05 - Hormone zum Mitnehmen
Wie hätte es auch anders sein können? Irgendwie habe ich es vorhersehen können. Mikołaj hat sich genau vor mir und Elise hingesetzt. Wir haben wie üblich die vorletzte Bank in der Mittelreihe bezogen. Unser Stammplatz. Eigentlich ist es so, dass jedes Kursmitglied seinen inoffiziellen Platz hat. Diejenigen, die etwas vom Unterricht mitschneiden wollen, sitzen weiter vorne. Alle anderen hocken hinten. Ich habe nicht vor, Biologie für den Abschluss zu wählen. Daher höre ich kaum zu und spiele sehr oft mit meinem Handy. Noch benötige ich das Ladekabel nicht.
Seit fünfzehn Minuten ist der Unterricht am Laufen. Malte hält uns einen Vortrag über genetische Mutationen. Er weiß selbst, dass wir nicht hinhören. Man merkt ihm an, dass er sich nicht viel Mühe macht. Wenigstens die Schlaumeier vorne scheinen begeistert zu sein. Ich sehe vereinzelt hoch, nur um mich zu vergewissern, dass Herr Kerkhoff uns nicht im Visier hat, da Elise zwischenzeitlich eingeschlafen ist. Ihr Kopf ruht auf der Federtasche, die sie sich untergelegt hat. Die Arme liegen locker darum. Ihre dunklen Haare fließen kranzartig auf den hellen Tisch. Unser Lehrer beobachtet uns nicht. Vielmehr Philipp, der sein Tablet hinter dem Buch verborgen hält. Dass das nicht auffällig ist – scheint ihn wohl nicht zu kümmern. Eigentlich ist unser Lehrer ziemlich entspannt und interessiert sich nicht für so etwas. Solange wir leise sind, können wir alles machen, was wir wollen. Aber heute scheint es wohl eine Ausnahme zu sein, dass Herr Kerkhoff etwas, na ja, gereizt ist.
Ich habe Mikołaj nicht mehr unter Arsch eingespeichert. Der Junge hat es irgendwie geschafft, sich in meinen Gedanken festzusetzen. Ich werde ihn auch nicht mehr los. Mit jeder Sekunde, die verstreicht, wird es zunehmend schlimmer. Ich werfe einen Blick auf das Handy. Eine neue Nachricht von dem Polen. Ein eigenartiger Schauder rennt lautlos den Rücken herab. Das Bedürfnis keimt auf, sich mit ihm zu unterhalten. Ich wüsste zwar nicht, wie genau ich dies anstellen soll. Na ja, irgendein Plan hätte ich mir schon zurechtgelegt. Kreativität hat man bisher nie kleingeschrieben.
Mikołaj: Na? Ist dir genauso langweilig wie mir?
Ich gebe nach. Klar, ich könnte ihm eine Chance geben. Er hat schließlich recht. Ich bin voreingenommen – habe mir kein eigenes Bild von ihm machen können. All das Gesagte; ich habe es nur aufgeschnappt und es nicht hinterfragt. Ob ich naiv bin? Bestimmt, immerhin habe ich keinerlei Erfahrungen, was das angeht. Soll ich es trotzdem wagen? Ich bin hin- und hergerissen. Es sind wertvolle Lebenspunkte, die jeder Mensch früher oder später macht. Vor dem kann man nicht weglaufen. Ich muss der Realität ins Auge blicken. Die ist zurzeit Mikołaj. Ach, scheiß' drauf. Ich bin alt genug, um selbst zu wissen, welche Schritte ich gehe. Man kann solche Wege nicht bestimmen. Kann keinerlei Kurven erahnen. Hindernisse frühzeitig wahrnehmen, um sie zu umgehen. Oder Sackgassen rechtzeitig verlassen, ehe man die kahle Wand vor Augen hat. Ich muss daher vom ursprünglichen Weg abkommen, wenn ich diese Erfahrungen sammeln will. Ein Urteil könnte ich immer noch fällen. Das läuft nicht weg.
Also gebe ich eine Nachricht ein. Meine Finger wandern gemächlich über das Display hinweg. Malte ist gerade dabei, die Bilder auf dem Projektor zu erklären. Irgendwelche Diagramme und Graphen, mit denen man nichts anfangen kann.
