02 - Zwei Gesichter
Es ist schon interessant zu sehen, wie rasend schnell sich ein Mensch verändern kann. Da reicht es manchmal, einfach mit den Fingern zu schnipsen. In dieser Sekunde, fühlt sich verdammt kurz an, habe ich danach das Gefühl, ein völlig anderer Mensch stünde vor mir. Keine Frage, es hat mich innerlich verletzt. Ich habe es natürlich nicht zugegeben – da verzichte ich auf die Zielscheibe. Lieber tauche ich in der Masse ab. Das, was ich am besten kann. Die Sache ist nämlich die: Es geht, wie kann es anders sein, um Mikołaj. Um den Neuen. Ich habe gedacht, er sei doch normal. Jemand, mit dem man sich unterhalten kann, unabhängig vom Status, den man inoffiziell in dem Jahrgang erlangt hat. Er hat unkompliziert gewirkt. Offen für jeden. Verdammt, ich habe nicht einmal mehr angefangen, misstrauisch oder skeptisch zu sein. Ein Fehler, wie sich im Anschluss der Pause herausgestellt hat.
Die Stunden vor der Frühstückspause haben wir drei gemeinsam verbracht. So gesehen haben wir es ja gemusst – immerhin haben Elise und ich ihn in unsere Gruppe aufgenommen. Da hat er so vernünftig gewirkt. Gegen halb neun haben wir eine kleine Pause eingelegt. Fünf Minuten. Wirklich nicht länger. Ich habe mich dann doch überwinden können. Ihm ein paar Fragen gestellt. Einfach, um die Neugier zu zähmen. Mikołaj hat tatsächlich bereitwillig geantwortet, wenn auch auffällig ausweichend. Er wäre mit dem Wagen seines Vaters gekommen. Hat aber nicht die Erlaubnis dafür erhalten, weil er bisher zu jung und zu unerfahren hinsichtlich des Fahrens ist. Ich habe scherzhaft ergänzt, dass kein Fahrzeug den stattlichen RS7 überbieten könne. Diesen Moment, wie ich geschaut habe, als Mikołaj erwidert hat, sein Vater würde einen teuren Porsche mit inzwischen weit über neunhundert PS fahren, hätte man mit der Kamera festhalten können. Wie so ein Frosch mit offenem Maul. Habe ich mich vielleicht dämlich gefühlt. Elise hat ihm nicht geglaubt. Ich irgendwie auch nicht. Kein normales Fahrzeug, auch nicht die von diesem Hersteller, birgt eine solch ungeheure Kraft unter der Motorhaube. Der Neunzehnjährige zuckt mit den Schultern. Hat es mir nicht übel genommen. Niemand glaube ihm, solange man den Feuerteufel nicht selbst sieht.
Was ich noch erfahren habe? Mikołaj ist jemand, den man über all die Jahre im privaten relativ kleingehalten hat. Seine Eltern haben dafür gesorgt, dass er sein wahres Ich nicht richtig entfalten kann. Was, wie ich im Nachhinein festgestellt habe, auch völlig zu Recht geschehen ist. Er habe auch am Programm teilgenommen, um sich neu zu definieren. Das hat er also gemeint, dass man zunehmend irre sein würde, je länger man in seinem tausendfünfhundert-Einwohner-Dorf verweilt.
Soweit so gut. Ist es auch gewesen. Wir haben sämtliche Aufgaben lösen können. Selbst Mikołaj hat sich gut angestellt. Ich habe, bevor wir uns auf den Vortrag eingestellt haben, einen prüfenden Blick auf die Notizen geworfen. Mikołaj hat eine sehr verschlungene Schrift. Sehr elegant und teils voller Bögen oder Wirbel. An einigen Stellen ist er ins polnische gewechselt. Er habe es selbst nicht mitbekommen, als er im Schreibmodus gewesen ist. Ich habe eine wegwerfende Geste vollführt und gemeint, das werde so oder so nicht auffallen. Brachmann würde auf so etwas keineswegs achten. Letztes Jahr haben Victor und Eric sich den Scherz erlaubt und anzügliche Hommagen auf das Plakat geschrieben. Kein Kommentar, weder in schriftlicher noch in mündlicher Form. Seitdem setzen sie willkürliche Sätze auf das Papier und halten ihre Ausarbeitungen auf A4-Blättern fest. Eigentlich sollten wir Karteikartengröße verwenden.
