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06 - Risse in der Fassade

„Ich habe vor, mich mit Elise zu treffen. Wollten höchstwahrscheinlich zu mir", antworte ich und habe völlig die Zeit vergessen. Ich müsste zurück. Die Aufgaben warten. „Mal sehen, was dann kommen wird. Vielleicht baden fahren. Eis essen. Entscheiden wir spontan." Ein Schüler taucht auf dem Parkplatz auf. Einer, der zu einem schwarz-roten Motorrad geht. „Und du? Wie sieht dein Fahrplan aus?"

Ich fühle mich keineswegs unwohl. Vielmehr entspannt. Nicht verklemmt, wie ich anfangs befürchtet habe. Ich habe mir nur vertrauen müssen. Es käme von allein. Diese Gesprächsführung, die ich über all die Jahre vermieden habe.

„Baden hört sich echt gut an. Könnte ich auch 'mal wieder machen. Ich hocke ansonsten gefühlt den ganzen Tag im Fitnessstudio oder in der Bude. Um mein Kampftraining aufzunehmen. Kann ja schlecht nach Łagów fahren, da würde der Tank auf Dauer nicht mitmachen." Er scheint zu überlegen. „Mein Vater übt in der Regel jeden Tag mit mir. Mindestens zwei Stunden. Da ist man jedes Mal fertig mit der Welt."

Ich werde erneut hellhörig.

„Also wenn du magst, kann ich dir in den nächsten Tagen gerne ein paar nette Ecken zeigen." Die Aufgaben sind mir egal geworden. Soll ich ruhig eine sehr schlechte Bewertung einsacken. Davon wird die Welt nicht untergehen. „Dein Vater ist also dein Trainer. Ist er selbst aktiver Kampfsportler?" Um keinerlei Verdacht zu erregen, ergänze ich mild: „Ich wechsele ständig zwischen Dojo und Zuhause. Meiner übt auch mit mir."

„Seit er siebzehn ist. Eine sehr anstrengende Mischung aus Kickboxen und Muay Thai." Er fährt mit der rechten Hand durch die dunkelblonden Haare. „Ich hab' ihn mal gefragt, woher er das alles kann. Antwort ist gewesen, dass er's sich alles selbst beigebracht hat. Ein paar Techniken von jemanden, der irgendwo in der Ukraine lebt."

„Und ... wie alt ist dein Vater? Damit ich eine ungefähre Vorstellung habe", füge ich zügig hinzu, als ich Mikołajs fragenden Blick wahrgenommen habe.

„Ach, jetzt habe ich es auch verstanden." Er lächelt leicht. „Dreiundvierzig. Hat also gute sechsundzwanzig Jahre hinter sich. Da kann man einiges lernen." Stolz umhüllt den Ton der Stimme. „Ich habe mehr oder weniger auf seinen Bitten hin damit angefangen. Sollte mich immer verteidigen können, falls es hart auf hart kommt. Ich bin ihm echt dankbar - bisher habe ich mich sechsmal ernsthaft verteidigen müssen. Hat auf meiner Schule für etliche Schwierigkeiten gesorgt. Die wollten mich von der Schule werfen, weil ich angeblich so aggressiv sei." Der Pole beobachtet einige Spatzen, die auf dem Dach von Zaynebs Auto herum hüpfen. „Na ja, außerdem muss 'wer den Bruder beschützen. Łukasz ist das komplette Gegenteil von mir." Er holt von Neuem das Handy hervor. Schaltet es an. Dieses Mal habe ich einen genaueren Blick auf das Display werfen dürfen. Sein Vater ist nicht viel größer als er selbst. Vielleicht um die eins siebzig. „Sport ist bei ihm nicht wichtig. Lieber zocken, in der Bude hocken und extrem viel für die Schule machen. Ich hab' manchmal das Gefühl, dass er keine ... realen Freunde hat." Er hält es mir hin. „Allein schon, wenn man uns sieht, kann man eindeutige Unterschiede erkennen."

Stimmt. Łukasz, der linke, ist deutlich schmaler und schlanker geschnitten als sein Zwillingsbruder. Die Frisuren gleichen sich. Nun, das ist auch das Einzige, was bei denen gleich ist. Łukasz' Gesicht ist viel kantiger. Die Augen ebenfalls weißlich. Er hat Mikołajs Lächeln. Würde er mehr Sport treiben, sich auch einen Expander stechen lassen, hätte man keinerlei Differenzen erkannt.

