Kapitel 4: Gedankennebel
Wir waren nun schon eine Weile unterwegs und trieben ziellos auf dem Meer herum. Ich hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren, weshalb 'eine Weile' auch zwei Stunden, zwölf Stunden, zwei Tage oder eine Woche sein konnte. Ich wusste es nicht. Diese Unwissenheit hatte meinen Verstand benebelt, ließ mich keinen klaren, eindeutigen Gedanken mehr erfassen. Es war wie verhext.
Deshalb verbrachte ich meine Zeit größtenteils unter Deck in einer dunklen Ecke. Hier begegnete man nämlich kaum jemandem. Nahezu alle waren oben an Deck, um sofort mitzubekommen, wenn es irgendwelche Neuigkeiten gab. Ich für meinen Teil konnte auf Neuigkeiten verzichten. Ich konnte auch auf menschliche Gesellschaft verzichten. Vor allem, da hier jeder im Moment anstrengend war, da wirklich jeder davon betroffen war, dass wir hier fest saßen und manche Leute waren wirklich unausstehlich. Von daher verbrachte ich meine Zeit lieber allein mit meinen Gedanken, welche ich versuchte aus dem Nebel zu befreien.
Aus dem Nebel, in welchem sich auch irgendwo mein geliebtes Schiff, die Deadly Cathness, befand. Sie war alles, was mir von meinem Vater geblieben war, meine einzige Erinnerung. Und ich vermisste sie. Mir fehlte das Segeln, das Steuern, die Schönheit meines Schiffes, einfach alles. Und meine Deadly Cathness bedeutete mir alles. Sie war alles, was ich besaß, alles, was ich brauchte. Doch allen voran bedeutete sie mir meine Freiheit. Dieses Gefühl mit diesem Schiff auf offener See zu segeln, wohin ich wollte, soweit ich wollte; bis zum Horizont und darüber hinaus.
Und ich verfluchte Sparrow dafür. Dafür, dass er mir nicht geholfen hatte, die Deadly Cathness ins Meer zu befördern, dafür, dass er mich gezwungen hatte, mich zu entscheiden, was mir wichtiger war.
Aber konnte ich ihm das wirklich so sehr verübeln? In erster Linie ja, definitiv. Immerhin war ich nun ohne mein Schiff, Sparrow sei Dank. Aber auf der anderen Seite... Wenn ich mein Schiff im Wasser gehabt hätte und Sparrow wäre angekrochen gekommen... Ich befürchtete, dass ich genau wie er reagiert hätte. Egoistisch und glücklich darüber, dass mein Schiff im Meer wäre.
Aber trotzdem. Ich war sauer auf ihn wegen der ganzen Sache. Und daran würde sich wohl auch vorerst nicht viel ändern. Mindestens die Menge an Zeit, die es nötig hatte, mein Schiff wieder zurück zu holen.
Plötzlich hörte ich Stimmen, die mich aus meinen Gedanken rissen. Sie waren leise, klangen aber ein wenig aufgebracht. Ich begann zu lauschen. Die Stimmen kamen näher. Dann sah ich die junge blonde Frau, welche Elizabeth hieß, wie ich kürzlich erfahren hatte. Sie lehnte nun mit dem Rücken an einem Holzpfahl. William stand dicht vor ihr und hielt sie fest.
"Wie kann ich dir vertrauen, wenn du deine Pläne allein machst?", fragte nun William und in seinem Blick lag fast so etwas wie Verzweiflung.
"Das kannst du nicht", antwortete Elizabeth mit erstickter Stimme und klang, als würde sie am liebsten weinen. Daraufhin riss sie sich von Will los und lief eilig die Treppen empor aufs Deck. Will blieb regungslos mit einem Arm an den Pfahl gestützt stehen und starrte ins Leere.
Ich schluckte. Dann ging ich leise zu ihm herüber. "Was ist geschehen?"
Will sah erschrocken auf und entdeckte mich. Er musterte mich kurz, setzte sich auf die Treppe und stützte den Kopf auf seine Hände.
Ich setzte mich neben ihn und sah ihn fragend an. "Hat es etwas damit zu tun, dass sie Sparrow getötet hat?"
Will hob den Kopf und sah mich halbherzig lächelnd an. "Wisst Ihr, wie Jack gestorben ist, Erin?"
Ich schüttelte den Kopf.
Will nickte langsam. "Nun, dass er eine Schuld bei Davy Jones zu begleichen hatte und der Kraken hinter ihm her war, wisst Ihr aber?"
Diesmal nickte ich.
"Er hatte uns damals von Bord geschickt während eines Angriffs des Krakens. Ich saß schon im Beiboot, als ich sah, dass Elizabeth und Jack... Wir wollten eigentlich heiraten. Schon längst hätten wir verheiratet sein sollen. Aber dann hat sie..." Er warf mir einen Blick zu, der alles sagte und ich verstand. Der Ärmste.
"Es ist in Ordnung, Will, ich weiß, was du meinst", sagte ich ruhig.
