Zeitlupe
Stefan weiß, was ihn erwartet. Trotzdem, oder vielleicht genau deswegen, fährt er mit zittrigen Knien und kalten Händen langsam auf die Gruppe zu.
"Herr Roos! Kommen Sie schnell! Lara reagiert nicht! Ich glaube, sie ist tot!" Die Kinder schreien alle durcheinander, zwei knien bei Lara, die seltsam krumm im Gras liegt.
"Habt ihr sie bewegt?"
"Nein! Nur die Hand gehalten!"
"Geht mal ein Stück zurück. Hat jemand die Nummer von Herrn Marder? Sofort anrufen und sagen, dass es einen Unfall gibt; und sagt, dass ich hier bin - auf Lautsprecher stellen."
Stefan kniet zu Lara nieder, fühlt ihren Puls und ist schon beruhigt, einen zu finden. Sie ist bewusstlos. Anhand der Körperlage jedoch entscheidet er, sie nicht zu bewegen und den Rettungshubschrauber aufzubieten.
"Stefan? Was gibt's bei euch oben?"
"Lara ist gestürzt, sie ist bewusstlos. Ich biete den Hubschrauber auf. Kannst du mit dem Rest zurück ins Haus fahren und dann nochmals herkommen?"
"Aber klar, das geht. Ich melde uns bei Alissia an, dann kann sie uns helfen. Kommst du klar?"
"Ja, ich behalte zwei Jungs hier. Danke."
Zeit gewinnen; er alarmiert die Rettung. Danach schickt er die Jugendlichen zu Silas; zwei Schüler, Emir und Dario, bleiben vor Ort.
"Wir warten und beobachten sie. Wenn wir sehen, dass sie erbricht, müssen wir das Zeugs rausholen, damit sie weiteratmen kann. - Dario? Geht's?"
"Ja, Herr Roos, geht schon. Wird sie wieder?" Darios Stimme zittert.
"Ich weiß das nicht. Das werden die Ärzte sagen müssen. Wir bleiben bei ihr."
In diesem Moment erwacht Lara. "Lara, nicht bewegen. Du hattest einen schweren Sturz. Hörst du mich?"
Mit sehr schwacher Stimme antwortet sie; ist zwischendurch immer wieder kurz weg.
Die wenigen Minuten bis der Hubschrauber hörbar wird, scheinen den Wartenden wie Stunden - das Leben läuft in Zeitlupe. Dann endlich knattert es in der Luft und die rote Maschine der Bergrettung braust heran. Von der Dorfstraße her ist auch eine Sirene hörbar; wahrscheinlich Polizei, denkt sich Stefan.
Etwas unterhalb der Sturzstelle kann der Heli landen. Zwei Ärzte eilen herbei, ein dritter folgt mit der gefalteten Trage. Ohne Begrüßung folgt ein kurzer Dialog der Nothilfe.
"War sie schon wach?"
"Ja, aber sie wird immer wieder bewusstlos."
"Habt ihr sie bewegt?"
"Nein."
"Das war sehr gut! - Ab hier übernehmen wir. Sie können zurücktreten."
Stefan und die Jungs schauen zu, wie die Retter ihre Arbeit machen. Lara wird stabilisiert und auf die Trage gelegt. Zwei Retter bringen sie zum Hubschrauber.
Einer tritt noch an Stefan heran. "Ich bin Dr. Inderbizin. Wir fliegen sie nach Brig. Bitte melden Sie sich dort, sobald Sie im Lagerhaus sind. Warten Sie bitte hier noch auf die Polizei." Das Fahrzeug hat soeben am Unfallort angehalten und zwei Polizisten, eine Frau und ein Mann, steigen aus.
Der Hubschrauber startet, dreht ab und fliegt in Richtung Brig davon.
"Guten Tag, Ich bin Wachtmeister Birgit Gellert, das ist Korporal Tanner. Wir müssen Sie zum Unfall befragen."
"Dürfen die Knaben schon zurückfahren?"
"Habt ihr den Unfall gesehen?"
"Nein, wir waren schon weiter unten und sind wieder hochgefahren."
"Dann dürft ihr fahren. Euer Lehrer kann für euch Auskunft geben."
Stefan nimmt seine Jungs nochmals in die Pflicht. "Dario - langsam fahren, verstanden. Ihr fahrt zu Frau Disler und meldet euch dort, okay?"
Die Jungs nicken, nehmen ihre Fahrräder und fahren weg. Von unten sieht man bereits Silas Marder hochfahren.