„Ihr seid eineiige Zwillinge, und trotzdem unterscheidet ihr euch sehr", sage ich ein wenig verblüfft und sehe vom Gerät auf. „Interessant." Eine Frage bahnt sich an. „Wie ist eigentlich das Verhältnis zwischen dir und Łukasz? Man sagt immer, eineiige Zwillinge hätten eine ganz besondere Verbindung zueinander. Man merkt also quasi, wenn es dem einen nicht gut geht."

„Und das nur, weil ich andere Interessen habe und verschiedene Weltansichten." Der Neunzehnjährige zeichnet die Konturen des Kofferraums nach. „Würde er mehr trainieren und essen, sähe er genauso aus wie ich." Ein Schulterzucken. „Na ja, irgendwer in der Familie muss ja den Lauch spielen." Er grinst etwas. „Wie es sich für Brüder gehört. Sehr, sehr gut. Ja, da ist echt 'was dran. Ich merk' sofort, wenn's ihm nicht gut geht. Da gibt's so'n Gefühl, das sich bisher immer bestätigt hat." Mikołajs gähnt kurz. „Ich habe keine Lust auf die restlichen Minuten in Bio. Eigentlich sollten wir so langsam zurückgehen. Unsere Sachen liegen dort noch."

„Und wie merkst du das?" Ich schiebe mich von der Kante. Beobachte den Polen, wie er den Audi absperrt. Der Schlüssel taucht in der rechten Hosentasche ab. „Niemand hat Lust auf diesen Scheiß. Aber da müssen wir leider durch." Ich blinzele schnell. „Du scheinst dich gut mit Ivan zu verstehen, was?"

„Ich kann dieses Gefühl ganz schlecht beschreiben. Es ist einfach da. Höhe des Herzens." Mikołaj setzt sich in Bewegung. Ich gehe neben ihn her. „Ein ganz eigenartiger Druck." Nur noch dreißig Minuten. „Ist ein Netter. Im Gegensatz zu Vic und Eric oder dem Rest dieser Bande. Glaub', es ist der Tatsache geschuldet, dass Ivan ein Halbrusse ist. Macht's jetzt nicht unbedingt leichter für mich, weil ich ungern an die Heimat erinnert werden will ... Doch er ist gut drauf. Unkompliziert und für einen kleinen Scheiß zu haben. Find' ich gut."

„Du kannst russisch?", frage ich neugierig nach.

„Genauso fließend wie englisch und deutsch", erwidert Mikołaj lächelnd. „Hat mein Vater mir beigebracht. Der ist ein richtiges Genie, was Sprachen angeht. Tschechisch und slowenisch kommen bei ihm noch hinzu. Dafür hätte ich nicht mehr die Ausdauer. Eins reicht." Er wirft mir einen Blick zu. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass mein Vater mich ... zu intensiv aufs Leben vorbereitet hat. Dieses ständige Trainieren, auch wenn ich gar keinen Bock habe. Das wiederholte Auffrischen sämtlicher Sprachkenntnisse ... Du kriegst 'n Knall, wenn man's auf Dauer durchstehen muss. Und dann diese ganzen Predigten, dass ich es doch ernst nehmen müsse. Man wisse nämlich nie, was einen erwartet. Du hast eigentlich nie Ruhe. Einer der Gründe, warum ich von Zuhause weg will. Es nervt alles."

„Lustigerweise ist es bei mir genauso." Die ersten Schüler kommen uns entgegen. Viele aus den unteren Stufen. Kleine Grüppchen, die sich lautstark unterhalten. „Spanisch und englisch sind meine Schlüsselsprachen. Alles von der gleichen Person beigebracht bekommen. Hm, also wo wir schon 'mal dabei sind: Bei mir kann man sehr gut englisch, spanisch und französisch sprechen. Letzteres hackt sehr bei mir. Kriege ich mir einfach nicht in den Kopf 'reingeprügelt. Umso schöner für mich, dass das Polnische sehr gut sitzt."

„Wie bist du eigentlich darauf gekommen, polnisch zu erlernen? Normale Leute vermeiden es, sollte die Chance bestehen." Mikołaj lacht leise. „Klar, ist sehr kompliziert, aber wenn man's einmal begriffen hat, wird man andere Sprachen ganz schnell kapieren."