Meine Gruppe hat nicht präsentieren müssen. Glück im Unglück kann man dazu sagen. Zumindest Elise hat man angesehen, dass ihr ein riesiger Felsbrocken vom Herzen gefallen ist. Delilah, Amélie und Francis haben da weniger Glück gehabt. Man hat sofort gemerkt, dass die Mädchen sich nicht die Mühe gemacht haben, eine ausführliche Ausarbeitung vorzutragen. Zu viele Lücken, dieses ständige Nachgucken auf die Notizen – das zieht die Bewertung mächtig nach unten. Ich bin selten gehässig. Denen wünscht man es trotzdem. Wer nur abschreibt und dadurch gute Punkte kassiert, kann auch gerne tief fallen. Vorzugsweise aufs Gesicht. Ich habe, während sie diesen schlechten Vortrag gehalten haben, mit meinem Handy gespielt. Wer hört auch schon freiwillig bei einem Vortrag zu? Jeder normale Schüler würde automatisch nach seinem Handy greifen oder sich mit jemand unterhalten. Oder blöd aus dem Fenster sehen. Sie machen alles, aber nicht zuhören. Mein Vater hat sich gemeldet. Er weiß inzwischen, dass ich während des Unterrichts regelmäßig zum Smartphone greife. Anfangs habe ich mir den einen oder anderen Rüffel einfangen dürfen. Solange die Noten stimmen, sei es doch scheißegal. Wie dem auch sei: Ich solle nach der Schule ein paar Dinge einkaufen. Als zweite Nachricht der Einkaufszettel von meiner Mutter. Er würde den Nachmittag über nicht mehr anwesend sein. Meine Mutter auch nicht. Bei ihr weiß ich, dass sie erst in zwei Tagen nach Hause kommen wird, dadurch, dass sie sich momentan in Paris aufhält. Bei meinem Vater hingegen habe ich nicht weiter nachgehakt. Es kommt schon vor, dass er für mehrere Wochen nicht mehr zu Hause ist. Ich mache mir darum keine Gedanken: Wenn die Aufträge in anderen Städten anstehen, dann muss man sich eben dorthin begeben.
Am Ende hat die Gruppe um Delilah fünf beziehungsweise sechs Punkte bekommen. Nicht viele, aber immerhin ausreichend. Meiner Meinung nach hätte man mehr Punkte abziehen können. Das Semester hat zwar erst begonnen, dennoch kann man allein schon wegen der Lernbereitschaft und Einstellung erkennen, wer das Zulassungsverfahren für die Abschlussprüfungen nicht durchstehen wird. Wir haben sogar die Tests ausgehändigt bekommen. Ich habe mich mit den vierzehn Punkten nicht gerühmt. Bescheidenheit ist gepflegt worden. Ein kurzes Lächeln, und ich habe die vier Seiten in die Unterlagen geschoben. Auch bei Elise, die sich seit einigen Tagen fertiggemacht hat, hat sieben erreicht. Ich freue mich für sie. Deutsch ist nicht ihre Stärke. Zumindest, was das Literarische angeht. Elise kommt mit dem Nüchternen sehr viel besser klar als ich. Einer der Gründe, weshalb sie in Mathe deutlich mehr Punkte einheimst als ich. Wenigstens kann ich bei ihr abschreiben, sollten nervenraubende Kontrollen anstehen.
Bis dahin ist es mit Mikołaj gut gegangen. Er hat mich, bevor er den Raum in Begleitung von Delilah und Francis verlassen hat, gefragt, wo denn der nächste Unterricht stattfinden würde. Unten. Er müsste eine Etage tiefer. Erster Flur und erste linke Tür. Der Raum ist nicht groß. Fünfzehn Schüler können dort untergebracht werden. Diesen Kurs hingegen besuchen zwölf Schüler. Alle, die die Sprache seit Beginn der siebten Klasse ausgewählt haben. Ab da hat sich Elises und mein Weg getrennt. Sie hätte nun Sport. Ich habe sie nach draußen begleitet. Es ist spürbar wärmer geworden. Meine Freundin hat die Jacke längst abgelegt und ist im weiten weißen Shirt herumgelaufen. Elise und ich haben über Mikołaj geredet. Wir haben ihn nebenbei beobachtet.
