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Salzwasser brennt auf Wunden. Es fließt tief, bis ins Herz hinein und füllt dich auf mit einem nahezu ätzenden Gemisch. Wasser und Salz. Und was in der Nordsee sonst so schlummert.
Es regnet in Strömen, große fette Tropfen laufen die Fensterscheibe des IC2374 herunter. Der Fahrwind treibt sie nach hinten, als würden sie einen Wettkampf gegeneinander schwimmen.
Westerland (Sylt) steht als nächster Halt auf der Anzeigetafel. Obwohl es noch fünf Minuten dauert, bis der Zug die Station erreicht, machen sich die Familien und Paare startklar den wohlverdienten Sommerurlaub anzutreten. Ein mittelständischer Familienvater, Meister bei einem x-beliebigen Elektriker und eine Mutter, die dem Bild der klassischen Hausfrau nicht widersprechen möchten und im C&A noch schnell eine neue Tunika-Leggings-Kombination ergattert hat. Sie haben zwei Kinder. Ein Junge, vielleicht dreizehn, der von seinem Smartphone nicht aufschauen kann und in voller Lautstärke YouTube-Videos konsumiert und ein Mädchen, klassisch in einem rosa Kleidchen mit Einhorn- und rosa Leggings mit Lollypop-Aufdruck. Vielleicht zehn. Beschwert wird sich vom Vater bei einer anderen deutschen Prototyp-Familie über das Wetter. Da fährt man einmal ans Meer und dann sowas. Sauwetter. Unerhört. Da hätte man auch nach Mallorca fahren können. Da sei immer gutes Wetter! Sylt wäre auch windig. Kalt. Karg. Gräulich. Und überteuert. Das hat nichts mehr mit einem bürgerlichen Urlaub gemein.
Abgeneigt drückt Romina ihre Kopfhörer tiefer in die Ohren.
Der Mann hat Recht. Sylt ist karg, kalt, gräulich. Kaum eine Insel ist windiger. Kaum, nein, gar keine, Insel ist teurer. Ein Quadratmeter kostet zehntausend Euro.
Zehn verschissen tausend Euro.
Auf Sylt regiert die Steppjacke, der blaue Polospieler auf weißem Poloshirt, die braunen Wildlederslipper und der grüne Schein mit den zwei Nullen. Den schiebt man hier gern in teuren Strandbars der Bedienung zu und legt ihr die Hand auf den unteren Rücken. Heute bedienst du nur uns, Liebes. Da wo der Schein herkommt, gibt es noch mehr. Holst du uns noch eine Runde, ja?
Sie tragen keine Kronen, sondern Sonnenbrillen mit Logo im Bügel und Gläsern, in denen sich der Sonnenuntergang am Horizont spiegelt. Und ihnen gehört alles. Ihnen gehört so verschissen nochmal alles.
Wir atmen ihre Luft, wir fahren auf ihren Straßen, wir scheißen in ihre Klos.
Wir kriechen. Für sie. Für die Könige und Königinnen.
Wer sagt, die Monarchie sei tot, der war noch nie auf Sylt.
Der Zug bremst ab.
Endstation.
Das Ende der Welt.
Sylt.
»Jetzt zieht schon eure Jacken an!«, hört Romina die Mutter gedämpft befehligen, während ihr gleichzeitig Kurt Cobain durch die Gehörgänge schreit. Obwohl es nicht ihre Mutter ist, stellt sich bei Romina augenblicklich das Bedürfnis ein, es den Kindern gleichzutun. Sie löst sich vom Sitz, hievt ihren Koffer von der Ablage über sich herunter und quetscht sich gemeinsam mit allen anderen Reisenden in den Durchgang. Dann hält der Zug, im Fenster sieht man den Bahnsteig und unter einem mechanischen Geräusch öffnen sich die Türen.
Ein Jahr hat Romina den Inselboden nicht berührt. Und jetzt, ausgerechnet unter dramatischem Regen, findet sie zurück. Mit schwerem Magenknurren.
Es ist laut am Bahnsteig, viele Kofferrollen brettern über den alten Boden Richtung Ferienhaus und Hotelzimmer. Romina nicht. Sie bleibt in der Bahnhofshalle stehen und kehrt spontan im Kiosk ein, sucht sich eine kleine Packung Chips und eine Limo aus. Ohne auf den Verkäufer zu achten, stellt sie ihre Einkäufe auf dem Tresen ab und kramt ihr Portmonee heraus. Noch immer Kurt Cobain im Ohr, der verspricht, dass er keine Pistole hat.
