07 - Facettenreich
Ich bin zu Hause. Habe den weißen Wagen auf den Hof gefahren, nachdem ich die Kombination für das gusseiserne Tor eingetippt habe. Mein Vater hat sämtliche Vorkehrungen getroffen, um unerwünschte Feinde oder andere Personen von unserem Grundstück fernzuhalten. Wenn es sein muss, würde er zu drastischen Maßnahmen greifen. Ich bin mir bewusst, dass er es ernst machen wird. Daran will ich nicht denken. Das Tor hinter mir gleitet zügig von allein zu, nachdem ich auf den übersichtlichen Hof gefahren bin. Wir haben ein modernes Haus bezogen. Weiße, sehr saubere Fassade. Hohe und teils breite Fenster mit einem schwachen bläulichen Schimmer. Ein schwarzes Dach, gleichfarbige Türen und Rahmen. Nur den Carport hat man aus hellem, dafür robustem Holz gezimmert. Dort parkt er – das schwarz-blaue Monster mit dem breiten Heckspoiler. Ich blinzele langsam. Stelle meinen Wagen in der Nähe des Ungetüms ab. So, dass mein Vater ohne Schwierigkeiten dieses Ding nach draußen fahren kann. Ich steige aus. Sammele das Handy ein. Ziehe den Schlüssel ab. Eigentlich würde neben diesem Tier der Audi meiner Mutter stehen. Ich gehe zum Kofferraum. Hole den Rucksack heraus. Mein Vater hat mir heute Morgen geschrieben, dass er im Laufe des Tages nicht zu Hause sein wird. Es kommt oft vor, dass sich seine Pläne sehr schnell ändern. Daher gehe ich mit einem neutralen Gefühl zu der Eingangstür.
Meine Eltern haben einen sehr minimalistischen Geschmack, was das Haus angeht. Klar, ich finde es unglaublich hübsch. Einstöckig, mit Balkon oberhalb der beiden Garagen. Normalerweise schlummert vor allem dieses schwarz-blaue Tier in der Garage. Ein Zeichen, dass mein Vater es entweder waschen oder benutzen will. Ein weißer Weg aus poliertem Stein erstreckt sich bis zur Tür. Die Ausfahrten beider Garagen ebenfalls aus diesem teuren Stein – als zusätzliche Abgrenzung zieht Granit klare Linien. Rechts auf meiner Seite zieren knöchelhohe Büsche den Weg. Links ein modern errichteter Teich. Umrandet mit schwarzem Stein, in welchen jeweils ein Strahler eingearbeitet worden ist. Das Wasser plätschert leise. Manchmal kommt eine Krähe vorbei, die dort ein Bad nimmt. Auch dort schmücken kunstvoll gestutzte Büsche den glatten und taufrischen Rasen.
Ich bleibe vor der Stufe stehen. Suche nach dem Hausschlüssel, den ich in irgendeinem Fach getan habe. Der brusthohe Setzling in dem braunen Topf, welcher man neben der Stufe gestellt hat, wiegt sich sanft in der leichten Brise. Gleicher thront zwischen den beiden geschlossenen Garagen. Meine Mutter hat vor einigen Wochen zwei Aloe Veras dort platziert, die sie in weiße Töpfe umgepflanzt hat.
Ich betrete den großen Flur. Schlicht gehalten. So wie alles andere in diesem Haus. Ich lasse die Tasche auf das schwarze Laminat fallen und schließe die Tür. Hänge beide Schlüssel an das liebevoll gestaltete Bret neben dem Spiegel. Ich halte kurz inne. Sehe mich selbst an. Mustere die haselnussbraunen Haare, die sich auf den Schultern leicht kräuseln. Erwidere den Blick. Starre förmlich in die dunklen braunen Augen. Fahre mit beiden Händen die schmale Gesichtskontur nach. Ich stelle fest, dass die obere Lippe an einer Stelle etwas aufgerissen ist. Ein leiser Seufzer entfährt mir. Ich empfinde mich nicht als unattraktiv. Wenn ich will, dann kann ich auch. Keine Frage. Ich habe mich einmal an Make-up herangewagt. Mich dabei voll und ganz auf Elise verlassen. Das Endergebnis hat mich sehr umgehauen. Die ohnehin schon langen Wimpern haben unfassbar elegant ausgesehen. Haben die braune Augenfarbe anderweitig betonen können. Ein sanfter Lidstrich, der mir etwas Geheimnisvolles geschenkt hat. Auf Lippenstift hat sie verzichtet – bei mir müsse man nicht nachhelfen. Sie seien schon voll und kräftig genug. Ich habe nur gelacht und zugelassen, wie sie die Wangenknochen markant betont hat. Aber all diese Mühe ist es mir nicht wert. Vielleicht irgendwann 'mal.
Ich wende mich von meinem Spiegelbild ab. Trotz des sonnengeküssten Teints, den ich besitze, kann man diese verfluchte Röte erkennen. Allein die Vorstellung, wie Mikołaj mich anlächelt, verstärkt die Farbe. Mit hochrotem Kopf greife ich nach den Trägern der Tasche und peile die Wendeltreppe an, welche sich in das obere Stockwerk windet. Schwarzer Teppich ist auf den Stufen ausgelegt worden. Sie knarzen leise unter meinen Schritten.