Ich: Eigentlich ist Biologie sehr interessant. Ich habe nur gehofft, dass wir verstärkt auf Synthesen eingehen werden. Damit meine ich nicht Pflanzen – die sind sterbenslangweilig.
Unter Mikołajs weißem Shirt unterziehen sich die ausgeprägten Rückenmuskeln einer sanften Anspannung, als er die Position verändert. Ich schlucke kaum hörbar. Male mir Bilder aus, wie er ohne das Kleidungsstück aussehen mag. Was sich wohl dort unter verbirgt?
Mikołaj: Schon. Nicht so spannend wie Chemie. Da höre ich viel lieber zu. Ich muss darauf aufpassen, dass ich nicht einschlafe. Es wird anstrengend.
Hinter jeder Fassade versteckt sich ein anderer Mensch. Ich glaube, dass der Neunzehnjährige doch anders ist. So sehr kann ich mich nicht ihn getäuscht haben. Denke ich zumindest.
Ich: Elise ist eingeschlafen. Na ja, okay. Bei uns fällt es nicht weiter auf, weil wir weiter hinten sitzen. Kerkhoff achtet tatsächlich auf diejenigen, die vorne sitzen. Er weiß nämlich, dass da die sitzen, die auch zuhören wollen.
Mikołaj: Das macht es umso einfacher für mich, mit dem Handy zu spielen. Perfekt.
Ohne Vorwarnung dreht er sich zu mir und Elise um. Eine plötzliche Hitze schießt durch mich, und automatisch werde ich rot. Seine weißen Augen mustern meine beste Freundin amüsiert. Die schmalen Lippen verziehen sich zu einem Grinsen. Dann gerade ich ins Visier seiner nahezu weißen Augen. Und ich weiß gerade überhaupt nicht, was ich denken soll. Sämtliche Gedanken scheinen wie eingefroren zu sein. Ich kann mich nicht bewegen. Muss wie blöd diesen fesselnden Blick erwidern.
„Ich würde mich sehr gern mit dir unterhalten, aber so im Unterricht ... Das wird bestimmt nichts." Leise und tief. Angenehm in den Ohren. Wie ein träges Echo in den Ohren. Ich habe mich nur auf seine Stimme konzentriert. Deshalb kaum wahrgenommen, wie er sich wieder umgedreht hat. Dass Elise nichts sagt, zeigt mir, dass sie tief und fest schlummert.
Wie von allein gebe ich die nächste Nachricht ein. Langsam, dennoch bestimmt. Ich kann nicht anders.
Ich: Wie man es nimmt. Hm, mal sehen. Bleiben wir erst einmal bei dieser Geschichte.
Endlich. Malte hat es geschafft, den Vortrag zu beenden. Wir klopfen vereinzelt auf dem Tisch. Eine sinnlose Geste der Anerkennung. Jetzt wird über das Ergebnis diskutiert. Diejenigen, die vorne sitzen, werden involviert. Der Rest starrt Löcher in die Luft oder schläft. Wie Elise.
Mikołaj: Was genau meinst du? Wird es kein Gespräch zwischen uns geben? Falls ja, würde es mich sehr traurig machen – du bist nämlich eine sehr niedliche Person.
Warum kann mich so ein Mist nicht kalt lassen? Ich lächele verlegen. Ein Glück, dass niemand es sehen kann.
Ich: Lassen wir's Gespräch übers Virtuelle laufen. Ist für mich viel besser.
Kein weiterer Bezug zum zweiten Teil seiner Nachricht.
Mikołaj: Aha? Und warum? Liegt bestimmt an mir, nicht?
Ich: Woran denn sonst?
Irgendwie kann ich es nicht ausstehen, dass er so viel nachhakt.
Mikołaj: Und warum?
Ich: Musst du so viel fragen?
Mikołaj: Ich kann nichts dafür, dass du so wenig schreibst oder mir oberflächliche Antworten gibst. Da muss ich eben weiter fragen.
Ich: Du hast doch bestimmt etwas, das sich Gehirn nennt. Du könntest es 'mal benutzen. Dann wüßtest du die Antwort.
Mikołaj: Ich habe auf diesen Scheiß keine Lust.
Ich: Hirn aus, Schwanz raus, was?
