13 - Warum bist du so, wie du bist?
Ich habe ihm quasi indirekt gebeichtet, dass ich mich in ihn verguckt habe. Man kann es nicht als verliebt sein bezeichnen; ich finde, dass dazu noch eine ganze Menge fehlt. Es ist das erste richtige Interesse. Weiß man, was ich meine? Hoffentlich schon. In meinen Ohren hört es sich verständlich an. Wie dem auch sei. Mikołaj hat die Tortur überstanden, wenngleich er mich des Öfteren angefahren hat. Ich bin mir bewusst, dass er es nicht ernst meint – sonst hätte ich darüber nicht lachen können. Manchmal ist er schneller als erlaubt durch die Stadt gefahren. Einmal hat er jemand die Vorfahrt geklaut. Den Fahrer habe ich kein zweites Mal sehen wollen. Der ist vielleicht wütend gewesen.
Das Wetter hat sich verändert, fällt mir gerade auf. Es ist nicht mehr strahlend sonnig. Die Temperaturen sind ein wenig nach unten geklettert. Vierundzwanzig Grad, und es ist bewölkt. Sieht nach Regen aus. Soll es heute auch. Zwar gegen Abend, aber immerhin. Ich habe mir keine Jacke mitgenommen – Wasser und weiß. Eine perfekte Kombination.
Ich sehe zu Mikołaj, der inzwischen in sich gekehrt ist. Es liegt sicherlich daran, dass er von mir gehört hat, wer ich eigentlich bin. Komisch ist, dass er nicht darauf gekommen bin, immerhin sehe ich meinem Vater sehr ähnlich. Augenpartie, die Haarfarbe. Die Nase. Ich bin verdammt froh, dass ich nicht so groß geworden bin wie er. Prinzipiell ist es nicht schlecht, über eins achtzig groß zu sein. Das verschafft mir eine andere Art von Respekt. Nur ... Mit dieser Größe einen Typen zu finden, wird dann schon schwierig. Wie bei ihm mit den Mädchen. Es ist auffällig. Angefangen mit den einzigartigen Augen. Ich könnte stundenlang über sie reden. Sie sind unglaublich.
„Hätte nicht gedacht, dass er dein Vater ist." Der Neunzehnjährige ist leise. „Ich meine, dass er generell Kinder hat. Hätt' erwartet, dass er für sich allein ist, nach all dem Scheiß, den er durchgemacht hat." Der Audi rollt langsam durch die Straße, sodass ich manchmal die Gesichter der Passanten erkennen kann. „Ruiniertes Leben, der Verlust eines geliebten Menschen. Die Knastzeit. Prägt eigentlich." Er hat die zwei kleinen Kinder wahrgenommen, die gefährlich nah bei der Straße herumtollen. Mikołaj drosselt das Tempo, sodass er nur noch mit zehn Stundenkilometern fährt.
„Erwartet niemand, wenn ich ehrlich bin", bestätige ich und lehne den Kopf an die Scheibe. „Letztes Jahr, da hat's eine Phase innerhalb der Schule gegeben. Man hat über nichts anderes gesprochen. Gerüchte in die Welt gestreut, bei denen ich mich habe ziemlich zurückhalten müssen. Die Mehrheit zollt ihm immer noch wahnsinnigen Respekt. Aber es gibt auch ein paar ..." Ich atme tief durch. „Die schießen etwas daneben, wenn du verstehst, was ich meine." Ein seichtes Nicken. „Das Gleiche kann ich bei dir auch denken. Wie kann es sein, dass er sich für diesen Weg entschieden hat?" Ich kann nicht anders, als das Handy zur Hand zu nehmen. Mikołaj hat in wenigen Minuten das kleine Mehrfamilienhaus erreicht. Ich tippe den Namen ein. Es dauert nicht lang, bis die Ergebnisse angezeigt werden. „Soweit ich es mitbekommen habe, hat man den Gerichtsprozess deines Vaters auch übertragen." Das Protokoll kann man im Internet aufrufen. „Das ist echt lang."