»Fünf Euro sechzig.«
Eine Stimme, über die Musik kaum hinweggesetzt, die so vertraut ist, dass es Romina einen Schauer über den Rücken jagt. Geschockt hebt sie den Blick, schaut direkt in die nordseegrauen Augen, ein markantes Gesicht, kaum Bartstoppel am Kinn, raspelkurzes tabakbraunes Haar, schmale Lippen, die kein Lächeln bilden.
»Bukowski« spricht sie fast tonlos aus und nimmt einen Kopfhörer heraus. Sofort verstummt die Musik - alles verstummt. Nur das Herz. Das schlägt ohrenbetäubend laut. »Du arbeitest hier?«, fragt Romina das offensichtliche und schielt irritiert auf das Namensschild an dem schwarzen Poloshirt, die Uniform des Bahnhofshops. Es bedient Sie: Finn Bukowski.
»Hallo Romi«, gibt er verhalten zurück. Noch immer nicht das Gesicht verziehend. »Fünf Euro sechzig«, erinnert er dann und deutet auf die Flasche.
»Mit Karte bitte«, murmelt sie.
»Das geht erst ab zehn Euro.« Ein Anflug von Lächeln schleicht sich in sein Gesicht. Schadenfreude. »Oh, dann ähm ...« Jeder Funke Souveränität entweicht Romina. Sie greift zu den Schokoriegeln und legt eine Handvoll dazu. »Reicht das?«
Er seufzt, tippt irgendetwas auf seinem Bildschirm ein und nickt dann. »Elf Euro siebenundneunzig.«
Sie zieht die Karte aus dem Portmonee und legt sie auf das Kartenlesegerät, nachdem er ihr signalisiert hat, dass sie das nun dürfe. Es piept zufrieden, als der Betrag überwiesen wird. Zahlung erfolgreich.
»Vielen Dank. Einen schönen Aufenthalt auf der Insel«, sagt Finn, als würden sie sich nicht kennen. Als wäre Romina nur eine Touristin und er seine beschissene Begrüßungsplatte abspielen. Seine Rolle als Bediensteter der Gäste spielen.
»Danke, ich bleib nicht lange«, antwortet Romina und versteht selbst nicht, wieso sie lügt. Eigentlich hatte sie geplant, den ganzen Sommer auf Sylt zu verbringen.
»Umso besser für alle, nicht?« Finns Kiefer spannt sich an und in seinem Blick funkelt die Abneigung. Romina presst die Lippen aufeinander, lächelt schwach und packt ihre Sachen in den Jutebeutel.
»Absolut. Dabei hab ich dich fast vermisst.« Sie schaut ihm direkt in die Augen. Finn verzieht den Mund zu einem Lächeln, aber bleibt im Blick völlig eisig. »Fahr zur Hölle, Romina«, spricht er aus.
Plötzlich sticht es ganz doll im Herz und anstatt, dass Romina irgendetwas schlagfertig erwidert, fühlt sie sich nur wie ins Gesicht geschlagen, macht auf dem Absatz kehrt und steckt sich ihren Kopfhörer zurück ins Ohr. Ihr Herz flattert vor Schmerz ihn sehen zu müssen. Ihn. Das Gespenst der Vergangenheit, das sie niemals wieder sehen wollte.
*
Völlig durchnässt, nahezu frisch geduscht vom Regen, zieht sie vor einer klassischen Nordseebaute mit hellblauen Türen, Fensterläden und -rahmen ihren Hausschlüssel aus der Jackentasche, drückt ihn ins Schloss.
»Fahr doch selbst zur Hölle«, murmelt sie gereizt. Immer wieder taucht sein Gesicht vor ihr auf. Sein Gesichtsausdruck. Diese eisige Kälte, bei der selbst das Meer zufrieren könnte. Diese Abneigung. Schon fast ein Ekel. Als würde er sich übergeben müssen, nur weil sie den Raum betreten hat.
Wie üblich klemmt die Tür leicht – dann muss man immer sein Eigengewicht gegen drücken. Sie war nicht immer hellblau, ihr Vater hatte sie irgendwann mal gestrichen und seitdem klebt der Lack im Sommer zusammen wie Kaugummi an Schuhsohlen auf der Straße.