Er lacht kurzzeitig los. Bemüht sich nicht, leise zu sein. Ich schiebe eilig das Handy in die Hosentasche. Elise murrt leise neben mir und hebt mit mürrischem Ausdruck den Kopf. Reibt sich mit der linken Hand über die Augen. Gähnt geräuschlos. Einige von uns haben sich zu dem Polen umgedreht. Fragezeichen stehen ihnen förmlich in das Gesicht geschrieben.
„Aha. Der Neue also", ertönt die raue Stimme unseres Lehrers, und dieser geht etwas auf Mikołaj zu. „Was gibt's denn da so zu lachen, Herr Nowak? Lassen uns ruhig an der Sache teilhaben. Oder gibt's etwas beizutragen?" Er verschränkt die Arme vor der Brust.
„Hm? Was?" Mikołaj besinnt sich nur langsam. Die Belustigung sticht unverkennbar hervor. „Ich hab' nur so gelacht. Eine Kleinigkeit, über die ich kurz nachgedacht habe." Der Neunzehnjährige hebt ein wenig die schmalen Augenbrauen. „Ja, was soll ich sonst sagen? Etwas zum Thema?"
„Ist das ein Idiot", murmelt Elise spitzzüngig und lehnt sich zurück. Streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Ich schiebe keinen Kommentar bei, sondern beobachte die Szene.
Mikołajs Antwort veranlasst Herr Kerkhoff zum Kopfschütteln. Er fordert ihn anschließend auf, den Raum zu verlassen. Begründung: Er würde den Unterricht zu sehr stören. So viel dazu, er wäre heute entspannt. Anscheinend haben wir ihn auf dem falschen Fuß erwischt.
„Drehen Sie im Flur eine kleine Runde, kriegen Sie sich wieder ein. Dann können Sie gern wiederkommen und noch einmal am Unterricht teilnehmen. Stellen Sie sich zudem darauf ein, dass Sie nach vorn geholt werden. Ihre Schonfrist ist bei mir vorbei." Da hat wohl jemand einen schlechten Tag.
„Schonfrist? Die habe ich gehabt? Ach, gut zu wissen." Mikołaj erhebt sich lässig. Die beiden Mädchen in der hintersten Reihe machen sich über das Größenverhältnis lustig. „Ja, von mir aus gern. Ich habe damit kein Problem." Er sammelt die Jacke von der Stuhllehne ein und schlendert gemächlichen Schrittes zur Tür. „Ein paar Dinger habe ich bestimmt auf dem Kasten."
Herr Kerkoff sieht Mikołaj etwas scharf nach. Wendet sich den anderen zu, als die Tür ins Schloss fällt. „Sollten Sie der Meinung sein, ebenfalls zu reden oder anderweitig stören, können Sie gern auch nach draußen gehen. Nur mit dem Unterschied: Für Sie wird es Aufgaben geben. Überlegen Sie es sich daher zweimal." Er nickt Nina zu. „Sie können mit dem Resümee fortfahren."
Ist er jetzt wegen mir aus dem Unterricht geworfen worden? Ich schmunzele. Das kann gut möglich sein. Wenigstens ist Ruhe eingekehrt. Zwar ist neben Anne ein Platz frei, sodass ich freie Sicht zu der Tafel habe, allerdings kann ich ungehindert mit dem Handy spielen. Elise bleibt zurückgelehnt – ihr Blick ist gesenkt. Auch auf das Gerät.
Mikołaj: Kriege ich von dir eine Entschuldigung? Immerhin bin ich wegen dir draußen.
Ich: Sehe ich so aus, als würdest du sie von mir bekommen? Vergiss es. Du hast mir doch Scheiße geschrieben.
Mikołaj: Wo habe ich dir denn bitte Scheiße geschrieben? Ohne Scherz: Ich find's schon blöd von dir. Na ja. Kommst du wenigstens mit raus? Hier draußen ist es verdammt langweilig. Sind alle im Unterricht. Selbst mit denen, die ab und zu rauskommen, kannst du nicht reden.
Ich: Nee, bleib' mal allein draußen.
Mikołaj: Hey, das ist das Mindeste, was du jetzt machen kannst. Das ist nicht zu viel verlangt.
Ich: Ich soll also nur rauskommen, damit dir nicht langweilig ist? Geh' zu Physik – Delilah ist da. Freut sich bestimmt, wenn du bei ihr bist.
Mikołaj: Ich will aber nicht zu ihr, sondern ich will, dass DU zu mir kommst. Du bist mir ein Gespräch schuldig.
