fallen. „Sieht's so besser aus?"

„Dann ist es umso wichtiger, dass du jetzt für ihn da bist. Er wird es dir dankbar sein." Sie wickelt ihn um ihr dünnes Handgelenk. „Viel besser. Sieht nicht unordentlich aus." Ein Lächeln entsteht. „Nasse Haare solltest du außerdem nicht zu einem Zopf binden – sie könnten abbrechen."

„Gut, daran habe ich nicht gedacht." Ich streiche die Haare nach hinten. „Danke."

„Nicht dafür, meine Kleine." Meine Mutter tritt einen Schritt nach hinten. „Erzähl' mir nachher, wie es gewesen ist."

„Werde ich." Ich gehe zu der Tür. Lasse den Autoschlüssel um den linken Zeigefinger baumeln, während ich in den recht kühlen Morgen schreite. „Tschüss." Sie steht im Türrahmen und wartet, bis ich eingestiegen bin. Ich betätige einen Knopf, sodass mein Wagen sich entriegelt. Kann es mir nicht verkneifen, zu dem blau-schwarzen Ungetüm zu schauen, welches unter dem Carport steht und nur darauf wartet, auf die Straßen losgelassen zu werden. Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, mit dem wilden Tier zu fahren. All die Kraft zu entfesseln, die in ihm schlummert. Autobahnfahrten machen sicherlich verdammt Spaß. Nur blöd, dass mein Vater es mir nicht erlaubt. Da kann ich noch so oft fragen und Gründe aufführen, warum er mich ans Steuer lassen soll: Mit meinen zwei Jahren Fahrerfahrung sei ich noch viel zu unerfahren und könnte die ungeheuerliche Kraft von tausendfünfhundert PS nicht bändigen.

Tausendfünfhundert PS. Kaum zu glauben, dass ein Auto so viele PS unter der Haube hat. Ich steige ein und sehe zu meiner Mutter. Winke ihr zu, was sie ebenfalls tut. Jetzt bin ich sehr gespannt, was mich erwarten wird. Oder ob er mich überhaupt in die Wohnung lässt. Wie es ihm gerade geht? Vermutlich sehr beschissen.

-

Acht Uhr fünfunddreißig. Der Audi steht da, wo Mikołaj ihn gestern geparkt hat. Ein Hauch Erleichterung füllt mich aus. Wenigstens hat er es in seinem besorgniserregenden Zustand unterlassen, mit dem Wagen zu fahren. Ich steige aus. Beschließe, den Audi genauer unter die Lupe zu nehmen. Die anfänglichen Sonnenstrahlen fahren geräuschlos über den schimmernden Lack. Ich kann mich selbst erkennen. Wenn meine Haare anfangen zu trocknen, sehen sie sehr verstrubbelt aus. So auch jetzt. Hinter dem schmalen Spoiler bleibe ich stehen und streiche mit einem Finger darüber. Soweit ich weiß, verfügt er bauartbedingt sechshundert PS. Ich gehe davon aus, dass er aufbereitet worden ist – Jakub hat die Finger nicht von ihm lassen können. Wenn man schon den eigenen Wagen um über fünfhundert PS steigert, dann tut man Gleiches mit dem Fahrzeug der Ehefrau.

Ich wende mich von dem schlafenden Panther ab und husche eilig zu der Haustür. Neben dem Audi steht ein brauner Corsa mit dem Kürzel B-OB-1902. Der muss wohl Oliver gehören, und er hält sich anscheinend mit in der Wohnung auf. Ich atme tonlos aus und drücke die Klingel. Warte geduldig, wenn auch mit einem Anflug von Nervosität. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie Mikołaj auf mich reagieren wird. Ob er sich freuen oder mich ohne Punkt und Komma vor der Tür stehen lassen wird? Noch ehe ich richtig darüber nachdenken kann, ertönt die grundsätzlich unbeschwerte Stimme von Oliver.

„Ja, bitte?"

„Oliver? Ich bin's, Jess. Darf ich nach oben, um mit Mikołaj zu reden?" Warum höre ich mich auf einmal angespannt an?

„Wenn du es schaffst, klar." Der Summer erklingt, und ich husche in den sauberen Hausflur, durch welchen eine vanilleartige Note schwebt. Ich überwinde die restlichen Stufen recht schnell, ohne dabei außer Atem zu geraten. „Hat er dich angeschrieben, dass du vorbeikommen sollst?" Oliver ist schlank und vom leichten Sport geprägt. Warum aber das Kreuz unverhältnismäßig breit ist, weiß ich nicht. Er ist bestimmt ein leidenschaftlicher Schwimmer.

„Um ehrlich zu sein, nein. Ich ... bin von mir aus vorbeigekommen." Ich bin vor ihm stehen geblieben und muss den Kopf ein wenig in den Nacken legen, um ihm in die klaren grünen Augen zu sehen.