Und da ist mir klargeworden, was er eigentlich für eine Person ist. Delilah kennt er seit einen Tag. Einen verdammten Tag. Und trotzdem laufen sie herum, als wären sie ein Paar. Sie hat sich an ihn geschmiegt. Dieses Lächeln ... So falsch wie sie. Ich bin mir bewusst, dass ich allmählich ausfallend werde. Es ist nur: Delilah ist jemand, die bekommt, was sie will. Jedes Mittel sei da recht. Letztes Jahr hat sie um Arne gebuhlt. Ihrem inzwischen Ex-Freund. Arne hat mittlerweile die Schule verlassen. Studiert. Ich glaube, in Leipzig. Er ist der heiß umkämpfte Mädchenschwarm gewesen. Hat immerhin nicht schlecht ausgesehen. Selbst ich habe ihn als gut befunden. Ist bloß etwas schade, wenn man wie Luft wahrgenommen wird. Zwar präsent, doch man wird nicht weiter beachtet. Man nimmt es einfach hin.
Als sie den Platz verlassen haben, hat Mikołaj kein Wort mehr mit mir gesprochen. Hat mich nicht einmal weiter beachtet. Das tut schon weh. Ich habe mich dabei ertappt, wie ich langsam den Kopf geschüttelt habe. Da hat man das Gefühl, man hätte jemand Vernünftiges getroffen – ich habe mir sogar Hoffnung auf etwas mehr gemacht – und was ist? Man fliegt volle Kanne auf die Fresse, weil man mit der Wirklichkeit konfrontiert wird. Elise hat es mitbekommen und gemeint, ich solle ihn wieder vergessen. Es sei nämlich klargewesen, dass er niemand sei, mit dem man sich normal unterhalten könne. Schon, habe ich erwidert, aber dennoch hätte ich zumindest erwartet, dass er weiterhin mit mir spräche. Elise werde dafür sorgen, dass ich ihn schnell wieder vergesse.
Ich bin also allein zum nächsten Unterricht gegangen. Jetzt hätte ich niemanden, mit dem ich die Stunde durchstehen könnte. Elise ist seit etlichen Jahren meine einzige Stütze in diesem Loch. Ich atme lautlos durch und suche den Unterrichtsraum auf. Bahne mir einen Weg durch die Schülerschaft. Was ich spannend finde: Mikołaj ist ja kaum größer als ich, und ich bin eins fünfundsechzig. Ich gehe daher stark davon aus, dass er höchstens einen Meter siebzig ist. Delilah hingegen ist weit über Zweites. Eigentlich sucht sie nur die Typen, die größer sind als sie. Zusammen geben sie ein sehr gewöhnungsbedürftiges Bild ab. Es liegt sicherlich an seinen Augen. Wäre zumindest die einzig logische Erklärung. Die sind auch unheimlich anziehend. Wer hat schon so eine eigenartige Augenfarbe? Ich kenne da niemanden. Es ist nicht verwerflich, dass Victor sich bei Mikołajs Anblick erschrocken hat.
Ich habe derweil den kleinen Raum betreten. Es sind nicht alle eingetroffen. Da fehlen noch fünf. Langsam schlurfe ich durch die beiden Reihen. Nehme hinter Tobias Platz. Der Tobias, der den C-Klasse-Mercedes fährt. Jemand, der die Standardfloskeln gut beherrscht und für einen Smalltalk zu haben ist. Ich lasse mich auf dem Stuhl nieder. Behalte die Sachen vorerst in der Tasche. Ignoriere bewusst die Tatsache, dass Delilah auf Mikołajs Schoß gekrochen ist. Ich frage mich gerade, was ich verpasst habe. Der Tag hat schließlich noch gar nicht richtig angefangen und trotzdem führt sie sich auf, als hätte sie ihn erfolgreich für sich gewonnen. Ich bearbeite die untere Lippe, bis ich Blut schmecke. Es nervt mich. Wieso auch immer. Ist bestimmt dem Fakt geschuldet, dass ich mich so sehr in den Polen geirrt habe.