„Weil er sich ändern will. Er will ein anderer Mensch werden und sein", antwortet er nach wie vor verhalten und lenkt sein Fahrzeug auf den provisorischen Parkplatz. Steht unmittelbar neben einem alten Golf Kombi. „Meine Mutter hat's geschafft. Sie hat ihn durch alle schwierigen Zeiten begleitet und ihn nie verlassen." Stille kehrt ein. Mikołaj beugt sich mehr zu mir. „Ich hab's auch schon gefunden, aber mir nie durchgelesen, weil's viel zu lang ist. Irgendwo sollen die Personalien ... Du bist verdammt schnell." Ein kleines Lächeln. „Ich gebe zu, dass ich faul bin, was das Suchen angeht." Er könnte seinen Kopf an meinen Arm lehnen. „Hat man. Hat meine alte Klasse mir mehrfach gezeigt, als ich nicht glauben wollte, dass man Gerichtsprozesse generell überträgt." Er sieht zum Haus. „Du hast heute nichts vor?"
„Genau wie bei mir." Ich schiele aus einem Seitenblick zu ihm. „Nein. Der Nachmittag beziehungsweise der Abend gehört einzig und allein dir. Was hast du also für heute geplant?" Ein erwartungsvolles Kribbeln bebt in meinem Körper. Das ist die Chance, das Bild des Polen ein für alle Mal zu verändern. Dass ich all die Seitenschläge seit dem gestrigen Tag vergesse.
„Sehr schön. Lass' uns eine Geschichtsstunde einschieben. Nur, die werden wir auf unsere Familie beziehen." Der Blick erfasst das Handy in meiner linken Hand. „Ein paar Nachforschungen anstellen. Verdammt, jetzt will ich unbedingt erfahren, was damals passiert ist. Was er für ein Leben geführt hat. Von sich aus will er ja nichts sagen, warum auch immer." Mikołaj streicht mit einer Hand durch die dunkelblonden Haare. „Da muss immerhin eine Menge passiert sein. Sonst würde deiner nicht sagen, dass er meinen quasi hasst ... oder dass er dir verbieten will, dich mit mir zu treffen, obwohl ich dir nichts angetan habe."
Ein gewagter Schritt. Ich werde in der Vergangenheit meines Vaters herumstochern und das ohne, dass er davon Kenntnis erlangt oder es tun wird. Wenn das herauskommen wird ... Ich schlucke hörbar. Ich will mir gar nicht vorstellen, was dann passieren wird. Dann wird es vorbei sein. Ein tiefes Durchatmen. Ich darf mich allerdings nicht einschüchtern lassen. Es ist mein gutes Recht, schließlich geht es der ganzen Familie etwas an. Es geht zudem um Mikołaj, meiner heimlichen Nummer eins. Vielleicht, auch wenn dies Wunschdenken ist, um uns. Nicht als einzelne Personen, sondern als ein Paar. Diese Vorstellung; ich könnte lachen. Ob es sich verwirklichen wird? Daran glaube ich selbst nicht. Ich bin schon froh über die Tatsache, dass er Zeit mit mir verbringen will und ohne, dass gewisse Hintergedanken im Spiel sind.
„Ich bin dabei." Ich lasse die Internetseite offen, während wir aussteigen. „Kann ich die Tasche im Kofferraum lassen?" Mikołaj nickt. „Okay." Ich nähere mich ihm. Mustere ihn. Die Wunden sind versiegt, und eine dunkle Kruste hat sich um und auf den Stellen gebildet. „Gerade das finde ich etwas eigenartig. Du oder besser gesagt wir haben nichts mit ihnen zu tun. Oder mit ihrer Vergangenheit. Nenn' mich verrückt, aber haben die irgendwie Angst, dass mit uns das Gleiche passieren wird?" Ein kalter Schauder rennt den Rücken hinab. „Allein wenn ich an die Narbe denke – er hat gemeint, dass sie von Jakub kommt. Dass er ihm das angetan haben soll." Wir überqueren die kleine Straße.
„Was für eine Narbe?", will der Neunzehnjährige erfahren, während er den Schlüssel aus der Hosentasche kramt.
