14 - Verbundenheit & Ferne
„Halten wir fest: Unsere Väter sind ehemalige Schwerverbrecher, die sich gegenseitig mächtig in die Haare gekriegt haben, nachdem meiner aus dieser ... Gang ausgetreten ist." Um den Schock irgendwie verarbeiten zu können, hat sich Mikołaj ein recht starkes alkoholisches Getränk geholt. Es ist farblos und riecht steril. Wie Desinfektionsmittel. „Er ist über ein Jahrzehnt lang drogenabhängig gewesen, die eine oder andere schwere Straftat begangen." Ein großzügiger Schluck. Besorgnis glitzert in meinen Augen. Man merkt allmählich, dass die Wirkung einsetzt. Er spricht lauter, die Zunge scheint wohl schwerer zu werden. „Und weil die deutschen und andere Behörden ihn immer noch suchen, hat er sich im Ausland abgesetzt." Er hebt ein wenig die Augenbrauen. „Ich bin also das Kind eines Schwerverbrechers, der eine lange Zeit mit einem sehr einflussreichen Drogenhändler zu tun gehabt hat." Und die Flasche ist bis zur Hälfte leer. Mikołaj stellt sie grob auf den Tisch. Ich zucke sehr leicht zusammen. Es ist keine kleine; eine null-Komma-sieben-Flasche. „Und du, Jess. Dein Vater ist ein immer noch aktiver Drogenhändler, der wieder anfängt, den Einflussbereich auszubauen, weil meiner mit seiner Aktion den gesamten Bereich ruiniert hat." Er lehnt sich nach vorn. Starrt irgendeinen Punkt an. „Weißt du, ich komm' irgendwie nicht drauf klar, dass die sich gegenseitig gekennzeichnet haben – die Narben auf der Wange und das Auge. Die werden sich nicht vergessen."
Es ist abends. Eigentlich schon nachts, weil es draußen dunkel ist. Ich habe einen kurzen Blick auf das Handy geworfen – zweiundzwanzig Uhr fünfzig. Es lässt mich gänzlich kalt, obwohl es das nicht tun soll. Immerhin weiß mein Vater nicht, wo ich bin.
„Ich komm' mit dem ganzen Scheiß nicht klar. Damit will ich nichts zu tun haben." Mir ist es nicht sonderlich geheuer, dass Mikołaj plötzlich sehr dicht zu mir gerutscht ist. „Dass mein Vater kein reiner Mensch ist, habe ich schon gewusst. Aber dass er solche ... Scheußlichkeiten begangen hat ... Jetzt weiß ich nicht, was ich noch von ihm halten soll." Es ist auch dem Fakt geschuldet, dass er es mir über all die Jahre verschwiegen hat. Auch dann, als ab und zu mehrere fremde Männer und selten Frauen bei uns in der Straße aufgetaucht sind. Jetzt weiß ich, dass es Käufer oder Kuriere gewesen sind. Ich schlucke den Kloß in der Kehle herunter. Gerade frage ich mich, ob meine Mutter es weiß. Dass mein Vater ein gerissener und vor allem skrupelloser Verbrecher ist, der ausgebrochen ist und sich nun versteckt hält.
„Was soll ich denn sagen?" Der Griff zur Flasche. Ich sollte ihn zügeln. Ihm diese Flasche abnehmen. Jedoch tue ich es nicht. Es ist ein Fehler. „Soll ich vor Freude im Kreis springen, weil ich herausgefunden hab', dass mein Vater zu viele Menschen umgebracht hat? Dass er jahrelang von einer echt fiesen Droge abhängig gewesen ist?" Eins, zwei. Die Flasche bleibt umklammert. Ein blaues Etikett, ein weißer Schriftzug. „Ich find's irre, dass er mir nie etwas davon erzählt hat. Is' ja nicht so, dass ich ja alt genug bin und jetzt mehr Verständnis aufbringen kann. Tja." Schulterzucken. Sie ist bis zur Hälfte geleert worden. Er lallt sehr leicht. „Selbst schuld." Ein leichter Ruck geht durch ihn. Lacht er etwa? „Wenn ich ganz ehrlich bin, hab' ich das Gefühl, dass er immer noch abhängig ist." Ich sehe ihn fragend an. „Der rastet manchmal aus. Einfach so. Ohne Grund. Ich weiß noch, dass ich das geseh'n hab', als ich draußen war. Bei der Garage. Er hat die Reifen wechseln woll'n." Der Ton wird bitter. „Es ist nicht nur beim Anschreien geblieben." Mikołaj betrachtet mich mit seinen trüben Augen. „So is' das eben. Kann man sich nich' aussuchen."