„Hast du eigentlich die Mitschriften aus den letzten beiden Stunden?" Tobias hat sich zu mir umgedreht. „Könnte ich dich deshalb ganz kurz um sie nerven?"
Ich sehe von meinem Handy auf. Tobias hat sich halb zu mir umgedreht und erwidert meinen ruhigen Blick erwartungsvoll.
„Klar. Warte kurz." Ich beuge mich zur Seite und ziehe den Block hervor. „Die müssten vorne sein. Wo der gelbe Zettel klebt." Ich führe meine Unterlagen mit einem gewöhnungsbedürftigen System. Keine Hefter, nur einen einzigen Block. Für jeden Kurs eine andere Farbe. Dass dabei die vorhandenen Blätter nicht ausreichen, ist mir schon klar. Die neuen Blätter liegen lose unter der letzten Seite. Ich sollte sie irgendwann ordnungsgemäß wegheften. „Hier."
„Du bist ein Schatz. Danke sehr." Der Braunhaarige lächelt kurz und nimmt ihn an sich. „Ach, weißt du was? Ein Foto ist viel besser." Er schlägt die von mir genannten Seiten auf, zückt das schwarze Handy hervor. Das Neuste von einer amerikanischen Marke. Tausendfünfhundert Euro für ein neues Handy – meine Eltern hätten mir einen Vogel gezeigt. Es ist kein Geheimnis, dass Tobias' Eltern Zahnärzte sind, die eine eigene Praxis führen. Wenigstens bewahrt er Anstand und bleibt auf dem Boden der Tatsachen. „Noch 'mal danke."
„Kein Problem", antworte ich mit einem kleinen Lächeln und lasse den Block auf dem Tisch liegen. In den Augenwinkeln sehe ich, wie Mikołaj Delilah von seinem Schoß schiebt und sie auffordert zu gehen. Wenigstens muss sie einen anderen Kurs besuchen. Ich wende ein wenig den Kopf in seine Richtung. Kann sehen, wie er problemlos Lea und Lena in ein Gespräch gewickelt hat. Ich forme die Lippen zu einem dünnen Strich und zwinge mich, wieder wegzusehen. Warum reagiere ich da etwas empfindlich? Ich kenne ihn nicht einmal und trotzdem mache ich daraus eine halbe Sache.
Eine neue Nachricht von Kira. Meine Cousine. Ich öffne den Chat und lese mir die Nachricht durch. Sie fragt mich, ob ich am Wochenende mit ihr nach Berlin fahren möchte. Kira ist mir sehr ans Herz gewachsen. Wie Elise ist sie eine Art kleine Schwester für mich. Als Einzelkind sehnt man sich viel mehr nach Gleichgesinnten, als wenn man mit Geschwistern aufgewachsen ist. Ich lasse ihr meine Vorfreude zukommen. Ein Tag mit Kira bedeutet immer: Einkaufen, essen, noch einmal einkaufen. Vielleicht wieder etwas essen und verdammt lange reden. Über Gott und die Welt. Manchmal über unsere Eltern. Sie ist zwar ein Jahr jünger als ich, wirkt aber unverhältnismäßig erwachsen. Sollte man dieses einst blonde Mädchen sehen, würde man nicht darauf kommen, dass sie erst die elfte Klasse besucht. Es ist oft vorgekommen, dass man sie für eine Studentin gehalten hat.
Sie fragt mich, wie es mir ginge. Ich runzele für einen Moment die Stirn. Tippe eine ehrliche Antwort ein. Schicke sie ab. Die Stunde hat mittlerweile begonnen. Lausche der similären Rede von der alten Dame, die Brachmann vorgetragen hat. Mikołaj darf sich erneut vorstellen. Die gleichen Sätze, die er in der Klasse vorgetragen hat. Frau Kentlie scheint sich wahrlich zu freuen. Sie bohrt mit einigen spezifischen Fragen nach. Wie zu erwarten auf Polnisch. Ich schmunzele, als ich links von mir sehe, wie Tristan sein Frühstück herausholt und beginnt zu verspeisen. Es dauert nicht lange, und im Raum breitet sich der Geruch nach Teewurst aus.