Ich: Ja, und du bist mir eine Erklärung schuldig.
Mikołaj: Wie bitte?
Ich: Du kannst lesen und kannst zudem deutsch. Also tu' nicht so blöd.
Mikołaj: Was für eine Erklärung? Da musst du mir wirklich helfen.
Ich: Was sage ich? Du bist blöd wie ein Toastbrot.
Mikołaj: Brot kann schimmeln. Was kannst du?
Ich: Dich nachher vors Auto schubsen, um dich zu überfahren.
Mikołaj: Oh, wow. Dafür kriegst du Applaus von mir. Den kannst du bestimmt hören.
Ich: Meine Güte. Warum machst du erst die Tusse Delilah klar? Danach Lena und zusätzlich Amélie? Hast du es so nötig, oder was? Wieso bist du so ein Arsch? Zumal: Du bist erst seit einem Tag an dieser Schule. Seit EINEN Tag. Da kannst du doch nicht gleich drei Mädchen aufreißen und anfangen, dich durch die Schule zu vögeln.
Mikołaj: Ach, diese Sache meinst du. Ja, gut. Ich habe es dir eigentlich schon erklärt: Hier ist man viel lockerer drauf als in Polen. Hier hat man's nicht so sehr mit Zurückhaltung oder sogar Treue. Zu meiner Verteidigung: Ich habe seit drei Monaten keinen Spaß mehr gehabt. Das ist quasi wie Entzug.
Ich: ... Du bist ein richtiger Arsch.
Mikołaj: Eben nicht. Nur jemand, der auf seine Bedürfnisse achtet. Hey, ein Mädchen hat mich selbst 'mal für eine schnelle Nummer benutzt. Juckt mich das? Nein. Ob Mädel oder Typ: Sollen sie alle ruhig machen. Läuft am Ende eh aufs Gleiche hinaus.
Ich: Das Treffen kannst du dir ganz tief dahin stecken, wo die Sonne nicht scheinen kann.
„Frau Evert? Können Sie vielleicht die Frage beantworten? Da Sie nicht zuhören, scheinen Sie wohl alles zu wissen." Die ohnehin schon genervte Stimme meines Lehrers reißt mich jäh aus der eigenen Welt. Ich zucke zusammen. Bin beinahe versucht gewesen, das Smartphone aus dem Sichtfeld des Lehrers zu schaffen. Super. Das kann ich wieder vergessen.
„Äh ..." Ich hebe vorsichtig den Blick vom Display. Hilfesuchend starre ich zu der Tafel. Keine Antwort. Das wäre auch zu schön gewesen. Verdammter Mist. „Ja, gut. Also, die Antwort ist die ..." Ich verziehe den Mund. „Die Antwort ... Na ja." Mann, was soll ich denn sagen? Wie lautet eigentlich diese dumme Frage? „Das weiß ich leider nicht."
„Sie haben es wohl auch nicht mit Zuhören, hm?" Herr Kerkhoff seufzt und begibt sich zu dem Pult. Lässt sich auf dem drehbaren Stuhl nieder. Dieser quietscht widerlich, sobald er in Bewegung gesetzt wird. „Null Punkte." Bitte was? Habe ich richtig hingehört? „Vorerst. Nehmen Sie sich ein Buch. Schlagen Sie die Seiten hundertzehn bis hundertfünfzehn auf. Ich will, dass Sie die Aufgaben zum Thema Fotosynthese ausarbeiten. Die Ergebnisse tragen Sie Ende der Stunden vor." Also habe ich es verstanden. Ich fülle die Backen mit Luft, greife nach dem roten Buch, das Elise mir schweigend entgegenhält. „Gehen Sie in den Nebenraum. Das Handy bleibt hier." Wie gut, dass ich für solche Fälle vorgesorgt habe. Ich habe tatsächlich mein altes stets am Mann. Ich lege das kaputte Handy auf den Tisch, während ich mein aktuelles unauffällig in die Hosentasche schiebe und das Shirt darüber fallen lasse.