„Sie wollen uns nur Probleme ersparen und haben sicherlich Angst, dass wir sie nicht akzeptieren." Ich spanne mich automatisch an, als er über meinen linken Arm streicht. „Weiß deine Mutter davon?" Oliver ist zwischenzeitlich erschienen. Wir haben uns begrüßt. Ein bisschen geplaudert. Dann hat er gesagt, er würde mit einigen Kollegen weggehen. Mikołaj, zu dem Zeitpunkt klar bei Bewusstsein, hat einen anzüglichen Kommentar angewandt, bei welchem ich die Augen verdreht habe. Wenigstens Oliver hat lachen können.
„Müsste sie. Eigentlich." Er zieht mich unvermittelt an sich. Legt den rechten Arm um mich. Mein Herz macht einen kleinen Sprung. Ein paar Bilder scheinen Wirklichkeit zu werden. Der Mund wird ein wenig trocken. „Sonst hätt' sie ja ihn nicht geheiratet." Mikołaj zupft behutsam am Ärmel des Hemdes. „So kalt is' es hier nich'. Zieh's ruhig aus, sonst schwitzt du es nur durch."
Kein Fordern, kein Drängen. Entweder ist er ein verdammt guter Schauspieler oder er meint es ernst. Unter normalen Umständen wäre ich dem nachgegangen – es ist warm. Immer noch über zwanzig Grad. Auch wenn die Balkontür offensteht, kommt keine kühle Brise. Sie lässt auf sich warten. Ich habe derweil festgestellt, dass die Stirn glüht. Ich will gar nicht wissen, wie klebrig die Haare sind. Wäre da aber nicht die Tatsache, dass der Neunzehnjährige angetrunken ist. Wenigstens überwiegen die Zweifel die Gefühle.
„Passt schon", lehne ich ruhig ab und registriere den leichten stechenden Geruch an ihm. „Was trinkst du da eigentlich?" Ich schüttele seinen Arm von mir und hole die Glasflasche zu mir. Drehe sie, sodass im gedimmten Licht das Etikett erkennbar wird. „Wie zur Hölle kann es sein, dass du trotz der halbvollen Flasche immer noch halbwegs normal bist? Normale Menschen sind locker schon durch." Ich funkele ihn etwas an. „Du scheinst wohl öfter zu trinken, was?"
Der Mist hat knappe achtunddreißig Promille, und Mikołaj hat es getrunken, als wäre es Wasser. Er nimmt sie mir ab. Wieder ein Schluck. Ich seufze.
„Normale Menschen sind auch komische Menschen", meint er schnippisch und grinst schief. Ein paar Haarsträhnen haben sich aus der gepflegten Frisur gelöst und baumeln etwas in seinem Gesicht. „Die meist'n, die danach besoffen in der Ecke liegen, sind eh Westeuropäer oder die dummen Amerikaner, die nichts anderes können, als die Welt ins Chaos zu stürzen und die Bevölkerungen schamlos auszubeuten. Bei uns is' Trinken Standard. Gehört zur Kultur. Man fängt früh an, dann kann man 'ne Menge ab." Das Gesprächsthema verschiebt sich. „Gibt genug Gründe."
„Welche?", frage ich wie von allein nach.
Mein Vorteil ist es, dass Mikołaj aufgrund des bisherig konsumierten Alkohols gesprächsfreudiger ist.