„Boah, Junge. Musst du diesen Scheiß jetzt essen?", fragt Tobias leise und wirft Tristan einen vernichtenden Blick zu. „Mach' wenigstens das Fenster auf."
„Halt' die Fresse und dreh' dich um", fordert Tristan im gleichen Tonfall, allerdings geht er der Aufforderung von ihm nach. „Besser?"
„Es wird erst besser, wenn du diese Scheiße wegpackst. Mein Gott, es war gerade Pause. Du kannst nicht laufend ans Essen denken." Er dreht sich wieder um. Der Rest des Kurses hat den Geruch inzwischen registriert. Alina unterdrückt ihr Gelächter.
Der Unterricht beginnt. Wie immer mit einer Wiederholung aus der letzten Stunde. Jeder darf seine Antwort beisteuern. Die Sätze gleiten ohne Schwierigkeiten über die Lippen. Ich bin mir bewusst, dass meine Aussprache teilweise zu scharf ist. Es dauert nun einmal ziemlich lange, bis man die halbwegs beherrscht. Selbst nach fünf Jahren intensivem Lernen weise ich hier und da Lücken auf oder mir gelingt die Aussprache nicht. Aber immerhin kann ich mir neue Wörter merken und lange Texte verfassen. Ganz anders mit Französisch. Da bin ich weiterhin auf sämtliche elektronische Übersetzer angewiesen, die ich selbst während Kontrollen verwende.
Kira hat mir geschrieben. Ihr selbst gehe es hervorragend. Hätte sogar einen Freund. Ihren zweiten. Ihr Geschmack ist besonders. Es ist vor allem für sie nicht leicht, Gleichgesinnte zu finden. Kira hat sich die Haare hellblau gefärbt. Zwei Piercings in der unteren Lippe, das rechte Ohr mit sechs Ringen. Ihr neuer Freund, zwei Jahre älter als sie, hat selbst gefärbte Haare. Dieses Blond kann keineswegs natürlich sein. In dem rechten Nasenflügel ein silberner Ring. Sie habe ihn in einem Café kennengelernt, als sie allein spazieren gegangen ist. Valentin hieße der Gute. Er arbeite in der Stadtverwaltung von Köpenick. Wieder muss ich lächeln. Es ist schön zu hören, wenn jemand, der mir viel bedeutet, endlich das Glück für sich gefunden hat. Jetzt wäre es umso besser, sollte diese Beziehung länger als ein Jahr halten.
Ich ertappe mich dabei, wie ich verstohlen zu Mikołaj linse. Ein kurzer Schrecken jagt durch mich. Er beobachtet mich. Ich schlucke tonlos und zwinge mich, mir nichts anmerken zu lassen. Was soll das? Ich denke mir nichts dabei und widme mich wieder dem virtuellen Gespräch mit meiner Cousine. Es wäre fair, wenn sie erfahren würde, dass wir einen neuen Mitschüler auf Zeit bei uns haben. Ich schreibe ihr, dass wir seit heute einen Austauschschüler hätten. Mikołaj sei sein Name und er komme aus einem Dorf in Polen. Ich erwähne seine seltsame Augenfarbe. Ein eisiges Blau. So frostig, dass jegliches Blau beinahe verschwunden ist. Sie wolle wissen, ob er denn gut aussehe. Ich schmunzele erneut. Grinse ein wenig und antworte, dass es darauf ankomme. Okay, insgeheim muss ich gestehen, dass ich ihn gut finde.