Der Polizist macht Fotos vom Fahrrad, das noch immer in der Wiese liegt. "Haben Sie das Velo bewegt?"
"Nein, es ist noch so, wie wir er gefunden haben."
Danach beginnt die Befragung durch die Polizistin.
***
In der Beachvolleygruppe herrscht noch immer sehr gute Stimmung. Das Turnier neigt sich langsam dem Ende zu. Viele Schülerinnen und Schüler, die zu müde sind, um noch zu klettern, sind als Publikum dazugestoßen.
Jeder Punkt wird gefeiert. Man klatscht, feuert die Freunde an und lacht. Aus einer Boom-Box dröhnt moderne Musik. Irgendwo fliegt ein Hubschrauber durch.
"Als zweite Finalistinnen stehen Enola und Effie fest! Es gibt nun zehn Minuten Trink-Pause, dann ist auf Feld 1 der Final bei den Jungs, und gleich danach auf Feld 2 der Final bei den Mädchen." Madlene Zinniker setzt sich neben die Spielfelder und greift nach ihrer Wasserflasche.
Vom Parkplatz her sieht sie erste Schülerinnen und Schüler aus der Bike-Gruppe heranrennen und bei Alissia stehenbleiben. Offenbar war die Velotour schön, denn die Jugendlichen wirken nervös und sprechen alle durcheinander.
Madlene schmunzelt; doch dann sieht sie, wie Alissia den Schülern befiehlt, bei der Kletterwand zu bleiben. Sie selbst rennt zu den Volleyfeldern hoch.
"Madlene - es gab einen Unfall. Lara. Stefan und Silas sind bei ihr. Wir müssen die Schüler betreuen."
"Aber klar, ich helfe dir; Reto vom Sportzentrum kann seine Velokollegen auch noch herholen; Mehr Leute ist jetzt sicher nicht schlecht." Madlene tippt bereits eine Message in ihr Handy - sie hat die Nummer des Bikers Reto; Alissia lächelt.
"Aufenthaltsraum?", fragt die Sportlehrerin.
"Gute Idee."
Madlene, Alissia und der Helfer bei der Kletterwand begleiten die nervösen Schülerinnen und Schüler in den Aufenthaltsraum des Lagerhauses. Dort dürfen die Biker in Ruhe berichten, was sie gesehen haben.
***
Morena und Dominic sind mit ihrer Velogruppe ins Dorf gefahren, viele Schüler haben ihr Velo hochgeschoben.
Sie sitzen um den Dorfbrunnen verteilt und genießen Eiscreme. Das schmucke Dorf mit den vielen alten Walliserhäusern aus Holz ist wie eine Postkartenkulisse. Die Jugendlichen haben unzählige Fotos gemacht. Irgendwo in der Nähe hören sie einen Hubschrauber heranfliegen.
"Hoffen wir, dass wir den nicht brauchen", murmelt Morena zu Dominic.
"Wir fahren einfach sehr langsam runter. Auf der Hängebrücke müssen sie schieben. Dann klappt das schon."
"Ja, ich denke auch. Das war eine gute Idee, noch ins Dorf zu gehen. Den Kids gefällt es und die Glacé schmeckt ihnen." Morena leckt an ihrem eigenen Eis und lächelt sehr zufrieden. "Kannst du mit meinem Handy ein Foto von mir mit dem Velo und den Häusern hier machen? Ich möchte es meiner Familie schicken."
"Aber klar doch. Mit oder ohne Schüler?"
"Beides gerne."
Dominic nimmt Morenas Handy, sie stellt sich in Pose und er macht die Fotos. Die Jugendlichen johlen und applaudieren. Für das Gruppenfoto rücken sie etwas näher zusammen - man sieht, dass sie Spaß haben.
Der Hubschrauber fliegt wieder davon.
"Du, das war gar nicht so weit weg. Hoffen wir mal, nicht unsere."
"Wir wüssten es bereits, denke ich." Morena hat kaum fertig gesprochen, als ihr Telefon klingelt. Alissia.
***
Das Wasser perlt über ihren Körper; es ist schon längst kalt, das warme ist aufgebraucht. Sie sitzt in der Ecke der Dusche und reibt immer wieder die Stellen am Arm, am Hals und an der Hüfte, wo er sie berührt hat. Sie fühlt sich schmutzig. Sie fühlt sich schuldig. Mutter schläft auf der Couch, eine leere Flasche liegt auf dem Teppich.