„Ich finde ... die Sprache sehr interessant. Und ich liebe Herausforderungen." Ich ergänze nicht, dass ich zeitgleich meinen Vater ärgern will. Sämtliche sprachliche Komponenten, die insbesondere im östlichen europäischen Raum angesiedelt sind, sind für ihn ein Dorn im Auge. Ich habe einst nachgefragt, was ihn denn konkret daran störe. Bis heute keine Antwort. „Tja und jetzt kann ich mich auch mit dir unterhalten, solltest du meinen, deine Sprache zu sprechen. Ich würde selbst davon profitieren."

„Sag' ich doch, dass du anders bist." Mikołaj schaut zu den höheren Etagen empor. Ein dünnes Stimmgewirr oder die der Lehrer. Irgendeine Klasse scheint einen Film zu gucken. „Macht dich besonders auf deine Art." Die Schüler auf dem Sportplatz müssen sprinten. Man sieht insbesondere den Mädchen an, dass sie überhaupt keine Lust haben. Flüche werden sogar verbreitet, die man bis hierher hören kann. „Also wenn du üben willst, musst du nur Bescheid geben. Ich nehme mir gerne Zeit für dich."

Worte, die mir ein kleines Lächeln auf die Lippen zaubern.

„Ich weiß es zu schätzen", gebe ich zurück und öffne die Tür. Halte sie dieses Mal für meinen Begleiter offen. „Spätestens in zwei Monaten werde ich auf dich zukommen wegen des Abschlusses. Ich würde gerne Polnisch für die Prüfung auswählen wollen."

„Ist gemerkt." Mikołaj peilt die Treppe an. „Hast du Lust, dich mit mir nach der Schule zu treffen? Wenn du magst, können wir entweder zu mir oder suchen uns ein Café. Ich fände es schade, wenn das Gespräch einfach so beendet wird."

Habe ich nicht festgelegt, ein außerschulisches Treffen wird unter keinen Umständen stattfinden? Das liegt noch nicht so lange her. Ich bearbeite die untere Lippe mit den Zähnen. Ich stehe mit beiden Beinen jeweils in einer Welt. Diesen Spagat würde ich zu gern in der Wirklichkeit können. Egal. Ja, ich habe es für mich bestimmt. Da lügen die Erinnerungen nicht. Aber ich habe es gesagt, weil ich immer noch diesen einen Eindruck von Mikołaj besessen habe. Dieses Gespräch hat mir die Augen weiter geöffnet und das Misstrauen etwas abklingen lassen. Klar, es ist nach wie vor präsent. Es gibt gewiss eine Masche. Ich sollte weiterhin aufpassen. Aber ... Er scheint es ernst zu meinen. Ich habe gesehen, wie er Lena oder Amélie um den Finger gewickelt hat. Komplimente über Komplimente. Ein Lächeln hier oder da. Die Einladung zu sich nach Hause. An dieser Stelle lärmt eine einzige Alarmglocke in meinem Kopf. Und da ist auch noch Elise. Soll ich unser Treffen absagen, nur damit ich etwas mit Mikołaj machen kann? Das ist abwegig. Ich stelle meine beste Freundin hinter einen Typen, den ich erst seit einen Tag kenne und dessen Anschein nicht gerade vertrauenswürdig ist. Für mich zumindest.

Sie wird es schon verstehen. Zur Not kann ich eine Ausrede vorschieben.

„Ich habe dir geschrieben, dass es zu keinem Treffen kommen wird", erinnere ich ihn ruhig und husche in den Nebenraum. Schlage die genannten Seiten auf. Überfliege die Aufgaben. Eins und zwei kann ich mir schon irgendwie zusammenreimen. Drei würde gerade noch so gehen. Vier stellt eine völlige Katastrophe da. Soll so sein. Wichtig ist so oder so, dass ich auf ein paar Punkte komme. „Da kannst du noch so nett zu mir sein." Die Vernunft ist Gott sei Dank stärker als dieses eine verdammte Hormon, das mich die ganze Zeit heimsucht und nervt. Ich schiebe ein Lesezeichen zwischen den Seiten mit den Aufgaben und schließe das Buch. „Und zu dir werde ich gewiss nicht fahren - wer weiß, was du da für einen Scheiß vorhast."