Gereizt drückt sie sie auf, macht einen Schritt nach vorne und stolpert prompt über Umzugkartons. Steffis Bastelkram.
Es klirrt.
»Fuck!« Romina versucht, sich ungelenk aufzurappeln.
»Herr Gott – Romi!« Aus der Küche kommt ein Mann angelaufen, auf den die Beschreibung ‚Seebär' überdeutlich passt. »Was soll das Chaos?«
»Dasselbe könnte ich dich fragen«, grummelt Romina gereizt und schaut auf den Karton. Neben ihm steht noch einer, darauf noch einer. An der anderen Wand noch mehr. Überall Steffis Bastelzeug. Steffis Klamotten. Steffis Geschirr.
Steffi ist schon ein paar Monate Asche in einer Urne auf dem Friedhof.
Ich habe es noch nicht weggegeben«, gesteht Henri Seil seiner Tochter das Offensichtliche reuevoll. Sofort stellt sich das Mitleid bei Romina ein.
»Tut mir leid«, murmelt sie und fällt ihrem Papa dann in die Arme. »Hi Pa«, flüstert sie leise.
»Schön dich wieder zu sehen«, gibt er zurück, drückt sie ganz fest an sich. »Wie war die Fahrt?«
»Lang. Aber immerhin nur siebenunddreißig Minuten Verspätung.«
»Immerhin«, bestätigt Henrie und geht zurück Richtung Küche. Romina lässt ihre Sachen im Flur zurück und folgt ihm. Schweigend bleibt sie im Türrahmen stehen, während ihr Vater am Herd Bolognese umrührt.
Verwahrlosung ist ein Zeichen von Depression, schießt es Romina durch den Kopf. Die Küche ist verwahrlost. Es stapeln sich Töpfe, Pfannen und Geschirr, das sich danach sehnt abgespült zu werden. Aus einem der zwei Mülleimer kriecht der Geruch von Verwesung gemeinsam mit einer Ansammlung Fruchtfliegen heraus und verteilt sich im gesamten Raum, fast so schlimm, wie die Pfandflaschensammlung, die aus allen Nähten quillt. Die alten blauen Mosaikfliesen, die seit 1907 den Boden zieren, sind verschmutzt und das Muster kaum erkennbar.
»Hat das hier einen bestimmten Grund? Bewirbst du dich bei irgendeinem Hausputz-Format?«, fragt sie direkt und deutet auf das Chaos.
Ihr Vater lässt von der Bolognese ab, schaut sich um und winkt ab. »Ist nicht so schlimm. Das räum ich später weg. Erzähl du mir mal lieber von dem Uni-Leben. Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen? Ostern?«
Romina nickt und presst die Lippen aufeinander.
Draußen prasselt der Regen auf die Wiese und Terrasse.
Drinnen prasseln nur Schuldgefühle auf Romina ein.
Sie ist nicht da gewesen, als es passiert ist. Sie hatte nicht geholfen, als Steffis Sachen in Kisten gepackt, und ihr Körper eingeäschert wurde.
Sie hatte nicht auf der Beerdigung die Hand ihres Vaters gehalten.
Sie ist nicht da gewesen.
Sie ist in Konstanz gewesen, hatte aus mitteldichten Faserplatten Modelle geklebt und gesteckt, im Seminar präsentiert.
Sie ist in Konstanz gewesen, hatte sich auf WG-Partys eine neue Romina Seil geklebt und gesteckt, neuen Freunden präsentiert.
Sie ist nicht da gewesen.
»Ich habe dein Paket bekommen«, fährt er fort und lächelt seine Tochter liebevoll an, als wolle er ihr ohne Worte sagen, dass sie keine Schuld trägt. »Und die Bilder von den Modellen habe ich ausgedruckt und im Wohnzimmer aufgehangen.«
Unweigerlich muss Romina lachen. »Du hast sie ausgedruckt und aufgehangen?«
»Damit jeder weiß, was mein Mädchen alles konstruiert.«
»Es sind nur zwei Semester, Pa. Grundkurse. Wirklich absolut nichts Bedeutungsschwangeres.«
Henrie winkt ab. »Für mich ist alles, was du tust bedeutungsschwanger.« Er hält kurz inne. »Denkst du, wir benutzen das richtige Wort? Meinst du nicht bedeutungsvoll?« Romina zuckt mit den Schultern. »Ich studiere Architektur. Nicht Germanistik.«
Ungefragt beginnt sie die Müllbeutel zuzuknoten und wirft einen überlegenden Blick nach draußen. Der Regen prasselt unaufhörlich, aber der Gestank in der Küche kann selbst durch den Bologneseduft kaum überdeckt werden.