Das Haus liegt in der Stille da. Niemand ist also zu Hause. Ich schlendere gedankenversunken zu meinem Zimmer. Hier oben können, so gesehen, zwei weitere Gäste übernachten. Eins haben meine Mutter und ich jedoch zu einem kleinen Fitnessraum umgestaltet. Wo mein Vater trainiert, weiß ich nicht. Das ist unterschiedlich.
Dadurch, dass die Sonne förmlich in das Zimmer herein knallt, ist es ziemlich warm. Ich stelle die Tasche auf dem Boden ab und mache mich an den Jalousien zu schaffen. Lasse sie halb herunter und kippe das Fenster an. Auf dem Fensterbrett thronen ein paar kleinere Topfpflanzen. Ich habe vergessen, meine Spielgeräte wegzuräumen. Gerade am Wochenende hängen Elise und ich an diversen Konsolen und spielen zusammen. Ich hole das Handy hervor. Was soll ich nun tun? Niemand ist hier. Stimmt. Ich wollte mich mit Mikołaj treffen. Zu mir einladen, wäre sehr riskant. Ich weiß nicht, wann genau mein Vater wiederkommen wird. Er ist sicherlich nicht erfreut, wenn er fahren wird, dass ich jemand anderes als Elise zu uns geholt habe. Vor allem: Dieses Mal handelt es sich um einen Jungen, den ich erst seit einen Tag kenne.
Ein Anruf. Ich zucke erschrocken zusammen. Ich bin zu sehr in Gedanken versunken gewesen. Also hole ich das Handy hervor. Nehme ruhig ab.
„Bist du schon zu Hause?" Eine sehr raue Stimme. Als hätte jemand drei Schachteln Zigaretten geraucht.
„Eben gerade angekommen", antworte ich und verlasse mein Zimmer. Lehne die Tür an. „Was gibt's denn? Ich wollte gerade los." Es ist nicht selten, dass mein Vater wie aus heiterem Himmel anruft. Er will sich nur vergewissern, dass es mir gut geht. „Die Einkäufe erledigen, die auf der Liste stehen." Da kann ich Mikołaj gleich mitschleppen. Schön, wenn man Dinge miteinander kombinieren kann. „Darf ich fragen, wo du gerade bist?"
„Ja, mach' das ruhig." Im Hintergrund das Kreischen von Rädern auf Schienen. Ich hebe die Augenbrauen. Er hält sich also bei irgendeinem Bahnhof auf. „Berlin. Am Hauptbahnhof. Wollte gerade meinen Kunden in Empfang nehmen." Ich muss genauer hinhören, damit ich ihn verstehen kann. „Ist alles okay soweit?"
Solche Angelegenheiten sind nie vom Risiko befreit.
„Muss das wirklich sein? Sei wenigstens vorsichtig." Mir gefällt es nach wie vor nicht, dass mein Vater seiner Tätigkeit, die er seit späten Jugendjahren nie beendet hat, weiterhin nachgeht. Er mag sich einen renommierten Namen gemacht haben, aber es gibt da dieses Risiko. Er könnte schneller den Löffel abgegeben, als uns lieb ist. „Es geht. Schule war wie immer gut. Gab nichts Spannendes." Na ja, wir haben inzwischen einen Austauschschüler bekommen, der bereits am ersten Tag drei Mädchen klargemacht hat. Nicht zu vergessen, dass ich mich mit eben diesem Jungen gleich treffen werde. Auch die Sache, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Masche hereingefallen bin.
„Ich könnte einen guten Gewinn einfahren", begründet er die Annahme dieses Auftrages, und ich seufze tonlos. „Ich mache es vielmehr für euch. Damit ihr das Leben nach euren Wünschen und Vorstellungen leben könnt." Ein Stimmenmeer überflutet beinahe das Telefonat. „Solche Tage müssen sein. Keiner ist gleich." Schweigen. Ich habe es irgendwie geschafft, meine Schuhe anzuziehen. „Ich muss auflegen. Ich sehe ihn gerade. Wenn alles nach meinen Vorstellungen läuft, werden wir uns heute Abend wiedersehen."
Selbst so einen Satz kann man falsch verstehen. Er trägt zu viele Elemente mit sich, die meine Besorgnis ins schier Unermessliche steigen lässt. Ich suche wieder nach meinem Spiegelbild. Mustere das weiße Shirt mit dem Logo der Sportfirma.
„Pass' bitte auf dich auf", murmele ich.
„Ist versprochen, Kleines." Ich lächele etwas.
„Hab' dich lieb."
„Ich dich auch." Dann ist es beendet. Ich verziehe den Mund. Will nicht weiter darüber nachdenken. Ich habe vor zwei Jahren meinem Vater versucht klarzumachen, dass er damit endlich aufhören soll. Gerade aus diesem Grund hat man ihn erwischt und ihm die wertvolle Freiheit genommen. Es ist schade, dass er keine Einsicht gewonnen hat. Gut, vielleicht hat er es, aber will es nicht hinnehmen. Was hat er gesagt? Es sei sein Gebiet? Stärken ignoriere man nicht? Irgendetwas in diese Richtung. Dafür sei er immerhin bekannt geworden. Er würde es nicht mehr schaffen, den früheren Status zu erlangen, aber in die Nähe davon ... das würde er schaffen. Seit dem Zusammenbruch seines Systems arbeitet er mit niemand mehr zusammen. Dieses Vertrauen ist bis auf den Kern gebrochen.