Der Pole hat sich an den Türrahmen gelehnt. Ich sitze währenddessen wieder auf dem Tisch.

„Willst du mir wirklich keine Chance geben? Du hast immerhin Dinge von mir gehört, die ich bisher niemand erzählt habe. Und es auch nicht tun werde, weil ich sie nicht für vertrauenswürdig halte." Eine ruhige, tiefe Stimme, die mich beflügelt und das Herz höher schlagen lässt. „Wie oft eigentlich noch? Ich habe nicht vor, mit dir zu schlafen. Es sei denn, du willst es. Dann wäre ich ohne Punkt und Komma dabei. Ich will nur mit dir reden und dich besser kennenlernen, weil du für mich sehr interessant bist."

Kann ich es ihm bedenkenlos abkaufen? Ich weiß es einfach nicht. Wie soll man so etwas handhaben? Einfach ins kalte Wasser springen und selbst zusehen, wie man klarkommt? Im Prinzip ist es nichts anderes, als wenn ich nach dem Abschluss zum Freiflug freigegeben werde. Mein zukünftiger Studienplatz wird mit Sicherheit nicht in Brandenburg oder Berlin sein. Vielleicht in Köln oder Hamburg. Kiel wäre ebenfalls eine Option für mich. Das Ausland wäre auch eine Möglichkeit. Immerhin will ich versuchen, einen speziellen Abschluss zu erlangen. Einen, der mich sprachlich qualifiziert.

„Das kann ich dir einfach so glauben?" Wie gesagt. Ich habe keinerlei Erfahrungen mit solchen Gesprächen. Sage daher einfach das, wo ich der Meinung bin, es passe.

„Hätte ich vor, mit dir ins Bett zu hüpfen, hätte ich dich längst 'rumgekriegt. Nein, warte. Du würdest längst auf der Rückbank meines Autos liegen." Mikołaj grinst anzüglich, und ich sehe peinlich berührt weg. „Musst also keine Angst haben. Da gibt's keine falschen Gedanken. Einfach ein ganz klassisches Kennenlernen."

Das heißt, dass ich aus seinen Worten schlussfolgern kann, dass da schon jemand entblößt auf der Rückbank des Audis gelegen hat. Während er Schulzeit. Eine ganz grausige Vorstellung. Also ich werde garantiert nicht bei ihm mitfahren.

„Ah ja", murmele ich und sammele die Sachen ein. Es wird Zeit, in den Raum zu gehen. „Kannst du mir einen Gefallen tun?"

„Wenn du mir versprichst, dass wir uns heute noch treffen werden, dann gern." Der Neunzehnjährige lässt mich vorbeigehen.

Ich stöhne kurz. Es ist voraussehbar gewesen.

„Meine Fresse, okay. Ich sag' das Treffen mit Elise ab. Jetzt hast du kurz Sendepause. Kannst du bitte fünf oder zehn Minuten später in den Raum gehen? Nicht, dass die anfangen zu reden. Ich will nicht, dass Gerüchte über mich entstehen."

Mikołaj scheint sich ernsthaft über meine Antwort zu freuen. Oder bilde ich es mir nur ein?

„Ganz wie du willst, Jess." Allein die Art, wie er meinen Namen betont, lässt mich förmlich schmelzen. Ich erschaudere sehr leicht. Mikołaj hat es selbstverständlich wahrgenommen, allerdings lässt er eine Bemerkung aus. „Dann sehen wir uns heute Nachmittag wieder." Ein kurzer Blickaustausch. Eine sehr fesselnde Farbe, die mich ohne Probleme in den kalten Bann zieht.

„J-ja", stammele ich und wende mich schließlich von ihm ab. Atme tief durch. Höre, wie der Pole wieder zum Geländer geht. Wie immer entspannt, langsam. Aufmerksam beobachtend. Das Zittern kriege ich kaum unter Kontrolle. Mann, ich kenne ihn erst seit heute. Da kann ich doch nicht so extrem durchdrehen. Haben diese verdammten Hormone kein Zeitgefühl? Wieder durchatmen. Bis zehn zählen. Dann an die Tür klopfen und kurz warten. Okay. Fühle ich mich bereit? Habe ich noch nie. Wird der Vortrag eine Nullnummer werden? Bestimmt.