Warum ist sie nicht mitgefahren? Sie hätte mitfahren sollen. Wenn sie mitgefahren wäre, hätte er seine Hände nicht an ihren Körper legen können. Sie ist selber schuld, dass er die Möglichkeit dazu hatte. Sie hat sich ihm zur Verfügung gestellt. Es ist ihre Schuld.
Mutter interessiert es nicht. Sie hört nichts, fühlt nichts, begreift nichts.
Es war fast wie letztes Mal. Nur diesmal konnte sie davonrennen. Sie hört das Büchergestell zu Boden donnern. Metallisches Kreischen als Unterstützung ihrer eigenen Schreie. Das Poltern der Bücher als Verstärkung ihrer Schritte. Das Klirren der Glasscheibe passend zum Zersplittern ihrer Seele.
Niemanden interessiert es. Sie hören nichts, fühlen nichts, begreifen nichts.
Wasser hilft.
Wäre sie mitgefahren, hätte sie die Einsamkeit in der Gruppe gefühlt. Hier ist sie wenigstens echt, die Einsamkeit.
Sie friert; die Kleider hat sie verbrannt.
Feuer hilft.
Frische Kleider helfen.
Das Wasser, das sie noch immer auf ihrem Körper spürt, kommt nicht aus der Dusche, es kommt aus ihr heraus, perlt über ihren Körper. Es ist das Wasser, in welchem ihre Seele längst ertrank.
Sie hätte mitfahren sollen. Es ist ihre Schuld. Genau wie letztes Mal.
Tanya setzt sich an den Computer und beginnt zu schreiben.
***
Im Sportzentrum in Fiesch sind alle Gruppen zurück. Die Jugendlichen sitzen schockiert und betroffen um die Tische im Aufenthaltsraum. An jedem Tisch sitzt auch eine erwachsene Person.
Stefan Roos berichtet, dass Lara im Spital von Brig in Behandlung sei und dass es ihr den Umständen entsprechend gut gehe. Sie habe keine Rückenverletzung und sei stabil. Mehr wisse er noch nicht. "Die ersten Untersuchungen am Bike haben gezeigt, dass offensichtlich ein technischer Fehler bei den Bremsen zum Sturz geführt hat. Das haben mir die Polizisten so bestätigt. Genaueres müsse jedoch noch abgeklärt werden. Die Polizei hat das Bike mitgenommen."
"Das waren Enola und ihre Bitches!", schreit Dario, steht auf und rennt wütend auf Enola zu. Sie schreckt hoch, rennt weg, stolpert und fällt hin. Andere Schüler mischen sich ein, beziehen für Enola oder Dario Partei; die Sache scheint zu eskalieren. Der Helfer von der Kletterwand packt Dario und hält ihn felsenfest. Stefan und Silas halten die anderen Gruppen auseinander.
"Ruhe!", dröhnt Stefans Bass durch den Raum. "Solange wir nichts wissen, bleibt es ein Unfall. Wir werden uns nun alle beruhigen; morgen früh fahren wir nachhause." Die Schüler sind ruhig und wirken traurig.
"Jeder, der Unwahrheiten über das Internet verbreitet, muss gemeldet werden. Ihr verhaltet euch still; ich will keine Anschuldigungen und Drohungen lesen oder hören. Die Schulleitung ist informiert - was genau wir machen werden, weiß ich noch nicht. Jede Verbreitung von Meldungen an die Presse ist von der Schulleitung verboten worden. Wenn wir gefragt werden, müssen wir die Anfragen an die Schulleitung verweisen. - Das sind die Anweisungen, die ich erhalten habe."
Als die Schülerinnen und Schüler draußen sind, bittet Stefan die Leiter noch schnell zu sich. "Die Polizei schickt uns ein Care-Team, das uns heute Abend begleitet. Sie schicken vier Leute, damit in jedem Haus zwei sein können. Die Polizistin meinte, es sei bei so großen Gruppen bei einem schweren Unfall besser, die Betreuung Fachleuten zu überlassen und uns zu entlasten. Dies vor allem auch deswegen, weil es eindeutig Sabotage war - das konnten sie schon feststellen. Wir dürfen es den Kindern aber nicht so erzählen."
"Sind Laras Eltern schon informiert."
"Ja. Sie sind schon unterwegs nach Brig und werden die Nacht dort verbringen. - Besenberger sagte außerdem, dass die Schule übermorgen für die Oberstufe ausfalle. Am Freitag will er zuerst die Jugendlichen und danach die Eltern informieren, zusammen mit der Presse."