„Fängt schon mit meiner Schule ist." Er verengt sehr leicht die Augen. „Ich komm' in einigen Fächern nich' so gut klar, wie ich's mir vorgestellt hab'. Dann die Sache mit Łukasz, der von allein, selbst von meinen Freunden, gemobbt wird. Du glaubst gar nich', wie oft ich die verprügelt hab'. Zwei Verwarnungen vom Direx innerhalb eines Halbjahres, keine-Ahnung-wie-viele-Suspendierungen, Nachsitzen ... Ich glaub', ich hab' die Liste fast komplett durch. Ach, das Beste war gewesen, als ich mit zwei Freunden etwas Spirytus mit in die Schule genommen hab'. Ey, ich hab' da meinen achtzehnten feiern können. Is' ja wohl 'n Anlass gewes'n. Alles gerechtfertigt." Das Grinsen kehrt zurück. „Ich hab' wohl so'n bisschen zu viel getrunken. Mein Vater is' nicht begeistert gewesen, als er mich abholen musste." Er zuckt mit den Schultern. „Seitdem haben Aleks, Maciej und ich uns jedes Wochenende getroffen, um so'n bisschen 'runterzukommen." Der Neunzehnjährige lacht leise. „Da gibt's die eine oder andere Geschichte, die verdammt komisch ist. Klar, wir haben oft Ärger bekommen. Nicht zuletzt von Polizisten, weil wir besoffen mit dem Auto gefahren sind. Ich nicht, war nur Beifahrer." Er blinzelt langsam. „Alkohol, ein paar Drogen und Zigaretten – früh übt sich."
Damit meint er bestimmt Gras. Ich hoffe inständig, dass er diese Aussage nur darauf bezieht. Ich verändere die Position, rücke ein wenig von ihm weg, um den Abstand wiederherzustellen. Ich will ungern, dass er auf falsche Gedanken kommt. Das wird nicht einfach werden, immerhin schwimmt neben Blut auch Alkohol in den Adern. Er kann nicht immer klare Gedanken fassen. Ich mustere ihn. Eine bis zur Hälfte geleerte Wodkaflasche, die er in der rechten Hand hat. Die Fingerknöchel wölben sich ein wenig sichtbar unter der blassen Haut. Kein Zittern, kein Verkrampfen – nur die Atmung scheint sich verlangsamt zu haben. Die nahezu weißen Augen glitzern nicht mehr wachsam. Sie wirken trüber.
„Ich sollte so langsam gehen", meine ich, als ich die Stille zwischen uns nicht mehr ertragen kann. Dieses Mal fühlt sie sich falsch an. „Mein Vater macht sich bestimmt schon verrückt." Ich kann mich auf Hausarrest einstellen. Auf Ärger. „Also dann ..." Ich bin aufgestanden. Nur Mikołaj hält mich davon ab. Seine rechte Hand, nun frei von der Flasche, umklammert mein schmales Handgelenk. „Du solltest schlafen gehen. Siehst ziemlich fertig aus."
Er lässt sich mit einer Antwort Zeit. Zu viel. Ich verlagere das Gewicht auf das linke Bein und bewege ein wenig den Arm. Will ihm deutlich machen, dass er seine Hand wegnehmen soll. Dass ich gehen will.
„Bleib' noch 'n bisschen", versucht er, mich zum Bleiben zu überreden. „Ich find's schade, wenn du hübsches Mädchen jetzt schon gehst. Die Nacht hat gerade erst angefangen." Meine Wangen werden rot. Ich lächele verlegen. Mikołaj hat es wahrgenommen. „Seit ich dich gestern zum ersten Mal gesehen habe, is' mir klar geworden, dass du ein ziemlich süßes Mädchen bist. Du siehst nich' nur umwerfend aus, ja? Sondern bist auch ziemlich niedlich." Wären da nicht diese irren Hormone, die in diesem Augenblick ein Feuerwerk der Euphorie entzündet haben. „Dein Freund kann sich verdammt glücklich schätzen, dass er dich hat."
Die Antwort ist schneller gekommen, als dass ich sie hätte für mich behalten können.
„Ich habe keinen Freund." Als die Worte in meinem Kopf widerhallen, habe ich mich bereits hingesetzt. Seine Komplimente gehen nicht spurlos an mir vorbei. Gott, ist mir das peinlich. Es ist alles, nur nicht angenehm. Ich fühle mich wie in einer falschen Welt.