„Sind Sie fertig geworden?", will der Biologielehrer wissen und unterbricht die Schreibarbeit an der Tafel.

„Eben gerade, ja." Ich bleibe am Pult stehen. Ich will gar nicht sehen, wie rot meine Wangen wirklich sind. Irgendwann ist sämtliches Blut des Körpers nach oben gerutscht. „Also soll ich die abgeben oder vortragen?" Sollte ich sie abgeben, hätte ich ein richtiges Problem.

„Vortragen. Sie haben zehn Minuten Zeit. Müsste für Sie machbar sein." Herr Kerkhoff weicht von seiner Stelle, damit ich sie einnehmen kann. „Die Bühne gehört Ihnen, Frau Evert." Er setzt sich neben Amélie. Bewaffnet mit einem Bleistift, einem unbeschrifteten Blatt Papier und dem Kursheft.

Das wird eine mittelschwere Katastrophe werden. Man muss bedenken, dass Mikołaj mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Er wirbelt sämtliche Gedanken durcheinander, Ideen oder Ansätze, sodass ich immer wieder ins Stocken gerate. Ich habe sogar den Faden verloren, sodass mein Lehrer mir auf die Sprünge helfen muss.

Wie ich gesagt habe: Die ersten drei Aufgaben kriege ich irgendwie hin. Da habe ich mir irgendeinen Mist zusammengereimt, der aus den letzten Stunden in meinem Kopf hängengeblieben ist. Aber die letzte Aufgabe - ich habe im Voraus gesagt, dass ich sie nicht einmal begonnen habe, weil das Verständnis gefehlt hat. Was ich für diese schlechte Leistung bekommen habe? Sage und schreibe fünf Notenpunkte. Hauptsache bestanden. Dafür, dass ich überhaupt nichts gemacht habe und ständig an Mikołaj denken muss, finde ich das Ergebnis nicht schlecht.

Der Neunzehnjährige hat sich tatsächlich an seinem Versprechen gehalten. Genau zum Ende hin hat er an die Tür geklopft und ist einfach eingetreten. Ich habe mich gerade hingesetzt. Elise hat mir leise zugemurmelt, dass sie verdammt beeindruckt sei, wie ich diese Situation gehandhabt habe. Sie weiß, dass ich mir nichts durchgelesen und aufgeschrieben habe. Ich gebe ihr das Buch wieder und sehe zu Mikołaj. Genau wie die anderen.

„Haben Sie die frische Luft genossen, Herr Nowak? Können Sie wieder am Unterricht teilnehmen?"

„Aber natürlich. Eingekriegt und bereit für den letzten Sch- ... Rest." Er überspielt es mit einem zwanglosen Grinsen.

Herr Kerkhoff seufzt ein wenig genervt und schickt Mikołaj zu seinem Platz. Ivan, eine Bank neben ihm, erwidert seinen Handschlag. Der Dunkelblondhaarige räumt seine Sachen in die Tasche. Bis gar nichts mehr auf der Bank liegt. Unser Biologielehrer hat es mitbekommen. Eine Nachfrage bleibt glücklicherweise aus.

„Elise?", wende ich mich nun an sie. Auch sie hat etliche Utensilien eingepackt.

„Was gibt's denn?" Sie sieht auf. Erwidert meinen Blick.

„Geht um's Treffen." In den Augenwinkeln sehe ich, wie Mikołaj sich ein wenig zu uns umgedreht hat. Ich senke die Stimme ein wenig mehr. „Ich muss mit Kira nach Mitte. Sie braucht einen Fahrer, der sie zum Tierarzt fahren kann. Geht um Perla." Meine Cousine besitzt tatsächlich einen Hund. Einen fünfjährigen kupierten Dobermann.

Ich fühle mich schlecht, dass ich meine beste Freundin zum ersten Mal anlüge. Irgendwie habe ich es mir deutlich leichter vorgestellt. Ich darf mir nichts anmerken lassen, ansonsten wird sie Fragen stellen. Auf diese werde ich keine Antwort bereithalten. Lügen und ich sind zwei Dinge, welche nicht zusammenpassen. Man hat mich zur Wahrheit erzogen. Diese habe ich, bis auf heute, stets gesagt.

„Echt? Was hat sie denn?", fragt Elise erstaunt.

Los, komm' schon, du blödes Gehirn. Lass' die Kreativität spielen.