„Eigentlich könnte ich ... Ja. Doch. Wäre besser." Ich schenke mir ein schiefes Lächeln. Stopfe den Hausschlüssel in die andere freie Hosentasche. Ich müsste alles an mir haben. Die Papiere für das Auto klemmen hinter der Sonnenblende.
Es tutet erst, während ich aus dem Haus gehe. Hoffentlich wird dieses Gespräch mich ein wenig ablenken. Ich bleibe auf der Stufe stehen. Da, er hat abgenommen. Im Hintergrund Musik. Diese fremdsprachige, die er im Audi gehört hat.
„Jess", eröffnet er das Gespräch. Dieser erfreute Funken kann keineswegs gespielt sein. „Wie schön, dass du anrufst. Was verschafft mir denn diese Ehre?"
Ich hüpfe von der Stufe und gehe zu dem schlummernden Monster in dem Carport. Allein der Anblick erhöht ein wenig den Herzschlag. Wie es sich wohl anführt, mit dem Teil über eine leere Autobahnstrecke zu fahren? Wenn die Nadel dabei das Ende des Tachos ankratzt?
„So sicher weiß ich es selbst nicht", gebe ich unberührt zurück und streiche mit den Fingerkuppen über die breite blaue Motorhaube. „Wo genau wohnst du eigentlich? Nicht, dass ich quer durch Köpenick fahre und im Endeffekt komme ich in Pankow wieder 'raus." Ich mustere den schwarzen Akzent inmitten der Haube. Eine saubere Trennung, die für ein gleiches Größenverhältnis beider Seiten sorgt.
„Nicht, um ein bisschen zu quatschen? Spricht immerhin nichts dagegen." Die Musik ist leiser gestellt. „Hätte nicht erwartet, dass du immer noch mit dem Treffen dabei bist." Ich blicke in den Innenraum. Zu den beiden Sportsitzen mit der blauen Stickerei in der Kopfstütze. Der Name dieses Luxusautoherstellers und das Modell, welches mein Vater besitzt. „Eppenbrunner Weg achtundvierzig. Ganz am Ende von Köpenick. In der Nähe der Dahme."
Ich bin ein wenig überrascht. Mit dieser Gegend kann ich durchaus etwas anfangen. Weiter nördlich liegt der Müggelsee. Ein sehr schöner Ort, vor allem wenn man den ganzen Nachmittag faul in der Sonne liegen will. Ich bin mit Elise jedes Wochenende dort hingefahren.
„Lustiger Zufall. Elise und ich fahren sehr oft zum Müggelsee, um zu baden", meine ich lächelnd und sehe in den Innenraum des Fahrzeuges. Muss beinahe die Nase ans Glas pressen, um überhaupt etwas erkennen zu können. Nehme als Erstes das schimmernde silberne Logo auf dem Lenkrad wahr – ein umgedrehtes E, fließend übergehend in das B. „Ist die Gegend nicht teuer zum Wohnen?" Ich richte mich auf und nähere mich dem breiten, leicht an den Enden abgeknickten Heckspoiler. „Du hast mitbekommen, wie ich die Verabredung mit Elise abgesagt habe. Es wäre dämlich, würde ich unseres jetzt auch noch absagen." Ich linse auf die Oberfläche des stattlichen Flügels. Blau auf schwarz. Wieder der Name des Herstellers.
„Weißt du was? Nimm Badesachen mit. Vielleicht können wir doch zum See fahren. Können ja dort entspannen." Damit ich deinen sicherlich durchtrainierten Körper anstarren kann? Verzichte. Allein die Vorstellung, wie er oben ohne vor mir steht, jagt den Herzschlag schneller voran. „Nur wenn du möchtest. Wir können auch in der Bude 'was machen. Hab' ein paar Spiele von Zuhause mitgenommen." Bestimmt irgendwelche für eine PlayStation. „Nö. Tatsächlich nicht. Je weiter du in Berlin kommst, desto teurer wird's. Aber Köpenick ist ein günstiger Fleck. Merkst du vor allem daran, dass hier sehr viele alte Leute und Familien mit Kleinkindern wohnen."
Mein Vater hat mir erzählt, dass der Kraftstoffverbrauch dieses Ungetüms extrem ins Geld geht, sollte er durch die Stadt fahren. Unglaubliche fünfunddreißig Liter auf einhundert Kilometer. Kein Wunder, dass er entweder meinen oder den Wagen meiner Mutter nimmt, um durch die Städte zu fahren. Ich habe scherzhaft gefragt, warum er ihn überhaupt gekauft hat, wenn er doch so teuer sei, was die Unterhaltung anginge. Man habe ihn früher mit so einem Fahrzeug assoziiert. Mit dem Vorgängermodell. Sie sollen sich wieder an ihn erinnern.