Will nickte erneut. "Jetzt weiß ich, dass sie ihm dem Kraken überlassen wollte, aber jetzt, da... bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich ihr vertrauen kann. Sie hat selbst gesagt, ich könne es nicht. Und ich selbst sollte ihr auch etwas wichtiges mitteilen, was die Rettung meines Vaters anbelangt. Aber es geht nicht, wenn ich nicht weiß, ob ich ihr vertrauen kann." Er sah mich nun an. Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben. "Ich will sie nicht verlieren, Erin. Und jeder weitere Schritt auf meinen Vater zu entfernt mich von Elizabeth."
Ich schluckte erneut. Das alles klang nach einem riesigen Drama und schien ihn wirklich sehr zu beschäftigen. Ich war keine Expertin was Gefühle anging, aber der Ärmste war außerordentlich verwirrt und wusste anscheinend nicht mehr, was richtig und was falsch war.
"Ich wünschte, ich könnte dir helfen", sagte ich wahrheitsgemäß. "Aber auf diesem Gebiet kenne ich mich leider gar nicht aus. Es tut mir Leid."
Will schüttelte den Kopf. "Es reicht, dass mir jemand zuhört." Dann lächelte er. "Warum seid Ihr eigentlich hier, Erin? Und woher kennt Ihr Jack?"
Ich seufzte. "Mir ist eigentlich exakt das gleiche passiert, wie Jack. Jones hat mir mein Schiff wiedergeholt und nun war die Zeit reif, dass ich dafür büße. Ich bin Jack im Locker begegnet - mehr oder weniger unfreiwillig."
"Er hat gesagt Ihr hättet versucht ihn zu töten."
Ich grinste. "So ein Seemannsgarn. Ich habe bloß ein wenig seine Kampfkünste auf die Probe gestellt."
"Er mogelt", sagte Will und begann ein wenig zu grinsen.
"Pirat", meinte ich schulterzuckend und grinste zurück.
"Genau das hat er auch gesagt, als er mich bei unserer ersten Begegnung in der Schmiede in Port Royal durch seine Mogelei entwaffnet hat", erzählte Will.
Ich sah ihn ein wenig überrascht an. "Naja, was lohnt es sich denn fair zu kämpfen, wenn man in einem fairen Kampf verlieren würde, hm?", stellte ich fest.
Wills Grinsen verblasste und er musterte mich nachdenklich. "Ihr seid ihm ähnlich."
"Wem?"
"Jack."
"Ich?"
"Oh ja", antwortete Will.
"Hmpf", machte ich. "Du kannst von Glück reden, dass ich dir gerade weder die Zunge aus dem Mund schneide, noch anfange, dir die Unterschiede zwischen Jack Sparrow und mir aufzuzählen, William Turner."
Denn die Unterschiede zwischen uns waren zahlreich. Und gewaltig. Ich machte mich gerade daran, sie gedanklich aufzuzählen, als ich stockte und mir nachdenklich auf die Unterlippe biss. Ich musste zugeben, dass es zwischen uns doch nicht so viele Unterschiede gab, wie ich geglaubt hatte. Ich kannte ihn zwar noch nicht so gut und es war mir auch nur ein Teil seiner Geschichten bekannt, aber trotzdem konnte ich aufgrund der Dinge, die ich bisher über ihn erfahren hatte, mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen uns feststellen. Und diese Tatsache brachte mich wirklich ins grübeln.
William erhob sich nun, tätschelte zum Abschied kurz meine Schulter und ging dann die hölzernen Treppenstufen empor zum Deck.
Ich blieb auf der Stufe sitzen und dachte nach. Jedoch dachte ich nicht mehr über Jack Sparrow nach. Meine Gedanken tummelten sich nun um Williams Worte. 'Ich selbst sollte ihr auch etwas wichtiges mitteilen, was die Rettung meines Vater anbelangt.' Was meinte er damit? Ich wusste bereits, dass er versprochen hatte seinen Vater zu retten. Dieser war nämlich an Davy Jones und die Flying Dutchman gebunden und konnte das Schiff nicht verlassen. Ich wusste allerdings nicht, was Will vorhatte, um seinen Vater zu befreien. Deshalb rätselte ich umso mehr darüber, was er mit seinen Worten meinte, denn es hatte ganz so geklungen, als hätte er bereits einen Plan.
Vielleicht wollte er ja Davy Jones umbringen. Dann hatte ich auch eine Chance mein Schiff wieder zu bekommen. Denn so, wie ich Will kennengelernt hatte, würde er nach dreizehn Jahren nicht wieder ankommen, mir irgendein Ungetüm auf den Hals hetzen und mich meine Schuld begleichen lassen. Das wäre ziemlich von Vorteil für mich.
Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er freiwillig Davy Jones' Posten übernehmen würde. Wer wollte das schon? Schließlich gab es noch die Aufgabe, die erfüllt werden musste. Vom Captain der Flying Dutchman. Auch wenn Will dadurch seinen Vater befreien könnte, bezweifelte ich, dass er es tatsächlich tun würde. Was wirklich schade war.
Vielleicht konnte ich ihn ja dazu bringen Davy Jones zu töten. Ich könnte ihm diese einfache Lösung schmackhaft machen. Aber wollte ich das wirklich verantworten? Konnte ich das mit meinem Gewissen vereinbaren? Schließlich würde das auf seine Kosten gehen. Und auf seine Freiheit.
Ich liebte mein Schiff und wollte es um alles in der Welt wieder zurück. Aber würde ich wirklich so weit gehen, dass ich dafür einem Menschen seiner Freiheit beraubte?
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