Er kann so nicht leben, denkt Romina.
»Romi, lass das doch stehen«, will Henrie protestieren, aber sie schüttelt nur wortlos den Kopf.
»Warte wenigstens den Regen ab.«
»Nein, ich mach das jetzt und gut ist. Dann gibts hier ein Problem weniger.«
Sie schnappt sich den Hausschlüssel, hebt die Müllbeutel hoch und unterdrückt den angewiderten Gesichtsausdruck, um es Henrie nicht unangenehm zu machen. Dann schleift sie den Müll raus. Im Türrahmen bleibt sie kurz stehen, sucht im Angesicht des Regens die letzte Überwindung in sich und geht dann zu den Mülleimern, die direkt an der Straße stehen. Sie hievt gerade einen Sack nach dem anderen in die graue Tonne, da hört sie es schon wieder.
Finn verschissen Bukowski.
»Sieht schon fast verdächtig aus, ausgerechnet jetzt Müll rauszubringen.«
Romina wird ganz kalt, die Regentropfen durchnässen sie. Und so gerne sie auch einfach gehen würde, sie kann nicht. Wie festgewachsen steht sie da und sieht ihn an. Wie gerne wäre sie jetzt schlagfertig.
»Was willst du?«, bekommt Romina heraus.
»Henrie hat mich eingeladen.«
»Wozu?«
Finn runzelt die Stirn und macht das Gartentor auf, während er weiter spricht. »Zum Abendessen.« Jetzt steht er direkt vor Romi, der Regen tropft ihm aus den Haaren, die jetzt nass ganz schwarz aussehen.
Ihm fehlt die Wärme im Gesicht, denkt Romi.
Früher war er oft da, zum Abendessen, zum Mittag essen, zum Hausaufgaben machen, zum Frühstück. Finn war wie ein Sohn für Henrie. Er hatte sogar nahezu sein eigenes Zimmer, direkt gegenüber von Rominas im ersten Stock. Henrie nannte es das Gästezimmer, aber Finn war der einzige Gast, der in aller Regelmäßigkeit darin schlief. Immer dann, wenn es im Bungalow auf dem Campingplatz zu kalt wurde, der Sommer sich dem Ende neigte, oder er sich mit Claas, seinem Halbbruder, stritt. Claas schlief auch manchmal hier. Immer dann, wenn ihre Mutter einen schlechten Tag hatte. Oder eine schlechte Woche. Einmal, da war es sogar ein schlechter Monat.
Für Romina war Finn fast Teil der Familie. Bis er es letztes Jahr nicht mehr war. Nicht mehr sein durfte.
»Ah.«
Finn entgegnet nichts außer ein Nicken, dann geht er einfach zur Haustür, zieht einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und verschwindet drinnen.
Romina bleibt noch immer regungslos stehen. Es fühlte sich so sehr nach Verrat von allen Seiten an. Dass er diesen Schlüssel hat, noch immer hat. Wie oft war er hier gewesen, während sie weg war?
Er hat kein Recht sich ihre Familie, ihren Vater, unter den Nagel zu reißen.
Früher ist Romina nie eifersüchtig auf ihn gewesen. Früher hatte sie Mitleid mit Finn und wusste, dass er das brauchte. Dass er irgendeine Stabilität, Kontinuität im Leben brauchte. Sie war stolz darauf gewesen, dass Henrie ein so großes Herz hatte, dass sie alle hineinpassten.
Jetzt hingegen wirkt Finn wie ein Virus, der sich einnistet und alles zerfrisst, erkranken lässt.
So wie er Romi krank gemacht hat, so wie er sich in ihr eingenistet hat, sie zerfressen hat.
Der Regen fällt weiter aus dem Himmel auf sie hinab. Durchnässt die bequeme Kleidung, mit der sie zehn Stunden im Zug saß. »Das ist doch krank«, murmelt sie, wirft die letzte Mülltüte weg und stampft dann hinein, fest entschlossen Finn die Meinung zu sagen.
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