„Nich'? Da hab' ich 'was ganz anderes gehört." Leichte Chancen für ihn. Ich weiß, dass es hier falsch ist. Zumal Mikołaj nicht mehr ein klar denkender Herr seiner eigenen Sinne ist. Er fällt zunehmend in sein altes Muster zurück. „Heißt das, ich hab' gute Chancen?" Sein Lächeln kann nicht echt sein. Aber es sieht danach aus. Und es beflügelt mich.
„Wer weiß?" Ich rühre mich nicht vom Fleck, beobachte nur. „Du bist ... selbst kein Schlechter." Ich erwidere den überschatteten Blick. Schweige zunächst. Er oder ich könnte die letzten Zentimeter problemlos überbrücken. So habe ich mir den ersten potenziellen Kuss nicht vorgestellt. „Du bist betrunken."
Mikołaj nimmt meine linke Hand. Wandert mit den Fingerspitzen über den Handrücken. So sanft und langsam, dass ein liebliches Kribbeln entsteht. Ich nehme jede Bewegung intensiv wahr. Konzentriere mich förmlich auf sie.
„Nie, nicht betrunken. Sondern angetrunken", stellt er klar. Immerhin ist dieses eigenartige Grinsen verschwunden. „Da is' ein kleiner Unterschied. Ich kann nämlich ein normales Gespräch führen und kann mich beherrschen. Wär' ich nämlich besoffen, würd' ich auf dem Balkon steh'n und wie ein Verrückter singen und 'rumschreien." Er zeichnet die Sehnen in der Hand nach. „Ich bin kein Schlechter? Aha? Wie kommt's denn zur plötzlichen Veränderung der Sichtweise? Wenn ich dran denke, wie du mich in der Schule betitelt hast ..."
Er weiß es also noch. Mikołaj kann tatsächlich nicht betrunken sein. Weiß er also, was er gerade tut?
Ich ringe mit einer Antwort. Eigentlich brauche ich kein Theater spielen – ich habe ihm einmal, wenn auch indirekt gebeichtet, was ich für ihn empfinde. Im Wagen hat er es nicht sonderlich mitgeschnitten. Es würde nun anders aussehen.
„Na ja, du ... wirkst nicht aufdringlich, mit dir kann man sich normal unterhalten und ... Was willst du denn hören? Guck' nicht so blöd." Die Verlegenheit dominiert meine Stimme. „Okay, okay. Du hast etwas an dir, das ich in Ordnung finde."
„Dass ich in Ordnung finde", wiederholt der Pole amüsiert und lässt meine Hand los. Beinahe bin ich versucht gewesen, nach seiner zu greifen. „Das hab' ich noch nie gehört." Er senkt die Stimme. Legt eine Hand auf meine rechte Wange. Sie ist warm. Nicht ganz so kalt von der Flasche. Er streicht über sie. Es gleicht einem unscheinbaren Flügelschlag eines Schmetterlings, der flüchtig über die Haut gestrichen ist. „Was genau is' das?" Circa drei Handbreit trennen uns noch.
Dieses Gefühl in der Brust ist überwältigend.
Doch dann setzt sich die Vernunft unerwartet durch. Ich werde grob aus der Traumwelt gerissen und unachtsam in die Realität zurückgeschleudert. Ich komme hart auf. Vielleicht bilde ich mir das schwache Pochen im Hinterkopf auch nur ein. Jedenfalls nehme ich Mikołajs Hand von meiner Wange. Erwidere den Blick. Stehe auf.
„Es tut mir leid. Ich muss wirklich los." Es ist so surreal. Verrückt. Unwirklich. Ich überhöre seine Antwort. Der Neunzehnjährige hört sich keineswegs begeistert an. Sogar verärgert. Ich schlüpfe eilig in die Schule. Prüfe, ob ich Schlüssel und Handy bei mir habe. Alles in den Gott sei Dank tiefen Hosentaschen.
