Zweite Nachtruhe
Das Abendessen verläuft beinah normal. Viele Schüler sprechen miteinander, an einigen Tischen wird gelacht. Die Nachricht aus dem Spital, dass es Lara ziemlich gut gehe und sie sich rasch erhole, hat die bedrückte Stimmung etwas lösen können. Die Diskussionsrunden konnten rasch aufgehoben werden. Das Care-Team hat sich wieder verabschiedet. Ab jetzt können die Lehrpersonen übernehmen, haben sie zum Abschied gesagt.
Am Lehrertisch spricht momentan niemand, erstens schmecken die Spaghetti zu gut und zweitens hängen alle ihren eigenen Gedanken nach. Erst bei Kaffee und Kuchen beginnen die Gespräche. "Hat es eine der drei Mädchen zugegeben?", will Stefan von seinen Kolleginnen und Kollegen wissen. Alle verneinen.
"Enola war es ganz bestimmt", erwähnt Morena, "das hat mir auch die Psychologin bestätigt, die meine Gruppe geleitet hat. Nicole, so hieß die Frau, hat mir gesagt, dass Enola von einem großen Hass erfüllt sei. Das könne nicht nur der Streit um Dario sein; dieses Mädchen habe weit größere Probleme und der Beziehungsstreit habe eventuell diese kopflose Aktion ausgelöst. Sie hat mir empfohlen, Enola bei einer Therapie anzumelden."
"Das hat sie alles aus den wenigen Worten gehört, die Enola geredet hat?" Rebecca wirkt ungläubig.
Doch Morena bestätigt und nickt. "Ja, stell dir vor. Die Frau scheint eine unsichtbare Antenne dafür zu haben. Sie sagte, sie habe noch selten eine solch emotionslose Kälte gespürt. Gabi, was meinst du, können wir das für Enola tun? Gibt es da einen Weg?" Sie blickt Gabi an und steckt sich ein Stück Kuchen in den Mund.
Die Angesprochene stellt ihre Kaffeetasse auf den Tisch. "Den gibt es, sicher. Ich bin aber wahrscheinlich die falsche Person dafür, weil ich im Feindbild "Schule" stehe. Wir sollten versuchen, Enola zu einer Kollegin nach Aarau zu schicken. Ich werde es mit Besenberger besprechen und schauen, dass der Kanton die Kosten tragen kann. Ich befürchte jedoch, dass die Eltern diesem Antrag nicht zustimmen werden."
"Das hängt wohl auch davon ab, was Besenberger sonst noch für Massnahmen plant." Stefan vermutet, dass der Schulleiter eine gründliche Untersuchung des Unfalls in Betracht ziehen könnte.
Morena hat ihren Kuchen fertig gegessen. "Für mich ist entscheidend, dass Enola Hilfe bekommt. So wie ich sie in der Diskussion erlebt habe; das wünsche ich keiner Jugendlichen. Da schlummert etwas Ungesundes."
"Du kannst es nicht lassen, wie?", lächelt Rebecca, "Du willst die ganz Welt retten."
"Das ist auch ein Grund, warum ich damals Lehrerin geworden bin. Jugendlichen helfen, das Leben zu meistern. Darum geht es doch, oder nicht?"
"Exakt! Darum geht es. Ich bin dankbar dafür, dass du in unser Team gefunden hast, du verrückte Italienerin. Du tust uns gut!"
Zuerst starren alle Silas an, der breit lächelt und mit den Schultern zuckt. Dann beginnen plötzlich alle zu lachen und mit ihren Kaffeetassen anzustoßen.
***
Rebecca und Alissia haben sich mit vier Mädchen in einen Aufenthaltsraum zurückgezogen. Sie spielen Brändi Dog. Das Spiel mit den bunten Murmeln, das "Eile mit Weile" mit Pokerkarten kombiniert, ist eine spannende Mischung aus Kartenglück und Strategie. Die Lehrerinnen spielen nicht im gleichen Team. Je zwei Spielerinnen spielen miteinander gegen alle anderen. Sie lachen und scherzen so laut, dass die lesenden Schüler und Schülerinnen den Raum schon längst verlassen haben.
Im Billardraum lehrt Snape einigen interessierten Jungs, wie man im Billard gewinnt. Er zeigt ihnen, wie sie das Queue führen müssen, wie sie zielen und welche Möglichkeiten es gibt, den Gegner für sich arbeiten zu lassen. Als er mit einem einzigen Stoß zwei Kugeln in verschiedene Löcher versenkt, und die erst noch genau so angekündigt hat, stehen sie mit offenen Mündern da, bereit, alle Tricks zu lernen und zu üben.
Stefan zeigt unterdessen draußen tolle Sprünge auf der Slackline. Die Schülerinnen und Schüler fallen jedoch immer wieder vom Band. Mit großer Ausdauer klettern sie erneut darauf, ihr Stolz lässt es nicht zu, dass ein alter Lehrer besser balancieren kann als sie. Der jugendliche Ehrgeiz hat sie längst gepackt, und Stefan schmunzelt.
Effie, Sandrine, Nubia, Svenja und Selina sitzen am Grillplatz. Mit der Erlaubnis von Morena, welche sich zu ihnen gesetzt hat, haben sie ein Feuer entfacht. Mit dem Feuer haben sich dann auch Nik und Emir dazugesellt. Das Feuer knistert, kleine Glutfunken steigen auf, wirbeln wie Glühwürmchen im Rauch, verglimmen und verschwinden. Dazwischen knallt es immer wieder, explodierendes Gas, eingeschlossen im Holz. Die Flammen tanzen; ein Ballett aus orangen und weißen Tüchern, heiß, wild, erotisch und gleichzeitig absolut tödlich.