„Die auf der linken Wange", erkläre ich und trete in den kühlen Hausflur ein. Ein Duft nach Lavendel erfüllt ihn. Aus einer Wohnung erschallen fröhliche Stimmen. Sie müssen wohl ein Kaffeekränzchen abhalten. „Die soll dein Vater verursacht haben."
„Davon weiß ich nichts." Mikołaj zuckt mit den Schultern. „Ich weiß, dass mein Vater wie so'n Irrer aussieht, sollte er ernst werden und dich angucken. Du kriegst echt Angst, wenn du ihn siehst. Vorausgesetzt, er ist nicht genervt, wütend oder etwas anderes in dieser Richtung. Meine Mutter hat 'mal gemeint, dass ich eine Zeitlang Angst vor ihm gehabt habe. Heute kann ich's am besten nachvollziehen."
„Ist das immer noch so?" Ich schlüpfe aus den Schuhen, als wir vor der schmucklosen Wohnungstür stehen. Die Stimmen kommen von den oberen Wohnungen. Es riecht nach Kuchen. Mein Magen knurrt leise.
„Dass ich Angst vor ihm habe?"
„Ja."
Er schiebt die Schuhe zu meinen, und gemeinsam betreten wir die Wohnung. Oliver ist wie zu erwarten nicht anwesend. Ich erhasche einen Blick auf die Uhr. Fünfzehn Uhr fünfzehn. Er muss wohl Spätschicht haben.
„Hört sich vielleicht komisch an, aber ja. Es gibt Tage, da hab' ich Angst vor ihm." Er legt eine Hand auf meinen Rücken und schiebt mich behutsam zu dem Wohnzimmer. Ein paar Muskeln spannen sich unter seiner Berührung an. „Wenn er ein ernstes Wörtchen mit mir reden will. Oder, wenn ich wieder 'mal Scheiße gebaut habe." Mikołaj legt die wenigen Habseligkeiten auf den Tisch. „Einmal ist er wütend auf mich gewesen. Ich hab's nicht mitgeschnitten, weil's man ihm nicht angemerkt hat. Hab' mir daher nichts dabei gedacht, als ich ihn gefragt habe, ob er mit mir eine Runde trainieren will." Er geht in die Küche, und ich folge ihm. „Das ist keine Absicht gewesen. Ich hab's ihm nicht übel genommen, kann ja 'mal passieren. Er hat mich übel getroffen. Hab' gedacht, die Nase sei durch. Da ist schon etwas Kraft hinter gewesen." Ich lehne mich schweigend an die Tischkante. „Bis ich dann erfahren hab', dass er auf mich wütend gewesen ist. Da hab' ich angefangen, deutlich vorsichtiger zu sein. Weniger Scheiße zu machen."
„Ist das ... mehrfach vorgekommen?" Ich nehme ihm das Glas mit Wasser ab. „Danke sehr."
„Wenn ich das so sagen werde, hört es sich an, als würde Gewalt in meiner Familie normal sein." Mikołaj lacht trocken. „Was aber völliger Blödsinn ist." Er nimmt die Glasflasche an sich, und wir gehen in das Wohnzimmer. Ich lasse mich auf der bequemen Couch nieder und nehme einen Schluck zu mir. „Ich kenn's auch nicht mehr anders. Es kommt ab und zu vor, dass er auf diesem Wege seinen Frust abbaut. Man lernt, damit umzugehen. Und du siehst, dass ich dadurch nicht geprägt worden bin." Er lehnt sich zurück. „Wie dem auch sei. Kurz und knapp: Ich hab' manchmal Angst vor ihm, weil er eine Person ist, mit der man sich nicht anlegen will." Er schaut mich an. „Wie ist das bei dir?"
„Also er hat mich nie geschlagen. Weder mich noch meine Mutter. Das würde er niemals tun. Dafür bedeuten wir ihm zu viel." Ich stelle das Glas auf dem Tisch ab. „Aber sobald wir ein gewisses Gespräch führen wollen ... Sein Blick ist es, der mir Angst macht. Er schafft es, dir Angst einzujagen, sobald er dich nur ansieht." Ein Anblick, den man nie vergessen wird, weil er sich zu tief in das Bewusstsein eingebrannt hat. „Er hat mehrfach gesagt, dass seine eigene Familie das wertvollste Gut ist, das er hat. Da sei das Vermögen ganz hinten angestellt."