„Ey, was soll'n das jetzt? Einfach so geh'n?" Der Neunzehnjährige ist im Türrahmen aufgetaucht. Hat die Arme vor der Brust verschränkt. „Is' schon scheiße von dir." Statt des nebelartigen Schleiers in seinen Augen hat sich Verärgerung breitgemacht. „Machst hier Hoffnung auf mehr und dann is' hier nichts." Er schüttelt den Kopf. „Ihr seid eh alle gleich."
Ich brauche mich nicht zu rechtfertigen, auch wenn ich danach das Bedürfnis habe. Stattdessen drehe ich mich zu Mikołaj um. Wenigstens hat er die Flasche im Wohnzimmer gelassen. Über seine Aussage kann ich mir auch später den Kopf zerbrechen.
„Leg' dich hin und ruh' dich aus. Du hast es ..." Mikołaj verzieht das Gesicht. „Man sieht sich morgen." Ich klemme eine Haarsträhne hinter das Ohr und öffne die Wohnungstür.
„Morgen", murrt er. „Ich komm' morgen nich'." Ich fasse es als einen Bluff auf, wenngleich ich mir innerlich bewusst bin, dass es sich um keinen handelt. „Hau' ab."
Ein fieser Stich, der mich leise nach Luft schnappen lässt. Zweifel wirbeln durch mich, während ich in den dunklen Hausflur trete und die Tür hinter mir zuziehe. Ich habe nichts Falsches getan, das sollte ich nicht vergessen. Ich habe ihm den Grund fürs Gehen genannt. Es geht um meinen Vater und nicht um mich. Ich bin da eher zweitrangig. Na ja, eigentlich bin ich auch nur gegangen, weil ich Angst habe, dass da mehr entsteht. Die Sache ist die: Ich bin nicht bereit, und Mikołaj ist angetrunken. Morgen wird er alles vergessen haben.
Ich gehe langsam nach unten. Vor knapp einer halben Stunde habe ich meinen Vater gefragt, ob er mich eventuell abholen könnte. Tja, da habe ich ihm beichten müssen, dass ich bei Mikołaj bin. Eine Antwort von ihm ist nicht gekommen. Aber ich weiß, dass er die Nachricht gelesen hat.
Der gesamte Flur liegt in der Stille da. Ein leises Schlucken meinerseits, und ich verschwinde zügig in die warme Nacht. Was ich nicht weiß: Mikołaj beobachtet mich und wird womöglich meinen Vater sehen. Ich peile voller Gedanken den Parkplatz an. Was soll ich meinem Vater sagen? Ihm die Wahrheit beichten? Ärger werde ich so oder so kriegen, da werde ich nicht drum herum kommen. Ich könnte höchstens versuchen, das Ausmaß des Schadens so gering wie möglich zu halten.
Ich schiebe das Handy erneut in die Hosentasche, als mein Vater mich erneut aufgefordert hat, unverzüglich zum Wagen zu gehen. Dort angekommen, öffne ich die Tür des Audis und lasse mich auf den Sitz fallen. Ein tiefer Seufzer verlässt mich. Hoffnung auf mehr: Was meint er damit? Alles das, was nach einem Kuss kommt? Eine Vorstellung, die mir keinen Gefallen bereitet. Mikołaj ist zu einhundert Prozent die falsche Person. Ich kann ihm in dieser Sache nicht vertrauen. Ich will nicht eines seiner dummen Spielzeuge sein. Mein Vater verliert kein Wort, aber ich sehe ihm an, dass er gerne etwas loswerden will. Es ist unmöglich zu deuten, was in diesem Augenblick durch ihn geht. Er wirkt wie eine kahle Wand. Ich werfe keinen Blick zu Mikołajs Wohnung. Zwinge mich, mich voll und ganz auf das Geschehen zu konzentrieren, das sich für vierzig Minuten vor dem Auto abspielen wird. Ich habe nie gedacht, dass dieser Abend dieses Ende einschlagen wird. Dass ich mich mit zu vielen Zweifeln und Fragen herumschlagen muss.