Die Doppelstunde zieht sich im Schneckentempo voran. Ich muss darauf achten, den Akku nicht leerzuspielen. Der Tag ist noch lang, und ich habe dieses Mal kein Ladekabel parat. Normalerweise lade ich mein Handy in der Schule auf. Oder im Auto. Je nachdem, wie die Lebensdauer aussieht. Ich habe derweil beschlossen, Sinnloses auf einem ausgesonderten Blatt zu kritzeln. Irgendwelche dummen Figuren. Fremdsprachige Sprüche, die ich Büchern oder Filmen entnommen habe. Für eigene ist man dann doch zu unkreativ. Oder, ich schreibe einen kompletten Text eines Liedes herunter. Ein leises Gähnen meinerseits. Noch eine ganze Dreiviertelstunde. Ich könnte durchdrehen. Es ist schrecklich langweilig ohne Elise. Was sie wohl macht? Laufen, ganz bestimmt. Hoffentlich denkt man daran, genug Sauerstoff bereitzustellen. Elises Kurs besuchen sehr viele Raucher. Die haben es noch nie leicht gehabt.
Frau Kentlie lässt Aufgaben durchreichen. Jeder solle sich zwei Blätter nehmen. Diese sollen wir nun erledigen. Alles, was wir nicht schaffen, soll zur nächsten Stunde beendet werden. Ich nehme Tristan den Stapel ab. Gebe ihn weiter, nachdem ich mein beiden Zettel genommen habe. Textarbeit. Und dazu ein Abschnitt, der allein vom Inhalt her viel zu komplex ist. Das hat auch Mikołaj festgestellt. Ihm ist bestimmt nicht bewusst, dass man ihn verstehen kann, als er flucht. Einige fangen an zu lachen. Ich gehöre nicht dazu, wobei ich es mir verkneifen muss. Die Lehrkraft mahnt ihn zur Erhaltung und verlangt eine gründliche Lösung. Man werde es schaffen, es sei machbar. Immerhin hätte sie es selbst ohne Schwierigkeiten erledigen können. Ja, so alt wie Sie sind, ist es auch kein Wunder. Der Text ist bestimmt gefühlte hundert Jahre alt.
„Mann, das ist doch Kacke", grummelt Tristan und legt den Kopf auf den Tisch. „Ich mach' den Scheiß zu Hause. Hab' darauf echt keinen Bock." Da wird das Handy wieder interessant.
Ich kommentiere es nicht, wage mich an die erste Aufgabe. Eine prägnante Zusammenfassung wird verlangt. Das heißt: Erst einmal lesen. Ich stoße die Luft aus und mache mich an die Arbeit. Der Text erstreckt sich auf zwei Seiten.
Die Stille kehrt ein. Frau Kentlie wandert manchmal zwischen den einzelnen Reihen durch und wirft einen flüchtigen Blick auf die Arbeit. Sie hat Tristan zum Anfangen bewegt. Nach fünf Minuten hat er die Arbeit wieder niedergelegt und sich etwas anderem gewidmet. Sie bleibt jedes Mal bei Mikołaj stehen und schaut ihm beim Lösen zu. Dass er nur willkürlichen Schwachsinn aufgeschrieben hat, hat er nach Stundenende verkündet. Trotzdem hätte sie ihn gelobt.
„Am Donnerstag will ich die Ergebnisse sehen. Vielleicht darf einer von Ihnen die Lösungen vortragen und sich auf eine Bewertung freuen. Wir brauchen schließlich ein paar Punkte." Schwunghaft nimmt sie die alte Ledertasche an sich. „Bis zum nächsten Mal."
Wie immer vereinzelte Resonanz. Die meisten von uns verlassen den Raum. Ich gehöre nicht dazu. Man kann mich gerne als Streber betiteln, allerdings lege ich viel Wert darauf, die Aufgaben so früh wie möglich zu beenden. Elise weiß außerdem, wo sie mich findet. Wobei ... Eigentlich könnte ich sie doch zu Hause erledigen. Heute hätte ich das Haus für mich allein. Also sammele ich sämtliche Unterlagen ein und stopfe sie in den Rucksack. Erhebe mich und schreibe Elise, dass ich mich auf dem Weg zum nächsten Raum begebe. Englisch steht nun an. Mir ist aufgefallen, dass ich den ganzen Montag die gleichen Kurse wie Mikołaj besuche. Super. Viel besser kann ein Montag nicht sein. Ich eigne mir einen neutralen Gesichtsausdruck an, als ich aus dem Raum gehe. Der Neunzehnjährige ist mittlerweile verschwunden. Wie ich es mir gedacht habe, mit Lena. Gerade bei ihr hätte ich niemals erwartet, dass sie mitgehen würde.