„Wenn man auch bedenkt, was das für Persönlichkeiten sind." Der Pole beugt sich nach unten. „Ach, da hab' ich den das letzte Mal hingelegt. Scheißding. Ich such' danach wie ein Verrückter und find's einfach nicht." Es ist ein silbernes Macbook. Er klappt es auf. „Mal sehen, was wir finden werden." Mikołaj linst zu mir. „Hat deine Mutter dir irgendetwas erzählt?"
„Na ja, nur, dass sie es bis heute nicht ganz begreifen kann, wie sie mit einem sehr einflussreichen Drogenhändler zusammengekommen ist. Und, dass sie nur unter sich geheiratet haben. Ohne im Beisein der Angehörigen." Ich rutsche mehr zu ihm.
„Ich glaube, das kann niemand fassen." Er überlegt für einige Sekunden, ehe er etwas eintippt. „Wir sind nach Krakau gefahren, als meine Eltern geheiratet haben. Er hat dort jemanden, mit dem er sehr lange befreundet ist. Ach, und dieser Ukrainer ist auch noch dazugekommen." Er erwähnt nichts, als ich mich hinter Mikołaj schiebe und den Kopf auf seine rechte Schulter lege. „Jevhen Prokofjew. Ist ein Mann wie dein Vater. Nur, dass er sein Einflussgebiet im östlichen Teil von Europa hat. Bis nach Kasachstan." Er beginnt mit seinem Vater. „Ein ziemlich lieber Mann. Daryna hat mit mir sehr oft Fußball gespielt. Hat sie echt gut gekonnt." Ich fühle mich nicht unbehaglich, als ich meine Arme um seinen Bauch lege. Es geschieht instinktiv. Ich denke, dass es richtig ist. Zumindest unternimmt Mikołaj nichts dagegen. „Wollen wir uns die zweieinhalb Stunden antun?"
„Hm?" Ich spähe zu dem Bildschirm. Er hat ein Video gefunden.
„Möchtest du es sehen oder ist es dir zu lang?"
„Nein, nein." Ein kurzes Lächeln. „Die Zeit hab' ich." Ich merke, wie es allmählich unangenehm wird. Also lasse ich ihn los, setze mich neben ihm. Kann nicht verbergen, dass meine Wangen sich rot gefärbt haben.
„Ach, wie süß", kommentiert es der Neunzehnjährige und lacht leise in sich hinein, sodass ich verlegen wegschaue. „Kein Grund, so rot zu werden." Er nimmt das Macbook und balanciert es auf seinen Beinen, als er sich wieder an die Rückenlehne schmiegt. „Komm' ruhig 'ran. Ich beiße nicht."
Ein eigenartiges, mir fremdes Gefühl geistert durch mich. Ich tue, was er mir gesagt hat. Jedoch mit einem gewissen Abstand. Wenigstens kann ich ohne Schwierigkeiten auf das Gerät sehen und die Sequenz mit verfolgen. „Ich würde sagen, es kann losgehen." Wie sehr ich mich an ihn kuscheln will, sodass er seinen Arm um mich legt. Die Mundwinkel zucken sehr leicht. Verschiedene Bilder entstehen. Jeder anders als das vorherige und doch im Kern gleich. Ich liege in seinen starken Armen, den Kopf auf der muskulösen Brust. Er hat seine Arme um meinen Rücken gelegt, die Nase in meinen Haaren vergraben. Oder ich habe mich an ihn geschmiegt, sodass er die Fingerspitzen über meinen Arm wandern lassen kann. Mikołaj küsst meinen Kopf oder eine meiner Wangen ... Ich spüre, wie sich der Herzschlag mehr Tempo aneignet. Wie eine eigenartige Wärme mich erfüllt. Wie ein sehnsüchtiges Lächeln auf meinen Lippen sitzt. Ob ich die Bilder in die Tat umsetzen kann? Es wäre schön, wenn ja. Aber ich will nichts überstürzen. Mir Zeit lassen. Nicht so viel, dass es zu spät ist. Ein halbes Jahr Zeit. Hört sich sicherlich lang an, aber nicht für mich. Für mich ähnelt es einem mickrigen Augenblick des langen Lebens.