„Baden ist heute nicht. Keine Lust", lehne ich etwas zu schnell ab. Ich habe Lust, keine Frage. Er muss nicht den wahren Grund wissen. „Lass' uns bei dir so'n lustigen Nachmittag machen." Warum hat er ihn aus der Garage geholt?
„Nicht? Schade eigentlich. Ist nämlich echt warm. Aber wenn du es so willst – nehme ich hin." Mikołaj geht wohl durch die Wohnung. „Mein Bruder ist zum Glück nicht da. Kommt gegen acht wieder. Hat Spätschicht. Haben also alles für uns allein." Ich höre genau hin. Keine anzügliche Note.
Ich entferne mich von dem Monster und gehe zu meinem Golf. Es ist egal, wie lange er draußen steht: Sobald ich auch nur die Tür öffne, habe ich das Gefühl, mich gleich in einen Backofen zu setzen. Warum habe ich mir keine kurze Hose angezogen? Super, jetzt kann ich in dieser wenigstens hellen Jeans losfahren. „Bist du gerade auf dem Weg?"
Ich atme laut aus, als mich auf den Sitz fallen lasse. Ist das vielleicht warm. Stelle das Handy auf Freisprechmodus um, während ich mithilfe von Google Maps die genannte Adresse eingebe. Fünfunddreißig Minuten, falls der Verkehr zu extrem sein sollte, dann eine Dreiviertelstunde. Höchstens.
„Wie schön, dann kann ich nachher so laut fluchen, wie ich will." Ich lache leise und befestige das Handy in der Halterung. Es ist zudem mit dem Wagen verbunden. „Wollte gerade los. Eine Sache wäre da noch: Gibt's bei dir ausreichende Parkplätze?" Wenn ich nach Berlin will, muss ich mindestens eine halbe Stunde für die Suche einplanen. Da kann das eigene Auto gut und gerne sehr weit von einem entfernt stehen. Das Längste, was ich bisher gehabt habe, ist ein Fußweg von fünfzig Minuten gewesen.
„Klar. Für jedes Haus eine eigene Sparte. Gäste sind damit eingeplant. Und selbst wenn: Vorm Haus gibt's eine leere Fläche, weil da 'mal 'n ganzer Block abgerissen worden ist. Du wirst also einen finden." Ich schließe die Tür. Die Fensterscheiben gleiten nach unten, nachdem ich den Motor gestartet habe. „Jetzt kann ich mich auf 'was freuen." Sein Gelächter hört sich ebenfalls echt an. Ich lenke den Wagen zum Tor. „Also bis gleich?"
„Dann können wir uns gerne weiterunterhalten." Wenn ich ehrlich bin, verspüre ich selbst Freude. „Natürlich. In dreißig bis fünfundvierzig Minuten werde ich da sein." Mal schauen, ob sich mein Eindruck von ihm ein zweites Mal vollständig verändern wird.
„Perfekt. Bis gleich."
„Natürlich. Du kannst auf mich zählen." Ich sollte nicht so engstirnig sein. Sollte eigene Impressionen sammeln und mich nicht ständig beeinflussen lassen. Mir gehen Elises Worte fast aus dem Kopf. Sie haben sich in irgendeinem hinteren Winkel verzogen. Ich sollte Misstrauen bewahren. Zumindest in einem gesunden Maß. Ich kenne ihn schließlich erst seit heute. Darf zudem nicht vergessen, wie er sich in der Schule aufgeführt hat. Soll man das meinen bescheuerten Hormonen sagen. Vernunft gegen Gefühlschaos. Ist doch klar, wer da die Zügel in den Händen hält. Ich finde es sogar bedauerlich, dass ich seine Stimme nicht mehr hören kann. Ich schüttele langsam den Kopf. Steige aus. Gebe erneut die lange Ziffernkombination ein, um wieder einzusteigen.
Wie kann ein Junge jemand so schnell den Kopf verdrehen? Warum haben Gefühle kein Zeitgefühl? Ich soll mir Zeit lassen. Klar, würde ich ganz gern. Ist ja nicht so, dass das gerade bei mir nötig ist. Ich verlasse den Hof. Erkenne im Innenspiegel, wie es sich mechanisch zuschiebt. Da kommt nicht einmal das Geschoss einer tödlichen MP durch (Wir haben es einmal ausprobiert. Mein Vater hat es mir unbedingt beweisen wollen. Man kann, wenn man sich sehr nahe an das Tor begibt, die leichte Delle erkennen.
Los geht's. Ich müsste für einen bestimmten Abschnitt die A10 befahren. Ich lehne mich zurück. Spiele die Musik ab. Wenn man mich sähe, käme man nicht auf die Idee, dass ich ein überzeugter Anhänger von Metalcore, Metal und generell Rock bin. Ich liebe das raue Geschrei, das passionierte Gebrüll. Die kräftigen Gesänge und die dazu harmonierenden Instrumente. So auch heute. Ich lächele zufrieden. Spüre, wie sämtliche Anspannungen aus mir gewichen sind. Dadurch, dass mein Wagen eine gesonderte Soundanlage eingebaut bekommen hat, dröhnt es förmlich. Ein Paradies wie auf Erden. Die Route schlängelt sich durch Teile des Spreewaldes. Gerade im Herbst eine wunderschöne Idylle, die einen sämtliche Sorgen und Gedanken nimmt. Es kann durchaus vorkommen, dass ich für mehrere Stunden draußen spazieren bin.