Man hat die gläsernen Geländer aufgesucht. Steht entweder zu zweit dort oder als kleine Gruppe. Man lacht, scherzt, lästert oder beobachtet. Hauptsächlich die jüngeren haben sich etwas aus der Kantine besorgt. Schnelle Snacks, die leider für keine langanhaltende Sättigung sorgen. Umso mehr freue ich mich darauf, mit Elise, Zayneb und Charlotte in die Stadt zu fahren. Mit Zayneb zu fahren, ist immer wieder ein Abenteuer für sich. Man merkt sofort, dass sie sich die Fahrweise ihres älteren Bruders Ilkay angewöhnt hat. Da fährt man gerne schneller als erlaubt oder übersieht gut und gerne Radfahrer.
Ich suche nun den nächsten Raum auf. In der obersten Etage. Das Handy vibriert in der Hosentasche. Mehrmals. Bestimmt die Klassengruppe. Wo wir hätten. Jedes Mal die gleichen sinnlosen Fragen.
Elise wartet schon auf mich. Vor dem Klassenzimmer. Sie hätte mir Lustiges zu erzählen. Ich stelle die Tasche zwischen den Füßen ab und lausche ihrer Erzählung. Sie bringt mich zum Lachen. Leon hätte Gustav ausversehen einen Softball in das Gesicht geworfen. Wegen des eigenartigen Geräuschs hätte man lauthals losgelacht. Selbst Gustav, wenngleich dieser aus der Nase geblutet hat. Es tut gut zu sehen, wie Elise lacht. Es steckt einen an und lässt die eigenen Gedanken vergessen.
„Und? Wie ist Polnisch gewesen? Wie hat sich die eiskalte Flamme angestellt?"
Ich habe etliche Sekunden gebraucht, um zu verstehen, dass Elise Mikołaj gemeint hat.
„Ganz normal. Ja, man hat einfach gemerkt, dass es ihm mehr als liegt", antworte ich betont lässig und sehe zwei Achtklässlerinnen nach. „Kentlie hat ihn bevorzugt. War auch irgendwie voraussehbar gewesen." Ich habe ein Apfelstück aus Elises Box genommen, die sie mir entgegengehalten hat. „Am Ende haben wir Aufgaben bekommen. Hättest 'mal hören müssen, wie er sich darüber beschwert hat. Hat Kentlie nicht ganz so lustig gefunden." Ich erwidere ihren aufgeweckten grünen Blick. „Andere Frage: Hast du Lust auf einen Nachmittag am See oder bei mir? Mein Vater hat mir vorhin geschrieben, dass er für heute nicht zu Hause sein wird."
Elise ist die Einzige von meiner Schule, die meinen Vater jemals zu Gesicht bekommen hat. Sie kennt ihn nicht nur wegen mir. Auch wegen des ganzen medialen Trubels, den man in den vergangenen Jahren um ihn veranstaltet hat. Mein Vater hat sich sehr zurückziehen müssen und hat eine Zeitlang nicht mehr das Haus verlassen. Sämtliche Arbeiten sind per Internet abgelaufen. Ich kann mich unheimlich glücklich schätzen, dass sie in ihn einen normalen Mann sieht. Elise kümmert sich nicht um jede schreckliche Taten, die er einst begangen hat.
„Gerade er muss sich darüber beschweren, weißt? Der Typ, dem so'n Scheiß geradezu zufliegt." Sie schluckt den Bissen herunter. „Ach, echt? Ja, dann liebend gern. Ich kann auf Marlies verzichten. Die nervt mich extrem." Ihre pubertierende Schwester. „Entscheiden wir spontan, was wir machen werden." Elise sieht den Gang entlang. „Wo ist dein Vater hin?"