Zweieinhalb Stunden. So lange muss ich mich zusammenreißen. Ich kriege nicht einmal zehn Minuten auf die Reihe. Entweder rutsche ich etwas hin und her oder verändere die Position. Mikołaj sagt nichts, sondern verfolgt wie gebannt die Gerichtsverhandlung. Sein Vater, dort offenbar vierundzwanzig Jahre alt, ist ein Ebenbild von Mikołaj. Er sieht völlig abwesend aus. Ein Endprodukt aus Schmerz, Trauer und einem bodenlosen Hass. Ich habe dem Protokoll entnehmen können, welches ich querbeet gelesen habe, dass vor einigen Monaten sein Bruder gestorben ist und dass ihm niemand aus dieser Krise geholfen hat. Zumindest wirkt es danach. Die Narbe scheint frischer zu sein. Macht ihn bedrohlicher, als er es ohnehin schon ist. Jakub sieht keineswegs abstoßend aus, eher attraktiv. Also hat er von ihm seine Ansehnlichkeit. Er hat sich für diesen Tag etwas herausgeputzt. Ein banales weißes Hemd, nur der oberste Knopf steht offen. Eine dunkelblaue Jeans. Die Haare halbwegs gebändigt. Dennoch kann man ihm diese Emotionen ansehen, auch wenn er versucht, teilnahmslos zu wirken.
Man trägt seine Personalien vor. Dass er aus Warschau stammt, habe ich gewusst. Aber wo zur Hölle liegt denn Wesoła? Soll das ein Bezirk sein? Die Frage weicht mir nicht von den Lippen. Vierundzwanzig Jahre alt, die gemeldete Adresse bezieht sich allerdings auf eine deutsche. Ich hebe ein wenig die Augenbrauen. Menckenstraße fünfzehn, Berlin, Steglitz. Hat er etwa früher dort gewohnt? Mikołaj muss sich wohl das Gleiche fragen, denn auch ihm steht ein Fragezeichen ins Gesicht geschrieben.
Er nimmt Platz. Neben ihm ein junger Herr in einem adretten Kostüm. Anscheinend sein Pflichtverteidiger. Manchmal tauscht er mit Jakub ein paar Worte aus. Dieser wiederum zuckt mit den Schultern. Aber so großartig etwas sagen tut er nicht. Er bleibt für sich. Fixiert einen willkürlichen Punkt. Ich mustere die anwesenden Personen. Die Geschworenen. Den Staatsanwalt, Richter und die anderen. Es wird schnell klar, dass sie Jakub argumentativ völlig überlegen sind. Sie werfen ihm jede einzelne Tat vor. Die schier unzähligen Morde an diversen Personen, die brutalen Begehensweisen. Die kalte Skrupellosigkeit. Die fehlende Empathie. Jakub hört nicht richtig hin. Lässt die harschen und teils gefühlsgeladenen Worte auf sich niederprasseln.
Nach einer Stunde kommt endlich das, worauf Mikołaj und ich gewartet haben. Eine entscheidende Antwort auf so viele Fragen, die uns belasten. Der Richter liest aus einem extern eingereichten Protokoll etwas vor. Es ist klar, dass das von einer der Vernehmungen stammen muss. Er ist einst in der Gang von meinem Vater gewesen. Jakub hat meinem Vater unterstanden. Treu und loyal. Hingebungsvoll. Gehorsam. Ich kann es kaum begreifen. Sein Bruder ist von meinem Vater erschossen worden, und er hat alles mit ansehen müssen. Und warum? Jakub hat gegen die Prinzipien verstoßen. Er hat meinen Vater verraten, weil er nach seinem Bruder hat suchen wollen. Dazu hat er sich mit einer Angestellten einer staatlichen Behörde zusammengetan. Ich blinzele langsam. Es hört sich unglaublich an.