„Wird gemacht", sage ich leise, während ich, bewaffnet mit Buch, Block und Federmäppchen, zu der Tür gehe. Mit einem unguten Gefühl verlasse ich den Unterrichtsraum trete ich schließlich nach draußen. Verdrehe genervt die Augen. Toll. Und das nur, weil dieser Idiot mir so viel schreiben muss. Klar, man kann auch mit dem Argument um die Ecke kommen, ich hätte nicht darauf reagieren sollen. Meine Güte, was kann ich denn dafür, wenn sämtliche weibliche Hormone Chaos anrichten? Die kann man eben ganz schlecht kontrollieren.
Ich husche missgelaunt in den Nebenraum. So etwas habe ich mir nie einhandeln müssen. Null Notenpunkte. Trotz der Tatsache, dass sie vorerst fiktiv dort verzeichnet sind, bleibt dieses beschissene Gefühl. Er werde gewiss benotet werden. Das heißt also, dass mir nichts anderes bleibt, als diesen Mist auszuarbeiten.
„So sieht man sich wieder, TCR-Mädchen." Da ist sie wieder, diese tiefe Stimme. „Was hast du verbockt, dass man dir diesen Scheiß aufgebrummt hat?" Er tritt plötzlich zwischen den teils verglasten Schränken hervor. „Und jetzt werden wir uns erst einmal in aller Ruhe unterhalten." Er wirft einen flüchtigen Blick in den Flur, ehe er die bläuliche Tür schließt. Ich finde, dass es in diesem Raum stark nach organischen Materialen riecht. Teils abgestanden.
Ich verwandele die Lippen in einen dünnen Strich. Setze mich auf den Tisch, nachdem die Arbeitsutensilien darauf gefallen sind. Erwidere Mikołajs fesselnden Blick. Kreuze die Arme vor der Brust. Am liebsten will ich ihn anschreien. Er hat es nicht anders verdient. Einfach Dampf ablassen. Der Pole ist ein hervorragendes Ventil.
„Das fragst du mich so blöd?" Die Wangen sind bestimmt schon wieder so rot. „Ich bin wegen dir draußen. Du hast mir ständig geschrieben. Kerkhoff meinte dann, mir eine Scheißfrage zu stellen. Keine Antwort. Tja, jetzt bin ich hier. Super, was? Dank dir kriege ich höchstwahrscheinlich eine miese Punktzahl." Ich deute zu dem Buch. „Darf Seiten ausarbeiten. Fotosynthese. Ein Scheiß, den niemand kapiert, weil's so scheiße blöd ist." Habe ich schon einmal erwähnt, dass ich Biologie hasse? „Weil gerade alles scheiße ist."
„So viel Scheiße habe ich noch nie gehört", meint Mikołaj amüsiert und lehnt sich an einen Schrank, der voller gläserner Geräte ist. Von Pipetten bis Petrischalen oder Reagenzgläsern: Dort ist alles untergebracht worden. „Na ja, mach' das Beste draus. Es hätte auch schlimmer sein können."
„Es ist schon schlimm genug, dass du hier bist." Sein Aftershave riecht unfassbar gut.
„Na, vielen Dank aber auch." Mikołaj schnaubt kurz. „Ich gebe mir Mühe."
„Vor allem auch du." Ich neige ein wenig den Kopf zur Seite. „Wenn du jetzt denkst, das hier wird in eine schnelle Nummer ausarten, bist du bei mir an der falschen Adresse." Mikołaj grinst leicht. „Das ist nicht lustig."
„Ach, wie schade aber auch." Der Neunzehnjährige geht zu mir. Ich halte die Luft an. Rücke nicht weg, als er sich neben mich setzt. Nur wenige Millimeter trennen uns. Sein Geruch ist wie eine Art Wolke, die mich wegträgt. Ich präge ihn mir sogleich ein. „Das macht mich jetzt so traurig." Die Beine sind nicht angespannt, und trotzdem kann ich die starken Muskeln erkennen, die sich in den Oberschenkeln unter dem Stoff der Jeans abzeichnen. „Ich habe nur Lust, mit dir zu reden. Mir war gleich von Anfang an klar, dass du ein völlig anderes Kaliber bist."
„Wie darf ich das verstehen?"