„Hat sich beim Toben die rechte Hinterpfote verletzt. Kira hat Angst, dass sie gebrochen ist." Sie gleitet mir erstaunlich leicht über die Lippen, wenngleich das Gefühl immer schlimmer wird. „Mein Onkel ist immerhin arbeiten. Kiras Mutter auch. Kommen erst heute Abend wieder. Und sie kann ja nur in Begleitung ihrer Eltern fahren." Auch das ist nicht gelogen. Meine Cousine besitzt einen Führerschein. Sowohl für das Auto als auch Motorrad.

„Wenn das so ist, dann lassen wir's für heute. Das hat natürlich Priorität." Ihr Lächeln kann ich kaum erwidern. „Dann verschieben wir unser Treffen. Macht nichts."

Wenn du wüsstest, Elise, dass ich mich eigentlich mit Mikołaj treffen will, den du nicht ausstehen kannst. Du würdest mir den Kopf abreißen.

„Danke für dein Verständnis", murmele ich kaum hörbar. „Können uns ja am Wochenende oder so treffen."

„Wir finden schon einen passenden Tag." Ich bin froh, dass Elise in meiner Stadt wohnt, die nicht so groß ist. „Der Sommer ist noch lang." Mikołaj dreht sich wieder vollständig nach vorn. Er ist vermutlich glücklich über meine Ausrede.

Endlich. Der Unterricht ist beendet. Dieses Mal auf die letzte Minute genau. Elise und ich fackeln nicht länger, sondern peilen die Tür an. Sind eine der ersten, die aus dem Raum strömen. Ich muss Charlotte noch das Kabel zurückgeben. Wir beschließen, über die Seitentür nach draußen zu gehen. Dieser Weg würde deutlich kürzer sein.

„Kann das sein, dass du Mikołaj draußen getroffen hast?" Es gibt ein paar, die zum Bus laufen müssen. Eigentlich weiß man, dass er noch zehn Minuten warten wird. „Du stockst normalerweise nie bei Vorträgen und machst immer alle Aufgaben."

Was habe ich gesagt? Sie ist verdammt gut. Elise durchschaut viele Dinge sehr schnell. Ich schlucke leise. Spüre, wie Puls ein wenig hochfährt. Noch kann ich entspannt sein. Na ja, so lange, bis ich den schwarzen Audi RS7 sehe.

„Warum bist du so gut?"

„Alles Vorbereitung für den späteren Beruf." Elise hat mir vor etlichen Wochen erzählt, dass sie endlich wisse, was sie nach der Schule machen will. Ihre Stärke zum Beruf. Also habe ich nachgehakt. Wie eine ehemalige Bekanntschaft meines Vaters will auch sie eine staatliche Ermittlerin werden. Während eines Wochenendes, als Elise bei mir übernachtet hat, hat sie es meinem Vater erzählt, als er das Thema Zukunft angerissen hat. Er ist überrascht gewesen, hat lächelnd gemeint, sie erinnere ihn stark an eine Frau, mit denen er eine lange Zeit zu tun gehabt hat. Dieser Kontakt hat sich verlaufen, als er meine Mutter kennengelernt und schließlich geheiratet hat. „Also? Ich höre?"

„Da werden sogar deine späteren Ausbilder Angst kriegen." Ich fische den Autoschlüssel aus der Hosentasche. Entriegele den Wagen. Charlotte steht dort. „Warte ganz kurz. Du kriegst es gleich." Sie weicht einen Schritt zur Seite, damit ich den Rucksack in den Kofferraum plumpsen lassen kann. Ich öffne ein Fach. Wühle darin herum. „So. Hier, bitte schön." Wir umarmen uns zum Abschied. „Bis morgen." Gleiches bei Elise. Als ich mich vergewissert habe, dass sie außer Hörweite ist, füge ich hinzu: „Ja, habe ich. Und ja, wir haben miteinander gesprochen. Er ist auch nicht weggegangen, obwohl ich ihm mehrfach klargemacht habe, dass ich diese Scheißaufgaben machen muss."

Elise verschließt den Kofferraum, und wir steigen in den Golf ein. „Ja, ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Er hat schon wieder so ... normal gewirkt."