***
Tanyas Handy piepst. Sie unterbricht ihren Schreibschwall, greift nach dem kleinen Gerät. Pitsch. Kein Bock auf Fröhlichkeit und sonnige Alpenbilder. Musik.
Böse Musik. 'Floki's last Journey' von Danheim, danach 'Valhalla Calling' von Vikings; Nightwish, Rammstein. Kehlgesang. Laut. Schreiben.
Der Text ist mit der Lebenstinte aus Blut und Tränen geschrieben. Noch hat sie dafür keinen Titel. Schonungslos erzählt sie die Wahrheit. Sie ist der Schmetterling, der die Puppe abwirft. Mit jedem Wort ein Stück. Sie ist bereit. Die Fetzen ihres Lebens schweben schaukelnd zu Boden, zerfallen wie das verbrannte Stück Holz, wenn man es aus Versehen berührt.
Ihre Flügel sind bunt, hellblau mit einer Art lilafarbenen Pfauenfedern darauf, welche ihre Tränen darstellen; Tanya breitet sie aus. Die Tragflächen ihrer Reise in eine bessere Welt. Und ganz plötzlich wird sie leicht; sie hebt ab, flattert fröhlich durch ihren verdunkelten Raum. Ein letztes Mal setzt sie auf der Kante des Bildschirms ab, blickt zurück, blickt vor. Ihre dünnen Beine stoßen sich ab, die blauen Flügel tragen sie ruhig durch den schmalen Spalt des Fensters in die Helligkeit des Lebens.
Das Telefon piepst erneut. "Pitsch, was willst du denn so dringend?" Tanya greift wieder nach dem Gerät.
Tanya - Es ist schlimm. Es gab einen Unfall. Lara ist im Spital.
Der Schmetterling stürzt krachend auf den Fenstersims, seine Flügel zerspringen wie filigraner Glasschmuck, begleitet vom Guttural-Gesang der zierlichen Lady mit den blauen Haaren. 'The Eagle Flies Alone'. Tanya tippt.
Lara? Was ist passiert?
Warten. Piepen. Greifen.
Sabotage.
Tanya stützt den Kopf in die Hände und weint hemmungslos.
***
Das Care-Team trifft ein. Die Helferinnen und Helfer teilen die Jugendlichen in grosse Gruppen auf. Jede Gruppe sucht sich einen ruhigen Ort, wo sie über die Geschehnisse diskutieren können. Von der Polizei wissen die Fachpersonen, dass es Sabotage war. Sie sind angewiesen worden, mit den Schülerinnen und Schülern diese Problematik zu verarbeiten. Ein absichtlich hervorgerufener Unfall, der schrecklich hätte ausgehen können; verursacht von Mitgliedern der Gruppe. Das ist psychisch nicht einfach zu ertragen.
Morena sitzt stumm in der einen Gruppe; sie hört den Jugendlichen zu und überlässt die Gesprächsführung der Fachfrau vom Care-Team. Immer wieder fallen die Namen der drei Mädchen, Enola, Livia und Effie. Die Lehrpersonen haben darauf geachtet, dass die drei nicht in der gleichen Diskussionsgruppe sind. In der Gruppe von Morena sitzt Enola.
Sie weint nicht. Ihr Blick ist starr, auf den Boden gerichtet; doch sie ist bleich, sie zittert. Die Anschuldigungen der anderen prallen an ihr ab, sie nimmt die Voten emotionslos entgegen, scheint mit ihren Gedanken an einem anderen Ort zu sein. Plötzlich wird sie von der leitenden Frau, die sich als Nicole vorgestellt hat, angesprochen.
"Du bist Enola, nicht wahr? Was sagst du dazu? Deine Mitschülerinnen und Mitschüler belasten dich schwer. Ich würde gerne hören, wie es dir geht."
Enola blickt auf. Leere Augen fixieren das fremde Gesicht. "Sie wissen nichts. Wer sind Sie? Ein Mädchen ist gestürzt, das passiert andauernd. Doch deswegen so ein Drama zu machen, das ist übertrieben. So machen wir Jugendliche das - wir suchen immer einen Schuldigen. Heute bin ich dran; was soll's? Sie wissen nichts." Enola spricht leise, nicht ein einziges Mal wendet sie den Blick von der Frau ab. Erst als sie fertig gesprochen hat, senkt sie den Kopf wieder und zählt die Steine.
Nicole wechselt rasch einen Blick mit Morena, welche Enola traurig anblickt. Noch einmal tauchen die Bilder der vergangenen Nacht vor ihrem inneren Auge auf. Sie weiß, die kommende wird um einiges härter werden.
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