„Nun, ich habe bei dir gesehen: Das ist keine, die mit dir in die Kiste springen will. Sie findet dich nicht attraktiv. Du bist völlig locker und fragst nicht ständig nach zwecks Unternehmen oder Treffen. Das ist, jetzt ohne Scheiß, das erste Mal, dass ich so etwas bei einem Mädchen erlebe. Gut, ich gebe zu, dass ich mich für etwas Besseres halte. Ich stehe dazu. Macht mich unbeliebt bei allen Mädels, die so denken wie du. Aber beim Rest ist es eh scheißegal." Eigentlich sollte ich lieber anfangen zu arbeiten. Mikołaj hält mich davon ab. Indirekt, wohlbemerkt. „Ich will es gleich von Anfang an klarstellen: Ich erhoffe mir keinen Sex bei uns. Du hast mein Wort. Ich will nur reden und dich besser kennenlernen."
Dem sollte man keinen Glauben schenken. Ich werde weiterhin vom Misstrauen geführt. Wenn du wüsstest, dass ich dich ziemlich ansehnlich finde. Wahrscheinlich hast du es bemerkt, aber sprichst es nicht an. Willst bestimmt, dass ich von allein auf mehr hinauswill. Damit du nichts machen musst.
„Ah ja", meine ich angebunden. „Mich kennenlernen, weil ich anders bin als die anderen."
„Das kann man so sagen, ja." Er schaltet das Handy an. Ich sehe unweigerlich auf das Display. Ein roter Porsche mit einem stattlichen Heckspoiler. Zwei Personen. Er und jemand Älteres. Doch ehe ich mehr identifizieren kann, verschwinden die Farben.
„Und so beginnt jede schlechte Teenie-Romanze. Du, ich habe ein paar Bücher gelesen. Ich weiß daher, wie dieser Scheiß mit Sicherheit enden wird." Der Pole will zu einer Gegenantwort ansetzen. „Wer war das da auf deinem Hintergrund?"
„Du hättest vielleicht ein paar mehr lesen sollen." Mikołaj mustert die schwarze Hülle. „Nicht jedes Buch endet damit, dass die beiden einen auf Friede-Freude-Eierkuchen machen. Da gibt's auch normale Enden. Nur lockere Bekanntschaften oder Freundschaften." Er hält etwas inne. „Nur mein Vater und ich."
Möglicherweise ist diese Chance doch nicht so verkehrt.
„War das ein GT4er? Du hast heute in der Mittagspause gesagt, dein Vater hätte so einen."
Dieses Mal lässt er sich mit einer Antwort Zeit.
„Ja, das war einer." Ich kann diese anfänglichen Zweifel heraushören. Gehe davon aus, dass ich mich zu einer ersten Grenze begebe. Nichtsdestotrotz schreite ich weiter voran. „Der, der gute tausendeinhundert PS hat." Ich ergänze die Frage, ob er mir eventuell ein Foto zeigen kann. „Warte. Ich schaue kurz nach." Mikołaj hat sich ein wenig von mir abgewendet. „Ich habe nicht viele Fotos vom Wagen. Liegt daran, dass ich den tagtäglich sehen muss."
„Du scheinst ein sehr gutes Verhältnis zu deinem Vater zu haben, nicht wahr?", breche ich unangekündigt mit der Frage heraus.
„Wer nicht?" Mikołaj steckt das Handy weg. „Entschuldige. Ich habe keine mehr. Muss ich wohl vorgestern heruntergeschmissen haben, als ich das Gerät erleichtert habe. 'N paar Fotos und Videos sind weg."
„Macht nichts." Ich lächele leicht. „Vielleicht beim nächsten Mal." Irgendwie würde ich gern wissen wollen. „Lass' uns ein dummes Kennlernspielchen spielen."
Der Neunzehnjährige lacht leise.
„Du meinst: Hallo, mein Name ist Mikołaj Nowak und so weiter? Liebend gern, da ich bin sehr gut drin." Er springt vom Tisch. „Lass' uns dazu zu meinem Wagen gehen. Hier drinnen ist es echt langweilig. Außerdem tut ein bisschen frische Luft gut."
Scheiß' drauf. Gut, dann werde ich mir keine Punkte einhandeln. Soll es eben sein. Wer weiß, wann ich die nächste Gelegenheit erhalten werde. Die Sachen bleiben zurück. Immerhin habe ich daran gedacht, den Autoschlüssel in der Hosentasche zu haben.
„Genau das." Ich folge ihm. Wir gehen gemeinsam nach draußen. „Schieß' los. Erzähl' mir ein paar Dinge. Nicht diesen ausgelutschten Scheiß, den du schon gesagt hast. Geh' mehr ins Persönliche ein." Ich könnte seine von sichtbaren Adern durchzogene Hand berühren.