Fasziniert blicken alle schweigend ins Feuer. "Wir wollten das nicht", sagt Effie plötzlich ohne Vorwarnung. Niemand reagiert; alle warten gespannt und respektvoll, was noch kommen wird. "Ich wollte das nicht. Enola ist ausgerastet, als sie Lara mit Dario gesehen hat. Ich schloss mich ihrer Wut an; sie ist meine beste Freundin. Dann war da dieses Fahrrad, niemand beobachtete uns. Da lag Werkzeug und ich weiß nicht, welcher Teufel uns geritten hat, aber auf einmal schraubten wir an den Bremsen herum, kniffen mit der Zange in die Kabel; wir gerieten in einen Rausch der Rache. Mir war in dem Moment nicht klar, was hätte geschehen können. Ich meine; Lara hätte sterben können und ich wäre Schuld daran."
Sandrine legt Effie den Arm um die Schulter; dankbar lehnt sie sich an, dann beginnt sie hemmungslos zu weinen. Die Gruppe schweigt, gibt dem Feuer Zeit, die gesprochenen Worte zu verbrennen und mit dem Rauch ziehen zu lassen. "Würdest du das auch Besenberger sagen?", fragt Nik ruhig.
Effie blickt ihn an, danach alle anderen. "Ich weiß es nicht. Enola wird mich umbringen; Jovan wird mich umbringen. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Meine Eltern werden mich hassen, weil ich sie enttäuscht habe."
"So ein Unsinn!", meldet sich Svenja. "Sie werden dich lieben, weil du ehrlich bist. Weil du zu deinem Fehler stehst und dich nicht vor den Konsequenzen fürchtest."
"Frau Di Agostino, was erwartet uns, wenn man es herausfindet?" Effie blickt Morena traurig und gleichzeitig ängstlich an.
"Ich weiß es nicht, Effie. Bestimmt werdet ihr eine Arbeit machen müssen, eventuell bekommt ihr ein Time-out. Das hängt alles davon ab, wie schwer Lara verletzt ist und ob ihr euch freiwillig meldet oder nicht. Dass du hier so offen mit uns sprichst, obwohl ich dabei bin, werde ich auf jeden Fall weiterleiten. Du machst das schon ganz gut."
"Werden Sie es nun gleich allen sagen?" Die Gesichter wenden sich der Lehrerin zu.
Morena überlegt lange, bevor sie antwortet. Sie weiß, dass jedes Wort, das sie nun sagt, von einer Gruppe Jugendlicher auf die Goldwaage gelegt werden wird; dass sie mit ihren Worten genau so viel gewinnen wie verlieren kann. "Nein, Effie, das werde ich nicht. Und alle anderen hier am Feuer auch nicht. Das bleibt hier und verbrennt mit der Glut. Wir geben dir die Chance, das Richtige zu tun und wir helfen dir dabei."
"Sie sind schon eine seltsame Heilige, Frau Di Agostino. Sie könnten eine von uns sein und doch sind Sie unsere Lehrerin. Das wollte ich nur mal gesagt haben." Sandrine lächelt Morena an.
"Auf Mori!", sagt Nik und wirft ein Stück Holz in das Feuer. "Auf Mori!", schließen sich alle anderen an. Morena hebt die Hand. "Einmal lasse ich euch das durch, das mit der Mori, einmal, hört ihr? Danke - ihr seid eine tolle Truppe!"
***
Lange nach Mitternacht sitzen die Lehrpersonen im Aufenthaltsraum, trinken Wein und diskutieren. Noch fehlen Alissia und Rebecca, die sich immer neue Duelle des Spiels liefern, zusammen mit den vier Mädchen, die schon längst im Bett sein müssten.
"Ich glaube, wir haben heute vieles richtig gemacht", beginnt Dominic mit der Diskussion um den ereignisreichen Tag. "Du warst am Feuer, Morena, wie war es bei euch?"
"Gut. Die Kids haben sich austauschen können, wir konnten recht offen darüber reden, was uns beschäftigt und wie wir damit umgehen. Sie wollten auch viele Dinge über mich wissen - aber das ist normal. Ich bin neu hier."
"Ja, diese Dinge würden wir auch gerne wissen. Erzähl uns mehr davon." Silas grinst Morena an.
"Vergiss es, Snape! Du willst dich nicht mit der Mafia anlegen."
Die Tür öffnet sich und Stefan trägt ein großes Brett mit aufgeschnittenen Wurstwaren, Käse und Brot herein. "Mitternachtssnack!"
"Mann, wo hast du das nun wieder her? Egal, bring her - wir sind am Verhungern!"
Damit beginnt der gemütlichste Teil, den es in Schullagern gibt: Der Imbiss mitten in der Nacht, wenn alle Kinder schlafen. In jedem gut organisierten Lager gibt es ein Mitternachts-Znüni, das wissen alle. Es werden Flachwitze erzählt, Anekdoten aus dem Lehrerleben, Witze über die Schüler gemacht und mehr oder weniger tiefgründige Weisheiten verbreitet. Es braucht keine teuren Weiterbildungen zur Teamentwicklung; es braucht einige Flaschen Wein, etwas Salami, Käse und Brot und die Müdigkeit nach Mitternacht - so entsteht ein Team.
Erst als die Platte und die Flaschen leer sind, verkrümeln sich die Lehrerinnen und Lehrer in ihre Zimmer. Auf den Gängen ist alles ruhig, die Schülerinnen und Schüler schlafen längst. Nur aus einem Raum hört man noch Stimmen lachen und kreischen. Brändi Dog birgt zeitvergessende Suchtgefahr.
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