Wenigstens hat mein Vater sehr viel Wert darauf gelegt, dass ich einen Wagen mit Schaltgetriebe fahre. Der A4er Avant meiner Mutter ist vollends automatisch. Mit dem fahre ich ungern. Selbst mein Vater macht so gut es geht einen Bogen um den mattgrauen Audi. Er bevorzugt vielmehr meinen Wagen, wenngleich ich zu gern mit seinem wertvollen Untersatz ein paar Runden drehen wollen würde.

Elise ist für die Musik zuständig. Ich warte, bis Mitschüler an mir vorbeigegangen sind. Rolle vorsichtig aus der Lücke.

„Du solltest wirklich vorsichtig sein", rät sie mir ruhig und spielt mit dem Handy herum. Streicht gelegentlich über den Boardcomputer. „Ich habe nur Angst, dass er dich verarscht. Wer schon am ersten Tag mehrere Mädchen am Laufen hat, scheint nicht normal zu sein. Ich will nicht, dass er dich ins Bett kriegt und später abhaut. Heb' dir diesen Moment für jemand Besonderes auf." Die Mundwinkel zucken etwas. Dieses Mal ist der Neunzehnjährige allein. Er sieht mich. Sein Lächeln kann ich bis hier erkennen. Ich erwidere seine Abschiedsgeste. „Genau das meine ich. Halt' dich nur etwas zurück und sei vorsichtig."

Ich kann ihre Sorgen gut nachvollziehen. Daher widerspreche ich ihr nicht oder rede wild dagegen an. Elise hat einst solch eine unschöne Erfahrung gemacht und will mich davor bewahren. Sie hat recht, keine Frage. Ich sollte ein gewisses Maß an Misstrauen hegen und es keineswegs ganz abschaffen. Möglicherweise tut er nur so. Vielleicht will er mich nur 'rumkriegen, damit er mir eine bestimmte Sache nehmen kann.

„Werde ich", sage ich und fahre hinter Nina her. Ich kann ihren weiß-roséfarbenden Fiat 500 nicht ausstehen. „Ich bin immer noch echt skeptisch, was da nun ist. Da ist diese eine Stimme in meinem Kopf, die mir ständig sagt, dass ich verdammt aufpassen soll."

„Die solltest du niemals ignorieren. Hat schon einen Grund, warum sie da ist." Elise sieht aus dem Fenster. Behält das eigene Handy in der Hand. „Aber fünf Punkte, obwohl du rein gar nichts gemacht hast, ist echt gut. Ich hätte höchstens einen bekommen."

„Das ist gut, keine Frage. Nur, jetzt erklär' 'mal meinem Vater, warum nur fünf, obwohl ich das Buch und das Handy am Mann gehabt habe. Sieht er nicht so gern." Elise wohnt in einem Mehrfamilienhaus in einer recht alterstypischen Gegend. Bei ihr im Haus wohnen mehr ältere als junge Leute. Vor einigen Jahren sind oft Konflikte entstanden, weil Elise jeden Tag und nahezu jede Nacht laut Musik gehört hat.

„Man kann nicht immer glänzen. Muss er auch akzeptieren." Er hat eine Menge Niederlagen einstecken müssen. Nicht zuletzt wegen eines großen Zusammenbruchs seines eigenständig errichteten Systems, von dem ich zufällig erfahren habe. Dann die Zeit hinter Gittern. Ich denke nicht gerne daran. Will es nicht hinnehmen, dass mein Vater einst ein Mensch gewesen sein soll, den die Medien dargestellt haben. Oder es immer noch tun, weil er sich seit mehreren Jahren versteckt hält.

„Wird ihm sicherlich nicht leicht fallen." Bei mir versucht er, alles richtig zu machen. Ich bin nicht verhätschelt worden. Etliche Erfahrungen habe ich durch eigene getroffene Entscheidungen sammeln dürfen. Man hat mir zwar etwas abgenommen, aber nicht so viel, dass ich nicht weiß, wie das Leben funktioniert. „Ist eben ein Ausrutscher." Ich lasse mich von der Musik einhüllen. „Ist deine Schwester zu Hause?"

„Das hysterische Tier? Die doch immer." Elise zieht die Augenbrauen zusammen. „Allein schon, dass sie mir die Ohren vollheult, weil Malte ihr nicht auf Instagram zurückschreibt, lässt mich kotzen. Ohne Scheiß. Warum Malte? Er hat nichts Besonderes an sich."