„Tja, was gibt's da zu sagen? Also, ich habe einen richtigen Bruder und einen Halbbruder. Der zweite wohnt in Berlin. Sehr weit südlich in Köpenick. Bei ihm bin ich untergekommen. Darf daher jeden Tag nach Fürstenwalde pendeln." Mikołaj weicht mehr zu mir, als ein ziemlich jung aussehender Schüler an uns vorbeigeht. „Oliver arbeitet inzwischen bei der Berliner Polizei. Führt oft zu kleinen Kriegen zwischen ihm und meinem Vater – geht oft um den Porsche." Er zuckt mit den Schultern. Wir gehen die linke Backsteintreppe herunter. „Ich hasse Polen, weil's dort ziemlich langweilig ist. Selbst Warschau ist zum Kotzen. Berlin ist da um Welten besser. Ja, ich bin aktiver Kickboxer, liebe Essen über alles und betreibe nebenbei noch Kraftsport." Er sieht mich erwartungsvoll an. „Jetzt zu dir."
„Keine Geschwister. Keine Haustiere. Da gibt's nichts Interessantes. Hm, ich liebe auch Sport und ... Ja, keine Ahnung. Ist wirklich nicht interessant." Doch, eigentlich schon. Wenn ich daran denke, wie Elise reagiert hat, als sie erfahren hat, wer mein Vater wirklich ist ... Hui. So etwas brauche ich kein zweites Mal. „Du hörst dich so an, als würdest du später nach Deutschland ziehen wollen."
„Ach, komm'. Da geht noch mehr." Ich finde es nach wie vor wunderbar, dass Mikołaj nicht viel größer ist als ich. So fühle ich mich nicht wie ein Zwerg. „Was sind deine Interessen?" Er hält mir die Tür auf. Ich lächele kurz und husche nach draußen. „Will ich auch, sobald ich meine Abschlüsse habe. Ich will gerne im öffentlichen Dienst arbeiten. Nicht das, was Oliver macht, aber so Verwaltung ... Angenehme Arbeitszeiten und sehr gute Bezahlung. Hauptsache schnelles Geld. Oder, ich werde Jura studieren. Muss ich noch sehen. Mir liegt das Logische, und ich interessiere mich sehr für Gesetze."
„Du bist wie eine Wundertüte. Gerade bei dir hätte ich es mir niemals vorstellen können. Finde ich echt spannend." Auch draußen kein gewohnter Betrieb. Wir sind die Einzigen, die sich außerhalb des Schulgebäudes bewegen. Gut, auf dem Sportplatz laufen etliche Schüler. Manchmal brüllt die Lehrerin – sagt vermutlich die Zeiten an. „Glaub' mir. Musik hören, Sport treiben und spazieren gehen sind keine nennenswerten Dinge."
„Hmm, es geht." Mikołaj linst zu den Fenstern. Dort, wo andere Klassen in den Räumen sitzen.
„Warum hast du eigentlich so dermaßen helle Augen? Die sind fast weiß."
„Weiß ich doch nicht. Mein Vater hat schuld." Der Pole unterdrückt sein Gelächter. „Alle Beschwerden bitte an ihn richten." Der Parkplatz erstreckt sich vor uns. Die meisten Lücken sind wieder frei. „Wobei ... Er hat eigentlich eisblaue Augen. Meine Mutter normalblaue." Der Audi dient als Tanzfläch für Sonnenstrahlen. „Schon schick, nicht? Kann nicht jeder von sich behaupten, er hätte so einen Untersatz."
Eisblaue Augen. Eine vage Erinnerung blüht in meinem Kopf auf. Ich kenne tatsächlich jemand, der solche hübschen Augen an. Zumindest vom Sehen. Mit der Person selbst habe ich keinerlei Kontakt. Ich hole mein Handy aus der Hosentasche. Öffne eine bestimmte Anwendung.
„Das ist immer noch nicht deiner", erinnere ich ihn amüsiert und gebe einen Namen in der Suchleiste ein. Mikołaj entriegelt den Wagen. Öffnet den Kofferraum und setzt sich auf die Kante. Er rutscht beiseite und macht mir Platz. Ich lasse mich neben ihn nieder. „Eisblaue Augen. Finde ich persönlich sehr schön." Ein kurzweiliges Lächeln, als Mikołaj erfahren möchte, was ich gerade tue. „Du hast mich gerade an eine Person erinnert." Ich halte ihm das Handy entgegen. Er mustert das Foto. „Du hast doch bestimmt gehört, dass er hier seit mehreren Jahren von allen Behörden gesucht wird?"
