Prolog
Ich stand am Bug meines neuen Schiffes und hatte meine Hand in die Hüfte gestemmt. Mein Blick war geradeaus gerichtet und meine Augen hingen starr am Horizont. Der Wind wehte mir beißend entgegen und trieb meine Haare peitschend nach hinten. Das Meer schlug Wellen, die mit dem wohlbekannten Geräusch am Schiffsbauch brachen und der Himmel war grau. Ich schmeckte Salz, als ich mir mit der Zunge über die Lippen fuhr. Ich verengte die Augen und fokussierte den Horizont nun noch genauer.
Er ließ lange auf sich warten. Wirklich lange. Ich biss mir auf die Unterlippe. Vielleicht hatte er mich vergessen.
Doch just in diesem Augenblick tauchte am Horizont ein Schiff mitten aus dem Meer auf. Es war groß und gewaltig und hatte helle, allerdings äußerst dreckige, zerschlissene Segel. Es war die gefürchtete Flying Dutchman unter der Leitung von Davy Jones. Meine Mundwinkel zuckten in die Höhe. Endlich.
Und nur ein paar Minuten später befand ich mich auf seinem Schiff. Er und seine Crew aus Fischköpfen beäugten mich feindselig. Mein Grinsen war mittlerweile verschwunden und Unbehagen machte sich in meiner Brust breit. Ich fühlte mich unglaublich beobachtet, klein und nichtig.
"Wer seid Ihr? Was wollt Ihr hier? Und wieso habt Ihr mich gerufen?", zischte Davy Jones und seine Tentakeln zuckten, während seine Augen mich anfunkelten.
"Mein Name ist Captain Erin Bailey."
"Bailey?", fragte Jones verächtlich und schnaubte. "Ihr seid doch nicht etwa Edward Baileys Brut?"
Brut? Das war ja ein außerordentlich höflicher Ausdruck. Ich verstand nun, dass die meisten Piraten Davy Jones mieden. "Aye, ich bin seine Tochter."
"Und was wollt Ihr von mir?"
"Mein Vater ist vor zwei Jahren gestorben. Ich habe sein Schiff und seinen Kapitänstitel geerbt."
"Ihr habt was? Dürfte ich wissen, wie alt Ihr seid, Miss Bailey?"
"Sechzehn."
Davy Jones und seine Crew lachten auf. Ich sah sie alle einmal an und mein Gefühl wurde immer unsicherer. War das, was ich hier tat, wirklich richtig?
"So jung und schon der Captain eines Schiffes? Bemerkenswert. Also gut, Captain Bailey", sagte Jones herablassend, "weshalb seid Ihr hier?"
"Mein geliebtes Schiff, die Deadly Cathness ist gesunken und ich hörte... Gemunkel, dass Ihr in der Lage wärt gesunkene Schiffe wieder zurückzuholen."
"Aye", sagte Jones langsam. "Für einen Preis."
"Wie viel muss ich zahlen?"
Auf Davy Jones' tentakligem Gesicht breitete sich ganz langsam ein Grinsen aus, während in mir das Gefühl der Unsicherheit immer mehr heranwuchs.
--- 13 JAHRE SPÄTER ---
Erneut wurde das gesamte Schiff erschüttert und von unter uns kam ein schreckliches Grollen. Meine Crew rannte panisch kreuz und quer über das Schiff. Wir hatten schon einmal versucht, dieses riesige Ungeheuer zu besiegen, hatten es jedoch nur verärgert.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Das hier konnte nicht das Ende sein. Das war einfach nur unfair.
Am Horizont sah ich schon die Flying Dutchman. Jetzt hatte ich also die Wahl entweder meine geliebte Deadly Cathness aufzugeben und von Davy Jones umgebracht zu werden, oder mitsamt meines Schiffes vom Kraken in die Tiefe gezogen zu werden. Und ich musste mich entscheiden. Die Zeit war knapp. Die Zeit war immer knapp.
"Hört mir zu!", rief ich dann an meine Crew gewandt und sorgte dafür, dass sie alle auf der Stelle stehen blieben und mich ansahen. Ich sah jeden einzelnen einmal an. In ihren Blicken sah ich Angst. Todesangst. "Es geht nicht um euch. Er will nicht euch. Er will mich."
"Aber... du bist unser Captain. Wir stehen dir bei!", sagte mein erster Maat sofort. Er war so ein lieber Kerl.
"Nein. Ihr müsst gehen. Bitte. Nehmt das Beiboot und verschwindet", sagte ich schweren Herzens.
"Captain, wir können-"
"Geht!", schrie ich schon fast, woraufhin meine Crew zusammenzuckte.
Mein erster Maat schluckte. Dann wandte er sich an die Crew. "Ihr habt sie gehört. Macht das Beiboot klar."
Die Crew gehorchte. Mein erster Maat kam auf mich zu und umarmte mich.
"Du bist ein guter Captain, Erin. Du warst deinem Vater eine würdige Nachfolgerin."
"Danke", sagte ich, als er mich los ließ und lächelte matt. "Für alles."
Er nickte mir zu und ging hinüber zum Rest der Crew, um in das Beiboot zu steigen. Ich schluckte. Mir wurde ein wenig schwer ums Herz.
Und kaum saßen sie alle in dem Beiboot, sah ich, wie sich die langen Arme des Kraken um mein Schiff und über die Reling schlängelten. Ich sah, dass das Boot mit meiner Crew stehen geblieben war. Die Crew sah mich mit großen Augen voller Angst und Sorge an. Und währenddessen kam die Flying Dutchman vom Horizont immer näher. Sie mussten jetzt rudern, damit sie eine Chance hatten. Sie mussten diesen Ort verlassen. Aber sie taten es nicht. Sie starrten mich an. Und der Kraken kam immer höher und höher und würde gleich wahrscheinlich über die Reling blicken.
"Flieht, ihr Narren!", brüllte ich meiner Crew zu und drehte ihnen den Rücken zu, nur um festzustellen, dass sich der Kraken tatsächlich bis über die Reling erhoben hatte und nun seine Reihen von Zähnen entblößte. "Ups...", sagte ich tonlos und verzog das Gesicht.
Dann brüllte der Kraken unheimlich laut, wobei mir nicht nur ein fauler, modriger Geruch entgegenkam, sondern auch eine ganze Ladung von Schleim. Zum Glück hatte ich mich rechtzeitig von ihm weggedreht, um mein Gesicht zu schützen und ich bekam den ganzen Schleim gegen den Rücken. Ich war wirklich begeistert.
Jedoch hatte ich sofort wieder andere Sorgen, da ich nun aus dem Augenwinkel sah, dass die Flying Dutchman das Beiboot meiner Crew erreicht hatte. Sie hatten es nicht geschafft, zu entkommen.
"Nein!", hauchte ich. Ich wusste, dass sie nicht überleben würden. Und ich konnte ihnen nicht helfen.
Mit Tränen in den Augen drehte ich mich wieder zu der Bestie um und zückte in der Drehung mein Schwert. Wenn ich schon sterben musste, würde ich mutig und in Würde sterben. Auf beiden Beinen stehend mit einem Schwert in der Hand. Ich blickte dem Tod ins Auge. Der Schlund des Kraken beugte sich nun über mich und umschlang mich. Ich spürte noch, wie er mein Schiff und mich mit sich in die Tiefe zog. Alles war schwarz. Ich sah gar nichts mehr. Und dann fiel ich und wusste nicht wohin.
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