Der Fahrtwind saust durch den Innenraum des Golfs, als ich die Nadel auf die achtzig treibe. Ich lege den linken Arm auf die Tür, berühre mit den Fingern die Außenverkleidung. Es ist angenehmer geworden. Die Hitze drückt nicht mehr.
Ich bin durchaus gespannt, was mich gleich erwarten wird.
-
Länger als vierzig Minuten habe ich nicht gebraucht. Ich habe sogar einen Parkplatz vor dem kleinen Mehrfamilienhaus finden können. Eigentlich vermeide ich dieses Manöver so gut es geht. Zwar stehe ich völlig schief in der Lücke, aber jeder der beiden käme ohne Schwierigkeiten auf die Straße. Ich steige aus. Schiebe Handy und Schlüssel in die Hosentaschen. Sehe mich um. Sehr viele Einfamilienhäuser. Eine idyllische und ruhige Gegend. Modern und saniert. Viele Fahrzeuge stehen auf der Straße. Einige auf dem breiten Bürgersteig. Von irgendwo schreien Kinder. Eine Schar von ihnen läuft über die Straße, zu einem Backsteinhaus, das schräg gegenüber von mir liegt. Dort steht schon einmal Mikołajs Audi. Auf der leeren Fläche, die er mir vor der Fahrt genannt hat. Ich lächele kurz und widme mich dem einstöckigen Haus. Er müsste oben die Wohnung haben. Langsamen Schrittes trete ich auf den Gehweg. Das Einzige, was nicht so angenehm ist, ist diese überquellende Mülltonne, welche einen sehr penetranten Geruch verströmt.
Der Eingang ist liebevoll gestaltet worden. Eine zweistufige Treppe mit einem schlichten grauen Geländer. Auf den Stufen jeweils eine kleine Laterne. Unterhalb des Klingelschildes und neben der Tür hat man zwei Blumentöpfe platziert. Die rechte hat ihre rote Blütenpracht ausgetragen.
Wie heißt Oliver eigentlich mit Nachnamen? Das hat Mikołaj mir nicht gesagt. Schließlich ist dort kein Nowak niedergeschrieben worden. Ich hebe kurz die Augenbrauen. Also muss ich nachfragen. Eine Nachricht mit meinem Anliegen. Welcher Name denn der richtige sei. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Sein Halbbruder hieße Bosser mit Nachnamen. Der Summer ertönt, und ich drücke die weiße Tür mit dem polierten Glas auf. Betrete den kühlen Flur. Neben den Briefkästen hat man einen Kinderwagen abgestellt. Ich bin verblüfft, wie sauber es hier ist. Wenn ich daran denke, in was für ein Haus Kira einst gezogen ist ... Da ist der Geruch noch das Harmloseste gewesen.
Die Wohnung befindet sich in der obersten Etage. Ich gehe los. Sehr sauber. Ich habe das Gefühl, dass nirgends ein Staubkorn auf dem Boden liegt.
„So habe ich auch geguckt, als mir diese Sauberkeit aufgefallen ist." Mikołaj lehnt im Türrahmen. Er hat sich umgezogen. Ist es komisch, wenn ich sage, dass ich beinahe über die letzte Stufe gestolpert bin? Nur weil er ein schwarzes enganliegendes Achselshirt trägt? „Ich kenn's nur vollgemüllt. Es stinkt überall. Die Wände sind dreckig, und die meisten Briefkästen gibt's nicht mehr." Er schenkt mir ein ehrliches Lächeln. „Es ist wirklich schön, dass du gekommen bist. Komm 'rein und fühl' dich wie zu Hause." Ich schlüpfe aus den Schuhen und husche an ihm vorbei. „Möchtest du 'was trinken? Hab' vorhin neue Eiswürfel gemacht."
„Meine Cousine hat 'mal in so 'nem Haus gewohnt. Mich kann echt nichts mehr erschrecken." Die Wohnung ist für eine Person unverhältnismäßig groß. „Wohnt dein Bruder allein hier?" Ich sehe mich um. Begutachte die weißen Wände, die vereinzelten Bilderrahmen. „Ja, ein Wasser wäre nett. Mein Auto ist 'ne Sauna gewesen."
„Jepp. Er hat 'ne Freundin. Die kommt manchmal zu uns. Ist auch eine wie er. Sie versucht zwar, freundlich zu sein, aber ich hab' schnell gemerkt, dass sie mich nicht mag." Er geht in die Küche. Ich starre seinen Rücken an. Trainiert, von starken Strängen durchzogen. „Um Ärger zu vermeiden, besucht Oliver sie. Sie kommt, wenn's gut läuft, höchstens alle zwei, drei Wochen zu uns." Ich setze mich auf den einen Stuhl hin. Sie sehen wie Barhocker aus. Die Küche ist in einem angenehmen Hellblau gestrichen worden. Auch hier sämtliches Mobiliar in hellen Farben gehalten. Der Boden besteht wie im Flur aus schwarzem Laminat. „Ich mag sie auch nicht. Ist mir viel zu verklemmt und ernst. Die versteht keinen Spaß." Mikołaj grinst etwas, während er nach einem großen Glas sucht. „Ich mache aus der Sache kein Geheimnis. Ich habe einen kleinen Grasvorrat im Zimmer. Zum Abschalten. Sie hat mich dabei erwischt. Also wäre ich nicht Olivers Bruder, hätte die mich längst mitgenommen." Seine Arme sind definiert. Die Muskeln regen sich bei jeder Bewegung. „Na ja, so viel dazu." Er überreicht mir das Glas mit den Eiswürfeln. „Hier."