Der Richter hat einen Satz wiederholt vorgetragen. Verräter gehören mit dem Tod bestraft. Es liegt auf der Hand; mein Vater hat versucht, Jakub zu erledigen. Nur, weil er ihn verraten hat. Warum hat mein Vater ihm bei der Suche nicht geholfen? Was soll das?
Er hat zurückkehren wollen. Nach Hause. Dort, wo er hingehört. Jakub hat dem schrecklichen Leben den Rücken zudrehen wollen. Sein Bruder ist wahrscheinlich der Einzige gewesen, mit dem er sich gut verstanden hat. Er hat sich verändern wollen. Sich und seinem Bruder zuliebe. Der Schrecken sollte aufhören. Jakub hat ein anderer Mensch werden wollen, aber es ist nie dazu gekommen.
Es nimmt Mikołaj mehr mit, als er sich insgeheim eingestehen will. Ich denke nicht länger darüber nach und lege beide Arme um ihn. Ziehe ihn vorsichtig zu mir. Kein Widerstand geht durch ihn, und er schmiegt sich ein wenig an mich. Die Fingerkuppen streichen sanft über den Rücken hinweg, während ich weiterhin die Verhandlung beobachte. Es ist nie geklärt, woher die Narbe kommt. Wer sie verursacht hat. Auch Jakub erwähnt es nie. Er ist ein gebrochener Mensch. Ist am Ende mit den Kräften. Mit der Hoffnung. Er ist eine leere Hülle seiner selbst.
Zweieinhalb Stunden lang. Diese Vorwürfe treffen selbst mich, obwohl ich nicht einmal den gesamten Kontext verstehen kann. Sie sind knallhart, erfüllt mit sämtlichen Emotionen. Es ist eine besondere Verhandlung. Auch die anwesenden Teilnehmer, die auf den Besucherbanken hocken, können sich nicht mit Zurückhaltung maßen. Einige wünschen ihm sogar den Tod. Automatisch drücke ich Mikołaj fester an mich. Er zittert sehr leicht.
Das Ende vom Lied: Lebenslang, ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung und anschließende Sicherheitsverwahrung. Er hat von Beginn an keine Chance gehabt. Alle Beweislagen haben gegen ihn gesprochen, und auch der Staatsanwalt hat sich die Worte so zurechtgelegt, dass der Verteidiger kein Stück dagegen angekommen ist. Sie haben Jakub grob auf die Beine erhoben und ihn abgeführt. Da ist kein Widerstand gekommen. Jakub hat sich gehorsam wegziehen lassen.
Aber wie kann es sein, dass er dennoch auf freiem Fuß ist?
Ich habe Mikołaj nicht vollständig losgelassen, während ich etwas unbeholfen die Gerichtsverhandlung meines Vaters eingegeben habe. Es wird mich sicherlich genauso mitnehmen. Sie geht weit über drei Stunden. Und das ist nur der elfte Verhandlungstag. Es wird Zeit, dass ich der Wahrheit ins Auge blicke. Dass mein Vater ein völlig anderer Mensch gewesen ist. Ich spiele die Übertragung ab und streiche durch die dunkelblonden Haare von Mikołaj. Er kann sich nicht richtig beruhigen. Ob einige Tränen fließen? So seltsam die Vorstellung auch sein mag, würde es mich nicht wundern.
Fünfundzwanzig Jahre alt. Walsroder Straße zwölf, Berlin. Jetzt endlich verstehe ich, warum er so gut es geht einen großen Bogen um Berlin macht. Ich mustere meinen Vater. Und bin erschrocken, wie resigniert und kalt er die vielen Vorwürfe entgegennimmt. Manchmal lächelt er. Ich schlucke tonlos. Das kann nie und nimmer mein Vater sein. Nicht dieses ... Monster. Wie kann es sein, dass er sogar lacht? Das sind zwei völlig verschiedene Welten.