„Sie hat ihn auf Instagram angeschrieben? Woher kennt sie ihn eigentlich?"

„Sagt sie mir nicht. Ich würde ja eh alles weitererzählen." Ihre Haare hat sie zu einem schnellen Dutt zusammengefasst. Viele Strähnchen stechen hervor. „Ich hätte außerdem keine Ahnung. Wäre blöd und dumm und was weiß ich. Ja. Ist ja nicht so, dass ich seit vier Jahren einen Freund habe, mit dem ich glücklich bin. Dass ich schon die eine oder andere Lebenserfahrung mehr habe als sie. Aber gut. Die Verrückte wird ja schon wissen, wer recht hat und wer nicht." Elise wohnt in der Nähe der A12. Ein gutes Stückchen Fahrt. „Wollen wir tauschen? Dein Vater bestimmt sehr gut mit ihr klarkommen."

Ich pruste los.

„Gerade auch er. Er würde alle Nerven verlieren. Außerdem: Sie würde Angst kriegen, wenn sie ihn sieht." Zwei Autos hinter meinem fährt Mikołaj. Ich muss mich zunächst durch die halbe Innenstadt schlängeln, ehe ich zu Elise fahren kann.

„Stimmt. Da ist ja noch 'was." Sie dreht die Musik leiser. „Wie geht es ihm eigentlich?"

Ich zucke mit den Schultern.

„Den Umständen entsprechend. Er traut sich endlich, wieder vors Haus zu gehen. Ohne eine Art Verkleidung. Ist schon ein paarmal mit dem Audi meiner Mutter unterwegs gewesen, dann aber niemals ohne falsche Identität. Da ist wieder die Angst zu groß, erkannt zu werden. Die ... Arbeit, falls man das so nennen kann, läuft endlich so langsam. Klar, nicht mehr wie vorher, aber immerhin. Hockt aber auch fast jede Nacht vorm Rechner oder am Handy und ist zu viel unterwegs."

„So kann man die Freiheit auch nicht genießen."

„Kann man auch nicht. Aber es ist deutlich besser für ihn. Die Zeit hinter Gittern hat ihm nicht gut getan. Hat dort nur für Unruhe gesorgt, bis man irgendwann beschlossen hat, ihn zu isolieren. Dass er dadurch keinen Knacks gekriegt hat, ist mir bis heute ein Rätsel. Liegt bestimmt an meiner Mutter."

„Für jeden Menschen gibt's eben einen rettenden Anker."

„Richtig. Umso schöner zu sehen, wenn meine Eltern Zeit miteinander verbringen." Montagnachmittag, und die Straßen kommen mir viel zu verstopft vor. Zu viele rote Ampeln, zu viel Betrieb. Ich seufze. „Okay, das könnte etwas dauern."

„Macht auch nichts. Ich hab's eh nicht eilig", beschwichtigt Elise unbeschwert und lehnt sich entspannt zurück. „So kann man 'runterkommen." Bis sie wieder die Spielereien mit dem Handy aufnimmt. „Perfekt. Daniel hat heute Zeit. Dann kann ich nachher zu ihm. Dachte, er müsste bis abends arbeiten."

Daniel ist ihr Freund, von dem sie eben gesprochen hat. Er ist ein vielversprechender Mechatroniker. Es ist nicht selten, dass mehrere hundert Aufträge innerhalb einer Woche bei ihm eintrudeln.

„Glück für dich", sage ich lächelnd und fahre los.

Wir reden über die Schule. Über das Wochenende. Regen uns über einige gewisse Schüler auf. Lachen, schlagen auch einen ernsten Ton an. Singen wie die Irren. Es macht ungeheuerlichen Spaß, Zeit mit Elise zu verbringen. Sie behandelt mich und meine Familie wie normale Menschen. Ein Punkt, der sie umso besser macht.

Ich solle dennoch aufpassen, wenn Mikołaj etwas mit mir zu tun haben will. Wenn er ein Gespräch mit mir sucht. Ich dürfe mich nicht beeinflussen lassen. Ich habe nichts gesagt. Weiß, dass es sowieso beinahe zu spät ist. Er verdreht mir jetzt schon den Kopf.

Und dabei ist erst ein verdammter Schultag vergangen. Wie werden dann die nächsten Tage, Wochen oder Monate aussehen?

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