„Eigentlich ist es auch etwas verständlich. Es ist ihr Job, solche Sachen zu verfolgen. Ich kann mir gut vorstellen, dass du das Gras ohne Attest besitzt." Ich nehme einen großzügigen Schluck. Erschaudere leicht. „Ist mir auch egal. Musst du wissen, was du damit machst. Ich halte nicht sonderlich viel von Drogen." Der Neunzehnjährige nickt langsam. „Warum mag sie dich eigentlich nicht? Was hast du denn gemacht, dass du so'n Ruf bei ihr hast?"
„Weiß ich. Ich mach' auch daraus kein Drama. Die wartet eh nur darauf, bis ich anfange, komplett querzuschießen." Er deutet zum Wohnzimmer. Ich folge ihm. Obwohl die Balkontür offen steht, ist es warm. „Fang' an, ständig polnisch oder russisch zu reden, und du machst dich unbeliebt. Sie mag meinesgleichen nicht. Liegt daran, dass wir vermehrt unter Drogeneinfluss fahren und viel pöbeln. Hört sich sehr allgemein an, aber so habe ich sie zumindest verstanden. Tja, muss sie eben damit leben." Er breitet ein wenig die Arme aus. „Fühl' dich wie zu Hause."
Es ist gemütlich eingerichtet. Eine cremefarbende Couch, davor ein kleiner Glastisch, auf welchem Dekoration in Form eines kunstvollen Kerzengestecks thront. Mikołajs Handy liegt dort. Zusätzlich eine angebrochene Wasserflasche mit Sprudel. Der Flachbildfernseher auf der niedrigen Anrichte spielt russische Musik ab. Mikołaj hat wohl sein Handy mit dem Gerät verbunden.
„Heißt es nicht, man sollte neutral ein?" Das Lied hört sich für mich schön an. Eine ruhige Stimme, trotz der monotonen Richtung passt sie hervorragend zum Tempo und Instrumentalischen. Ich kann den Titel nicht entziffern. Nur den Interpreten. Ich nehme das Glas mit zum Balkon. Der Pole hat sich dort niedergelassen. Ich kneife ein wenig die Augen zusammen und setze mich ihm gegenüber. Stelle das Glas auf dem klappbaren Holztisch ab.
„Offiziell ja." Mikołaj lehnt sich zurück und streckt die Beine aus. „Soll sie machen. Sie wird noch sehen, was sie davon hat." Die Haare sind verstrubbelt. Werden von keinerlei Wellen durchzogen. Anscheinend muss er geduscht haben. Es ist eigenartig, ihn mit glatten Haaren zu sehen. „Was hat dein Vater gesagt, bevor du zu mir wolltest?"
„Was soll er schon sagen? Ich hab' ihm nichts erzählt." Ich überschlage die Beine. Allerdings kann ich nichts anders, als Mikołaj zu beobachten. Er trägt kurze blaue Sportshorts. Läuft barfuß. Dieser Kerl wird eindeutig vom schweren Sport geprägt. „Man muss nicht alles wissen." Ich lausche der Musik. Der melodische Teil beflügelt mein Gemüt. „Das Lied ist echt schön."
„Oh ha, okay." Der Pole behält die Arme oberhalb seines Kopfes und lässt die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht tanzen. „Nicht, dass er es über drei Ecken herausfindet. Könnte vielleicht problematisch werden." Ein Lächeln setzt sich auf die schmalen Lippen. „So schön, dass ich es bereits zum vierten Mal höre. Soll ich es dir schicken?"
Kann ich nachvollziehen.
„Wird er nicht. Man kann mir nicht auf Dauer den männlichen Kontakt verbieten." Ich erwidere seinen Blick, als er sich erhoben hat. „Das wär' echt nett von dir." Ich greife nach dem halbvollen Glas. Nehme einige Schlucke. Behalte es umfasst. „Ich kann zwar kein Wort verstehen, aber die Melodie zählt."
„Dann mach' ich's." Er gesellt sich erneut zu mir und nimmt den ursprünglichen Platz ein. „Der Text ist völlig harmlos. Eine Person fängt wieder bei null an. Will einen Neustart wagen. Hat nämlich Freunde, Familie und Arbeit hinter sich gelassen. Sie will sich mit dem Neustart selbst finden." Mikołaj tippt auf dem Handy herum. „Da gibt's nichts mit Drogen, Waffen, Gewalt oder so'n Scheiß."
„Ziemlich mutig", meine ich und leere das Glas. „Einen Neustart zu wagen."