„Ist eben Mikołaj", meine ich resigniert und lehne mich an die Wand. „Weiß ich nicht. Hat er mir nicht geschrieben. Wahrscheinlich irgendwo in Frankfurt. Hamburg würde mich auch in den Sinn kommen. Keine Ahnung." Die Lippen verformen sich zu einem Lächeln. „Ist sie wieder so anstrengend?"
Elises Augen werden groß.
„Anstrengend? Die ist nicht anstrengend. Sie ist schrecklich nervig. Raubt mir jeden verdammten Nerv. Sie beschwert sich wegen jeder Kleinigkeit, mault mich an, wenn ich etwas zu ihr sage. Meint, nicht auf mich hören zu müssen, weil sie ja alles besser wisse." Sie schnaubt verärgert. „Manchmal wünsche ich mir, ich könnte sie einfach vors Auto schubsen und mehrfach überfahren. Sie ist nervig."
„Da kann ich mich glücklich schätzen, dass ich ein Einzelkind bin." Ich lache für einen Moment. „Du weißt: Die Haustüren stehen für dich immer offen. Sag' einfach Bescheid, wenn du eine Auszeit brauchst." Noch fünfzehn Minuten.
„Kannst du auch. Diesen Tasmanischen Teufel will man sich nicht ins Haus holen." Sie streicht kurz über meinen rechten Arm. „Danke, Jess. Ich werde noch auf dich zukommen." Elise verengt kurz die Augen. „Hab' gehört, Delilah macht sich an Mikołaj 'ran. Jetzt wissen wir zumindest, dass der Scheiß nicht ohne Grund so abläuft."
„Lustigerweise ist er aber mit Lena unterwegs. Hab' sie vor ein paar Minuten hinter der Schule gesehen." Ich kann keine schadenfreudige Miene verbergen. „Das wird ihr aber nicht gefallen, sollte Miss Perfect herausfinden, dass ihr zukünftiger Freund eine andere am Start hat." Ich hebe ein wenig die Augenbrauen. „Aber jetzt 'mal Klartext: Der Typ ist erst seit einen Tag bei uns. Wie kann es sein, dass er jetzt schon versucht, die ersten Mädchen 'rumzukriegen? Das wird nicht nur bei Delilah und Lena bleiben. Ganz bestimmt nicht."
„Ach, echt? Das überrascht mich jetzt aber." Elise isst das letzte Stück auf. „Wird's auch nicht. Solche Kerle werden es nicht nur bei zwei, drei Mädels belassen. Der wird versuchen, die Hälfte des Jahrgangs flachzulegen. Mindestens." Die Brotdose verschwindet im Rucksack. „Hey, er ist immerhin nur ein halbes Jahr bei uns. Da muss man eben 'ranklotzen. Von nichts kommt nichts." Eric und Leon sind aufgetaucht. Wenig später folgen Zayneb und Charlotte. „Ganz ehrlich: Er ist jetzt unten durch bei mir. Er hat seine Chance gehabt, bei mir einen guten Eindruck zu hinterlassen. Er hat's eben vermasselt." Sie blickt mich an. „Ganz ehrlich: Sei bloß vorsichtig. Er kann noch ganz anders."
Es ist echt schade. Ich hätte nicht gedacht, dass er sich zu so einem Menschen mausern würde. Ich meine, klar, man will etwas den Rahmen sprengen. Kann ich auch irgendwo nachvollziehen. Er hat selbst gesagt, dass er bei sich zu Hause kleingehalten worden ist. Aber muss man das so eskalieren lassen? Muss man so sein? Charlotte und Zayneb haben sich zu uns gesellt. Sprechen aber vielmehr mit Elise. Ich stehe nur schweigend und teilnahmslos daneben. Wie ich schon einmal gesagt habe: Man weiß, ich bin da, aber man beachtet mich nicht weiter. Mikołaj hat mit der Nummer bei mir fast alle Karten verspielt. Allein schon, dass er nun versucht, das eine oder andere Mädel 'rumzukriegen, lässt die Sympathie mächtig abflauen. Na ja, selbst schuld. Jetzt kann man behaupten, man hätte einen anderen Menschen vor sich zu stehen. Einen Menschen, bei dem man höchste Vorsicht walten lassen sollte.
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