Dass ich es endlich geschafft habe, die künstliche Oberfläche zu durchbrechen, nur um den Weg zur Wahrheit zu suchen, damit ich ihn finden und gehen kann. Komme, was wolle, aber ich will unbedingt herausfinden, was damals, vor neunzehn Jahren, passiert ist. Und mir wird es egal sein, was mein Vater davon halten wird.
-
Meine Mutter schläft bestimmt schon. Der mattgraue Audi wird unter den Carport gefahren. Dass meine Mutter wieder zu Hause ist, ist ein gutes Zeichen. Nein. Das ist eine unglaubliche Erleichterung für mich. Mit ihr kann man über alles reden, ohne dass man die Befürchtung hegen muss, eine Diskussion könnte entstehen. Ich habe geplant, mit ihr über Mikołaj zu reden. Ich will geradewegs aussteigen, eilig in das Haus gehen. Jedoch hält mein Vater mich davon ab, indem er den Audi abriegelt. Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Ich versuche vergeblich, mir nichts anmerken zu lassen. Verdammt, wie schlecht ich doch bin.
„Du hast schon wieder nicht auf mich gehört." Das fahrige Licht des Carports wirft Schatten auf sein Gesicht. Er sieht mich nicht direkt an. Ich wage es noch nicht einmal.
„Warum ist Mama eigentlich schon hier? Ich dachte, sie käme erst morgen wieder?" Ich höre mich ziemlich kleinlaut an.
„Sie hat die Agentur von sich überzeugen können. Der Vertrag für die Kooperation ist schneller zustande gekommen, als sie angenommen hat." Er hat sich noch nie vom eigentlichen Punkt abbringen lassen. „Deshalb ist sie früher nach Hause gekommen." Ich kann diesen ruhigen Ton nicht ausstehen. Der kündigt immer Unheil an. „Ich habe dir verboten, dich mit ihm zu treffen. Du weiß auch ganz genau, warum."
„Kann ich bitte nach oben?" Ich werde zunehmend leiser.
„Erst will ich eine Antwort von dir hören." Jetzt sieht er mich an. Ich will am liebsten in diesem Sitz verschwinden.
„Was ... willst du denn hören?"
„Warum du meinen musst, dich meinen Anweisungen zu widersetzen." Sein Blick fühlt sich an, als wäre ich in einem Hagel aus schier Tausenden Pfeilen ausgesetzt. Es ist nicht erträglich.
„Weil ich eventuell ein Leben habe und ich keine Lust habe, mich ständig einzuschränken zu müssen?" Schlimmer kann es nicht mehr werden. Da kann ich gerne in dieser bodenlosen Schwärze versinken. Mir ist das egal. „Mich kotzt es so langsam an, dass du mich immer noch wie ein zehnjähriges Mädchen behandelst." Ich hebe den Kopf. Zwinge mich, seinem furchteinflößenden Blick standzuhalten. „Ich bin fast erwachsen. Nimm es hin." Eine Hand legt sich um den Griff. „Kannst du mich endlich 'rauslassen? Es gibt nichts mehr, worüber man reden muss."
„Gerade deshalb muss ich nach wie vor ein Auge auf dich haben. Du weißt nicht, wo die Grenzen sind. Du bist viel zu naiv." Ich lache tonlos. „Das ist nicht lustig, Jess. Es ist mein Ernst. Mikołaj ist jemand, der dich verletzt. Er tut dir nicht gut. Und ich sage das nicht, weil ich seinen Vater zu gut kenne. Diese Sorte von Jungs will nur das Eine." Er schweigt. Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Gut, ich gebe zu, dass es auch daran liegt, wer sein Vater ist." Ein leiser Seufzer. Ich sage nichts. „Weißt du, da ist auch die ... Angst, dass er dir etwas antun könnte. Ich will nicht, dass dir etwas zustößt. Ich will dich nicht verlieren." Worte, die mich durchaus zum Nachdenken anregen. Ich blinzele langsam. „Er hat mir schon eine Person genommen, die mir sehr viel bedeutet hat." Der Wagen wird entriegelt. „Geh' bitte nach oben. Es ist spät."