„Kostet Überwindung, aber ist eine einmalige Chance." Man erhält einen Überblick von den kräftig grünen Wäldern, von einigen Häusern. Es ist ruhig, bis auf die einigen Ausnahmen. „Ich seh' den begrenzten Wechsel zu deiner Schule auch als eine Art Neustart an. Neues Umfeld, eine andere Sprache ... Da komme ich meinen Gewohnheiten auch nicht mehr nach." Er legt das Handy auf den Tisch. „So, das Lied müsste angekommen sein."
„Danke sehr." Ich kann in den Augenwinkeln sehen, wie Mikołaj eine Zigarette aus einer Schachtel nimmt. „Ist die Idee einfach so gekommen? Also mit dem Austausch." Ich zögere erst, als er mir die blau-schwarze Schachtel entgegenhält. Ich habe noch nie geraucht. Habe es auch nicht vor. Doch jetzt hätte ich die Chance, völlig neue Dinge auszuprobieren. Neue Grenzen kennenzulernen. Und ich ziehe eine Stange heraus. Es wird Zeit, über sich hinauszuwachsen.
„Nicht spontan. Ich habe schon länger darüber nachgedacht." Der Neunzehnjährige entzündet sie. Drückt mir dann das Feuerzeug in die Hand. „Vor anderthalb Jahren habe ich mir zum ersten Mal Gedanken um meine Zukunft gemacht. Was will ich machen? Wo will ich was machen? Dass ich nicht in Polen bleiben werde, ist für mich klar gewesen. Es ist nicht so, dass ich das Land hasse. Tue ich nicht. Nur ... Ich kann mich nicht identifizieren. Vielleicht liegt's daran, dass die Atmosphäre da eine ganz andere ist als hier in Deutschland. Mit Berlin, Hamburg oder Kiel kann ich mich beispielsweise viel mehr identifizieren." Dünne Fäden schlängeln sich empor, als Mikołaj den ersten Zug nimmt. Ich hadere mit mir. „Wie kommt's eigentlich, dass dein Vater dir verbietet, dich mit Jungs zu treffen? Hat er Angst, dass etwas passieren wird?" Ich führe die Stange zu den Lippen. Überwinde mich. Verziehe sogleich das Gesicht, als der Rauch die Lungen herab wandern will. Ich huste kurz. „Kleiner Tipp: Rauch' am Anfang nicht auf Lunge. Dann passiert genau das, was du jetzt machst. Einfach dran ziehen." Er weiß, dass ich noch nie geraucht habe.
„Ah ja. Danke für den Tipp." Ich räuspere mich laut. „Kann man so sagen. Es ist der Einfluss. Die Angst, dass ich verletzt werden könnte. Dass ich mich grundlegend verändern könnte." Ich tröpfele die Asche in den Becher auf dem Tisch.
„Dass du nicht mehr die kleine, liebe und freundliche Tochter bist", bringt es Mikołaj auf den Punkt. Ich sage nichts dazu. „Die typische Angst eines jeden Vaters." Der Rauch steigt bei ihm aus der Nase. „Ich verübele es niemanden. Irgendwo ist immer ein Fünkchen Wahrheit. Du jetzt 'was mit mir zu tun. Ich bin kein Vernünftiger. Ich hab' dir sogar 'ne Zigarette angedreht."
„Du, ich hätte auch ablehnen können", erwidere ich ruhig. Ein anderes Lied läuft, welches die Sommerlaune betont.
„Das stimmt auch wieder." Er sieht mich an. „Du willst wohl neue Grenzen kennenlernen, was?"
„Spricht da ein Experte?"
„Sozusagen, ja." Er drückt den Stummel im Becher aus. Ich habe noch nicht einmal die Hälfte rauchen können. „Gerade mein Vater will verhindern, dass ich die gleichen Fehler wie er damals mache. Bei ihm hat's auch mit ... Ja. Auch mit kleineren Bagatelldingern angefangen. Hier und da 'was mitgehen lassen. Sich mit anderen prügeln. Ohne Führerschein fahren. Mache ich natürlich nicht. Er ist am Ende auf die völlig schiefe Bahn geraten."
„Inwiefern?"
Der Neunzehnjährige redet sich um den eigentlichen Punkt herum. Ich habe es gleich festgestellt.
„Aus kleineren Diebstählen wurden später Raubüberfälle. Das Schnellfahren zu einer richtigen Berufung." Mir kommt der Porsche in den Sinn. „Ich habe bei dir das Gefühl, dass du einen Punkt, den ich eigentlich für mich behalten will, längst durchschaut hast." Ich höre mit dem Rauchen auf. „Ich glaube nämlich, dass du weißt, wer ich eigentlich bin."
Soll ich mit der Wahrheit herausbrechen?
„Ist das der Grund, warum du nicht versuchst, mich 'rumzukriegen wie deine Mädels? Weil du der Meinung bist, ich hätte dein Geheimnis durchschaut?" Die Anhaltspunkte verdichten sich immer mehr.
„Nicht direkt", antwortet Mikołaj ruhig. „Ich möchte dich eher kennenlernen, weil du dich von den anderen unterscheidest. Du gehst auf Flirtversuche nicht ein und kannst gut differenzieren." Dadurch, dass die Pupille sich extremst verkleinert hat, wirken die Augen beinahe vollständig weiß. „Du bist für mich interessant."