Er hat im Laufe der Verhandlung zugegeben, dass er Jakub verletzt, als man ihn auf der Narbe angesprochen hat. Er hat es im Namen der Gang getan. Und da ist dieser Satz gewesen. Der Satz, den man bei Jakubs Verhandlung mehrfach vorgelesen hat. Ein frostiges Gefühl breitet sich in mir aus. Die Wut, die da gesprochen hat ... Mir ist nicht kalt und dennoch hat sich eine Gänsehaut gebildet. Jakub hat ihn verraten. Sein Vertrauen ausgenutzt. Ihn und den Rest der Gang in akuter Gefahr gebracht. Er hätte es nicht anders verdient. Man schwört auf Ehre, Loyalität und Hingebung. Wertvolle Prinzipien, die jeder an den Tag zu legen hat. Ein Bruch, und man erhält die letzte Quittung. Da werden keine Ausnahmen gemacht. Hat darüber hämisch gelacht.
Mein Vater hat bei dieser grauenhaften Prozedur angenommen, dass Jakub sterben wird. Darum hat er sich nicht weiter um ihn gekümmert. Er hat es detailliert wiedergegeben. Die brutalen Prügeleien, die Demütigung. Sein Betteln und verzweifeltes Flehen. Die animalische Angst. Und er hat es ins Lächerliche gezogen.
Ich kann es mir nicht weiter ansehen. Nach anderthalb Stunden breche ich die Übertragung ab. Spüre, wie mir das Herz beinahe aus der Brust springt. Ich will nicht begreifen, dass dies mein Vater gewesen sein soll. Dieser ekelhafte kranke Mensch. Ist das jedoch der Grund, warum er mir gegenüber stets zuvorkommend und sehr liebevoll ist? Dass er meiner Mutter jeden Wunsch von den Lippen abliest und ihr in regelmäßigen Abständen romantische Abende bereitet? Es ist, als würde ein Schauspieler auf diesem hölzernen Stuhl sitzen und an der Verhandlung teilnehmen und nicht mein Vater.
Am Ende hat man ihn wegen Drogenhandels im großen Stil, diversen Morden, Geiselnahmen von hochrangigen Funktionären und Weiterem zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Sein letzter Blick hat mich beinahe gelähmt. Ich kenne es von zu Hause, aber dieser hier ... Der ist eine völlig andere Nummer. Als würde er sagen wollen: Das Spiel ist noch lange nicht vorbei. Ich werde euch finden und euch töten.
„Sie sind beide nicht perfekt. Auch heute nicht." Mikołaj hat sich ein wenig aufgerichtet. Die Augen schimmern. Ich frage nicht nach. Kann mir die Antwort auch selbst ausmalen. „Aber wenigstens wissen wir, warum sie sich gegenseitig hassen." Er will durchatmen, nur stockt es. „Ich ... brauche eine kleine Pause." Kein Wort meinerseits. Er steht auf. Tritt zum Balkon. Geht hinaus in den recht kühlen Abend. Ich zögere zunächst, ehe ich beschließe, ihm zu folgen. Mikołaj hat die Hände auf das Geländer gestemmt. Die Arme sind durchgedrückt. Er schaut geradewegs zum Wald. Ich bleibe neben ihm stehen. Sehe selbst zu der grünen Landschaft.
In meinem Kopf herrscht ein heilloses Durcheinander. Es sind die krassen Gegensätze meines Vaters. Jakub, der gebrochen und am Ende mit sich selbst ist. Die ersten Fakten aus dieser zerrütteten Vergangenheit. Und das ist gewiss nur die Oberfläche gewesen, die wir angekratzt haben. Ich will mir gar nicht vorstellen, was wir vorfinden werden, sollten wir uns tiefer durch die Schichten graben.
Aber er ist immer noch mein Vater. Er hat mit der Vergangenheit abgeschlossen, sonst hätte er keine Familie gegründet und würde sich nicht so rührend um uns kümmern. Allerdings schläft die Vergangenheit nie, denn ich weiß, dass er seit einigen Jahren die alten Verbindungen neu ins Leben gerufen hat und sein System, welches er sich vor meiner Geburt errichtet hat, neu aufbauen will. Es hört sich verrückt an, doch nach dieser Sequenz hege ich die Befürchtung, dass mein Vater in ein altes Muster zurückfallen wird.
Und dann wird es mit dem Leben, das ich kenne, vorbei sein.
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