„Komm erst 'mal 'rein. Man braucht sich nicht zwischen Tür und Angel unterhalten." Er tritt einen Schritt zur Seite, und ich stehle mich an ihm vorbei. „Er hat sich wieder schlafen gelegt. ist vorhin kurz wach geworden." Ich schlüpfe aus den Schuhen, und Oliver schließt die Wohnungstür. „Ich hab' nichts weiter dazu gesagt. Selbst schuld, wenn er meinen muss, sich die Birne zuzulöten." Er sieht kurz zu mir. „Möchtest du irgendetwas trinken? Ich habe gerade Kaffee aufgesetzt."

„Nein, danke, hab' vorhin gefrühstückt", lehne ich höflich ab und sehe zu dem Wohnzimmer. „Wo genau ist er denn?"

Oliver deutet mit einem Kopfnicken zu der Tür rechts neben mir.

„Im Gästezimmer." Neugier bahnt sich in die Stimme. „Darf ich fragen, warum du von dir aus zu uns gefahren bist?"

Ich blinzele langsam.

„Ich mache mir Sorgen um ihn", steuere ich die wahrheitstreue Antwort bei. „Eine Flasche Wodka mit anderthalb Bier? Eigentlich geht solch eine Menge nicht spurlos an einem vorbei. Und ... Ich will mich vergewissern, dass er keine Alkoholvergiftung hat." Natürlich durchschaut er meine Antwort – dafür ist er insbesondere für Vernehmungen geschult worden. Aber zu meinem Glück bohrt er nicht weiter nach.

„Die hat er nicht, sonst könnte er nicht 'mal mehr vernünftig laufen und würde nur am Jammern sein." Eine Andeutung eines Lächelns. „Ich will dich nicht länger aufhalten. Wenn etwas sein sollte: Ich bin in der Küche." Er kehrt mir seinen Rücken zu und sucht die Küche auf.

Ich hebe kurzzeitig die Augenbrauen und hadere mit mir. Was werde ich wohl erwarten? So gesehen kann ich mit allem rechnen. Durchatmen. Innerlich sammeln. Jetzt bin ich hier und kann keinen Rückzieher mehr machen. Nicht, dass ich einen vorgehabt hätte. Meine Hand legt sich um die kühle Klinke und drückt sie herunter. Die Tür gibt ein leises Knarren von sich, und ich betrete das dunkle Zimmer. Na ja, wobei ‚dunkel'; es gibt etliche Stellen, wo sich Sonnenstrahlen durchgezwängt haben und rechteckige Formen an die Wände werfen. Mir fällt auf, dass dieses Zimmer ziemlich klein ist. Zwei große Schritte mal geschätzt sechs – gerade genug Platz für ein Bett, einem relativ großen Schrank und einem Schreibtisch. Es gibt genau ein Fenster. Im schummrigen Licht kann ich Mikołajs Gestalt ein wenig ausmalen. Ich schließe bemüht leise die Tür hinter mir. Was ich zuerst wahrnehme? Die drei Flaschen auf dem Schreibtisch mit der Zigarettenschachtel. Mich beunruhigt diese kleine Tüte mit dem dunklen Zeug. Ich will nicht weiter darüber nachdenken und diesen süßlich-bitteren Geruch aus dem Zimmer vertreiben. Dazu schiebe ich den Vorhang ein wenig beiseite und kippe das Fenster an. Ich höre, wie die Federn rascheln, als der Neunzehnjährige sich umdreht.

Wortlos tappe ich zu dem Bett und lasse mich auf der Bettkante nieder. Mustere Mikołaj, eher seinen muskulösen Rücken. Auch wenn das Licht nicht ausreicht, um die vielen Konturenzu erkennen, kann ich einige, wenn auch vernarbte Blessuren entdecken. Sowohl linienartig als auch in Form von Punkten. Woher diese stammen? Vom Training oder sogar durch Prügeleien? Ich zögere nicht, als ich beschließe, den Polen zu mir zu ziehen. Behutsam und darauf bedacht, ihn nicht zu wecken. Er regt sich, murrt im Schlaf, dennoch lässt er es über sich ergehen. Gedankenversunken streiche ich durch seine Haare. Sie sind etwas verklebt, was mich allerdings nicht stört. Die andere Hand ruht auf seinem oberen Rücken. Gerade jetzt fühle ich mich wohl. Eine eigenartige Ruhe macht sich in mir breit. Das Herz veranstaltet nicht einmal einen Marathon. Ich gehe ganz stark davon aus, dass es nur der Fall ist, weil die Sorgen die Hormone überwiegen. Mir ist es egal, wie lange ich warten muss, bis er aufwacht. Die Zeit habe ich. Und solange ich weiß, dass Mikołaj atmet, ist es mir jede Sekunde wert.

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