Wenn ich ehrlich bin, habe ich darüber bisher nie nachgedacht. Ich bewege mich nicht von der Stelle. Jeglicher Ärger scheint verflogen zu sein. Sowohl bei mir als auch bei meinem Vater. Ich fange an, die Sorgen und Ängste anderweitig zu verstehen. Ist es denn möglich? Dass ich eventuell im Visier von ihm stehe? Aber das ist doch Blödsinn; ich kann mir nicht vorstellen, dass er mich kennt. Mikołaj hat ihm bestimmt nichts von mir erzählt.
„Was ist eigentlich vor neunzehn Jahren passiert?" Wie zu erwarten, keine Antwort. „Zwischen dir und Jakub?"
„Geh' jetzt."
„Ich könnte deine ständigen Einschränkungen auf diesem Wege viel besser verstehen", versuche ich es ein weiteres Mal. Sicher, ich mag das Urteil gesehen haben. Es wird Details geben, die mein Vater über all die Jahre für sich behalten hat. Wie jene Beziehung zwischen ihm und Jakub.
„Das ist eine zu lange Geschichte." Er steigt aus. „Wenn du jetzt nicht nach oben gehst, kannst du gerne im Auto schlafen. Mir soll das recht sein." Ich verziehe den Mund. Tue aber, was er gesagt hat. „Und jetzt geh' nach oben. Du kommst sonst nicht aus dem Bett." Also trotte ich wortlos zur Haustür. Warte, bis mein Vater sie aufschließt. Mir fällt auf, dass ich meine Sachen bei Mikołaj vergessen habe. Das wird ein Spaß werden. Na super. Ich hätte doch mit meinem eigenen Wagen fahren sollen.
Bevor ich in mein Zimmer gehe, werfe ich einen Blick zu ihm.
„Was wäre, wenn Jakub sich verändert hat? Also wenn er jetzt ein völliger anderer Mensch ist?"
„Wunschdenken. Mehr ist das nicht." Schummriges Licht erfüllt den schmalen Flur. „Solche Menschen werden sich niemals verändern." Das war's. Mehr folgt nicht. Ich stehe allein im Flur. Kein Gute Nacht oder Schlaf' gut. Ich hole das Handy hervor. Müde fühle mich nicht wirklich. Vielmehr wie auf Strom. Es liegt an Mikołaj, an den Aussagen meines Vaters. Ich würde mich gerne verkriechen wollen. Oder verschwinden. Ich will einen klaren Kopf haben. Diese Gedanken, Sorgen und Zweifel sind schrecklich.
Ich gehe selbst in mein Zimmer. Knipse das Licht an, ehe ich mich auf die Bettkante setze. Lege das Hemd ab und zupfe kurz am Saum des weißen Shirts. Habe das Smartphone in der Hand. Da ist gerade das Verlangen, Mikołaj zu schreiben. Ich unterdrücke es und behalte es mit schwarzem Display in der Hand. Sehe den Fernseher an. Ich halte an der Vorstellung fest, dass Jakub inzwischen ein anderer Mensch geworden ist. So wie ich Mikołaj verstanden habe, ist er es geworden. Keine Drogenabhängigkeit, eine glückliche kleine Familie und ein halbwegs freies Leben in seinem Land. Ich schiebe mich auf das Bett. Mein Vater hat es immerhin auch geschafft. Sie haben sich beide verändert, niemand hat das alte Ich über all die Jahre bewahrt. Ich beginne, mich bettfertig zu machen.
Er wird morgen alles vergessen haben. Soll ich ehrlich sein? Ich überlege, den Schultag sausen zulassen. Es gibt Wichtigeres. Beispielsweise, meine verdammten Sachen von Mikołaj zu holen. Im Badezimmer trete ich vor dem Spiegel. Er hat sich mehr erhofft. Zugegeben, ich auch. Nur, die Umstände sind die falschen gewesen. Er ist angetrunken, kann wohl kaum richtig denken. Nicht gerade ideale Voraussetzungen. Einige Strähnen kleben auf der Stirn. Verdammt, ich sehe schrecklich aus. Wenn bis zum morgigen Tage das Vorhaben bleibt, werde ich es durchziehen.
Einfach 'mal blau machen. Dank ihm.
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