Mikołaj blinzelt langsam. Nimmt mir ruhig das Handy aus der Hand, um sich die anderen siebzehn Fotos anzusehen. Die ganz alten Aufnahmen und die neueren. Kein Muskel zuckt in seinem Gesicht. Keine Reaktion.
„Ach, er. Ja, von ihm habe ich ... eine Menge gehört. Ist Thema meiner Schule gewesen." Er gibt es mir wieder zurück. Die Finger sind sehr leicht angespannt. Sowie der Ton in der Stimme, sollte man genauer hinhören. „Hab' mir immer anhören dürfen, dass ich wie er aussehen würde." Mikołaj grummelt leise. „Ich kann eben nichts dafür. Ist nun 'mal so'n blöder Zufall."
Stimmt. Jetzt, wo er das erwähnt hat, fallen mir die Ähnlichkeiten auf. Gleiche Haarfarbe. Die similären Gesichtskonturen, wobei Mikołaj sanfter geschnitten ist. Die Nase ähnelt gewiss der seiner Mutter.
„Machen die Gene aus." Er müsste dreiundvierzig Jahre alt sein. „Ich kann dich beruhigen: Hier wird's kein Thema mehr sein. Ist genauso lange aktuell wie solche Trends. Nämlich kurz. Verdammt kurz." Und er besitzt einen roten Porsche. Einen sehr schnellen GT3 RS. „Oliver ist also dein Halbbruder?"
„Ich hoffe es. Es würde zumindest meine Situation erheblich leichter machen." Mikołaj wendet das Gesicht zu der Sonne. „Mein Vater ist nicht seiner. Meine Mutter hat sich vor meiner Geburt von seinem leiblichen scheiden lassen. Wieso genau, weiß ich nicht mehr. Habe ich vergessen." Ein Schulterzucken. „Wir verstehen uns eigentlich gut. Klar, ich merke manchmal, dass er nicht so viel von mir hält. Aber man macht das Beste draus. Muss ja, schließlich sind wir immer noch eine Familie."
Ich muss der Sache mehr nachgehen. Irgendwie denke ich, ich bin auf etwas Wichtiges gestoßen, das Mikołaj mir nicht verraten will.
„Und warum nicht? Weil du dich so sehr von ihm unterscheidest?"
„Sagen wir: Es ist manchmal nicht leicht, mit einem Polizisten unter einem Dach zu leben. Klar, ich find's schön, dass er sich für diesen Beruf entschieden hat. Er sieht's eben nicht gerne, wenn ich so'n paar Sachen abziehe, die nicht gesetzeskonform sind. Auf gut Deutsch: Ich drehe mir ab und zu ein kleines Tütchen und rauche es. Hab' auch schon kleine Dinge mitgehen lassen. Fahre gerne schneller als erlaubt – es ist etwas ... kompliziert mit uns." Er wirft einen Blick auf die Uhr. „Willst du eigentlich noch diese Aufgaben machen? Wegen der Notenpunkte. Nicht, dass du wegen mir ein bescheiden schönes Ergebnis kriegst."
Ich winke ab.
„Scheiß' drauf. Biologie wird nicht in meine Abschlussprüfung kommen. Ich kann mir ruhig so'n Fehltritt erlauben." Ich schaue ihn entspannt an. „Und ... ich finde dieses Gespräch echt angenehm. Wäre schade, wenn wir es abbrechen würden."
Jetzt wirkt er wieder so vernünftig. Hoffentlich falle ich nicht auf eine beschissene Masche herein. Ich meine; ich lasse für ihn gerade meine Leistungen sausen. Zumindest bin ich schon dabei. Dieser Pole scheint wohl eine sehr facettenreiche Person zu sein, die mein Interesse umso stärker erweckt.
„Jetzt gefällst du mir", gestattet er sich die Bemerkung und grinst von Neuem. „Wir haben noch gute fünfzig Minuten Zeit. Also noch genug, um eine solide Basis zu errichten. Also, Jess. Schieß' los. Was hast du heute nach der Schule noch vor?"
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