Ich behalte die Wahrheit für mich.
„Ist das so?", versuche ich, vom Thema abzulenken. Ich hoffe inständig, dass er darauf anspringen wird.
„Ja", räumt Mikołaj die Bestätigung ein und lächelt ein wenig. „Ich kann mich mit dir normal unterhalten, ohne dass du mich ständig auf die Augen ansprichst oder mir sagst, wie hübsch ich aussehe." Dafür kann man einen Monolog führen. Ich habe gerade so viele Bilder im Kopf und bin nebenbei ziemlich froh über die Tatsache, dass die nur für mich bestimmt sind.
„Ich kann auch gerne den Spieß umdrehen."
„Oh nein. Lass' das bitte sein." Der Pole lacht, steckt mich damit an. „Ich will mir das nicht anhören. Mach' einfach Sport, achte ein bisschen auf die Ernährung und hoffe, dass du gute Gene abkriegst. Mehr ist das nicht." Das Handy klingelt los. „So, wer nervt mich jetzt?" Er nimmt sein Handy. „Okay, da muss ich 'ran." Er nimmt den Anruf ab. Es ist sein Vater. Aber statt polnisch zu reden, bleibt er der deutschen Sprache treu. „Was gibt's denn?" Mikołaj scheint zu überlegen. Sieht mich ab und zu an. „Du, ich bin in Deutschland. Hier wird nicht polnisch ... Nein. Mach' ich nicht. Wenn du jetzt meinen musst, polnisch zu sprechen, mach' es. Ich werd' auf Deutsch antworten." Mikołaj lacht los. „Interessiert mich doch nicht." Ich nehme währenddessen mein eigenes Handy zur Hand. „Ja, wie soll der Tag gewesen sein? Normal. Hab' mich schnell eingelebt. Die haben kein Problem mit mir. Hab' sogar zwei Leute kennengelernt, die mir sympathisch sind. Ja, ein Mädchen ist auch dabei und nein, ich habe vor, sie kennenzulernen. Ist kein schneller Spaß für zwischendurch." Er meint mich. „Ein Halbrusse. Ivan. Ist ein ganz Angenehmer. Der versteht mich wenigstens." Mikołaj lehnt sich an die weiße Brüstung. „Oliver ist arbeiten. Hat heute Spätschicht. Seine Ische kommt heute nicht. Ja, zum Glück. Ich mag sie nicht. Beruht auf Gegenseitigkeit." Keine Nachrichten. „Wie geht es euch? Was sagt Łukasz?" Er sieht mich an. Kann nicht anders, als ihn anzuschauen. „Einmal Lauch, immer Lauch ... Ja, sorry. Aber ist doch so." Ein angedeutetes Lächeln. „Schön zu hören. Mamas Audi hat keine Schäden, falls du es wissen willst. Ich kann also Verantwortung übernehmen. Ach und ... Kann ich beim nächsten Mal ... Och, Mann." Ein belustigtes Schnauben meinerseits. „Ich werde dich daran erinnern. Ja, verlass' dich da drauf." Das Telefonat neigt sich zügig dem Ende zu. „Ja, ist okay. Mach' ich. Sobald der Unterricht vorbei ist. Nur für diese Woche? Halt' ich aus." Der Neunzehnjährige lacht leise. „Richte Mama und Łukasz meine besten Grüße aus."
„Das geht ja schnell", meine ich. „Dein Vater?"
„Telefonate werden bei uns grundsätzlich kurz gehalten. Gibt immerhin nichts Wichtiges zu erzählen." Mikołaj setzt sich hin. „Jepp. Hat wohl nichts zu tun. Du hast mitbekommen, dass er jetzt von mir erwartet, dass ich ihn zumindest für diese Woche jeden Tag anrufe." Er seufzt. „Finde ich etwas übertrieben, aber was soll's." Er nimmt das leere Glas wahr. „Soll ich dir 'n neues Glas holen?" Ich lächele ihn an. „Ich deute es als ein Ja." Der Neunzehnjährige steht amüsiert auf. „Nicht weglaufen. Bin gleich wieder da."
„Ich doch nicht", gebe ich belustigt zurück und überreiche ihm das leere Glas. „Danke sehr schon 'mal."
„Dafür nicht." Er tritt in das Wohnzimmer. Lässt mir für einige Minuten allein. Genug Zeit, um kurz das Gesprochene zu reflektieren. Sämtliche Punkte haben meine Annahme bestätigt. Jetzt bräuchte ich nur noch eine Bestätigung von ihm. Ich finde, dafür ist es bisher viel zu früh. Ich muss erst einmal sämtliche Erkenntnisse sortieren. Raubüberfälle und illegale Autorennen. Ein roter Porsche aus der GT-Reihe. Die polnische Nationalität spielt eine sehr gewichtete Rolle. Sein Halbbruder hat den Namen seiner Mutter angenommen. Bosser. Ich atme tonlos aus. Das muss ich erst einmal alles sacken lassen. Da wird gewiss mehr hinzukommen. Diese Liste ist nicht vollständig.
Und trotzdem fange ich an, Mikołaj zu mögen.
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