Tanya
Pink Floyd; The Dark Side of the Moon. Am 20. Dezember. Einfach so. Laut und trotzdem ruhig singt die Gitarre am Anfang der Konzertversion von 'Shine on you crazy Diamond'. Dann folgt der Puls des Schlagzeuges. Pulse, Side one.
Das Zimmer ist aufgeräumt, der Boden aufgewischt. Die Bücher im Regal sind nach Farben geordnet, was dem Zimmer zusätzlich Ruhe und Geborgenheit vermittelt. Das Bett ist gemacht, einzelne Kuscheltiere lehnen sich ans Kissen, blicken fragend und irgendwie traurig in den Raum, erhalten jedoch keine Antwort. Sie werden darauf warten, in den Arm genommen zu werden. Frisch gewaschene Kleider sind achtsam im Schrank untergebracht und die Malutensilien sauber aufgeräumt. Das kleine Selbstportrait steht auf der Staffelei. Sämtliche Pinsel sind ausgewaschen, die Flaschen mit den Chemikalien gut verschlossen und mit dem Etikett nach vorne gedreht im Regal stehend.
Auch der Rest der Wohnung ist geputzt und aufgeräumt; kein Staub, kein Fleck. Das Geschirr ist gewaschen und getrocknet. Mutter schläft.
Tanya zieht eine beigefarbene Leinenhose an; zu luftig, für die Jahreszeit, aber sehr schick und stilvoll. Dazu entscheidet sie sich für die dunkelblaue Bluse, die sie sorgsam bis obenhin zuknöpft. Ihr rötliches Haar, frisch gewaschen, trägt sie heute offen. Auf die Brille verzichtet sie, dafür hat sie Lidschatten aufgetragen; etwas, was sie seit Jahren nicht mehr getan hat. Sogar Wangenrouge und einen dezenten Lippenstift trägt sie auf. Lächelnd betrachtet sie ihr Kunststück im Spiegel und nickt zufrieden. Beinah so schön wie auf dem Bild, das sie vor wenigen Tagen gemalt hat. Auch dort trägt sie die gleiche blaue Bluse, die locker auf das Buch fällt, welches sie liest. Shine on, you crazy Diamond, denkt sie sich und stupst das Bild kurz an.
Leise schließt Tanya die Tür zu ihrem Zimmer, schleicht ins Wohnzimmer hinab und küsst ihre Mutter auf die Stirn. "Hab dich lieb Mami." Der verschlossene Umschlag liegt auf dem Tisch neben der Couch.
Draußen lässt sie ihr Fahrrad stehen, so, dass es alle sehen können. Fröhlich, aber frierend schreitet sie durch das Dorf. Es ist noch dunkel, niemand wird sie sehen. Niemand hat sie je gesehen; warum soll es ausgerechnet heute anders sein? Die Dämonen schlafen heute.
Mit ihrem eigenen Schlüssel öffnet sie die knarrende Tür zum alten Schopf, schlüpft hinein und schließt wieder sorgsam zu. Sie hat eine gewobene, bunte Tasche mitgebracht. Einige Dinge, mit welchen sie den Raum schmückt; obwohl er ihr so gefällt, wie er seit hunderten von Jahren schon immer war. Ewigkeit; ihr Tor zur Ewigkeit.
Ein Buch. Es ist die Geschichte über ein Mädchen, das ihre Peiniger mit Tonbandkassetten straft, von drüben. Tanya stellt das Buch in den Winkel zwischen Stütz- und Dachbalken. Dort steht es gut. Am Scheideweg; im Zentrum der tragenden Kraft.
Einen Schal. Den hatte sie einst von Nik erhalten. Der Schal bedeutet ihr noch etwas, Nik nicht mehr. Sie drapiert den Schal über einen herausragenden Nagel. Herausragend, wie Nik.
Ein Bild, das sie mittels KI erstellt hat. Es zeigt Daenerys Targaryen und eine kleine, hübsche Italienerin, wie sie zusammen an einer Klippe stehen, Hand in Hand. Im Hintergrund fliegt ein riesiger, hellblauer Drache. Fast wie ein Schmetterling.
Tanya setzt sich unter das Seil, welches sie vor einigen Tagen am zentralen Balken angebracht hat. Zufrieden mit sich und der Welt legt sie sich hin, lauscht der Musik und schließt die Augen.
"Hey you - I'm coming home ..." Vorsichtig, sich am Staub nicht schmutzig zu machen, klettert Tanya auf den Balken.
***
Ein kleines Mäuschen sucht Schutz vor der Kälte des Winters. Es huscht durch einen Spalt in der Wand einer alten Scheune und klettert über einen schrägen Balken nach oben. Dort tippelt es leise über das Jahrhunderte alte Holz, leise Kribbelgeräusche hinterlassend.
Mit seinem kleinen Mäusenäschen schnuppert das Nagetier nach Futter. Bei einem seltsam neu riechenden Hanfseil bleibt es nervös stehen. Das Seil riecht nach Mensch, aber es ist kein Mensch sichtbar. Nichts bewegt sich. Vorsichtig klettert das Mäuschen dem Strick nach unten und dreht sofort um, als es die menschlichen Haare erreicht. Sie riechen frisch. Das Mäuschen verkrümelt sich hinter einem nach Papier duftenden Gegenstand, der am Querbalken lehnt. Sehr vorsichtig lugt es hervor, betrachtet den Menschen, der offenbar schlafend in der Mitte des Raumes baumelt, wie die Fledermäuse. Keine Gefahr, der Mensch sieht friedlich aus. Das Mäuschen tippelt weiter und findet einige Körner Getreide, die es hastig aufknabbert. Eine vorübereilende Spinne lässt es kurz aufschrecken, dann gehen beide Tiere ihres Weges.
***
Auch am Nachmittag hat es die Sonne nicht geschafft, den zähen Hochnebel zu durchdringen. Es ist kalt, als die Lehrpersonen der Oberstufe mit ihren Klassen beginnen, die Infrastruktur für den bevorstehenden Anlass aufzubauen.
"Heute Abend solltet ihr alle hier an der Schule sein; es besteht kein Zwang, aber bei der Einweihung unseres Adventsfensters sollten auch die Oberstüfeler anwesend sein. Die Menschen des Dorfes werden zahlreich erscheinen und ihr könnt mit dem Ausschank der Getränke helfen." Voller Vorfreude informieren die Lehrpersonen ihre Klassen, der Dezemberevent an der Schule ist immer ein großer Erfolg.
Die Fensterfront ist sehr schön geworden. Im zentralen Bild, das die Krippenszene zeigt, hat das Jesuskind eine eher ungewohnte Farbe, wie auch die Maria, sie sind beide dunkelhäutig, aber insgesamt ist die Szene friedlich dargestellt, selbst wenn es scheint, dass Josef nicht dem Kind Luft zu fächert, sondern mit dem Besen den Ochsen vertreibt. Dies hat Besenberger eine säuerliche Miene beschert, aber ändern konnte er es nicht mehr.
Die Jungs tragen, angeleitet durch den Hauswart, die Tische und die Festbänke auf den Kiesplatz vor dem Schulhaus. Eine große Feuerschale und ein Gasgrill stehen schon bereit. Irgendwo im Hintergrund hören sie die Feuerwehr vorüberfahren. "Mann, diese Sirenen werden mir mein Leben lang einen Schrecken einjagen. Immerzu muss ich an Laras Unfall denken", bemerkt Morena zu Stefan, als sie zusammen den Kaffeestand einrichten.
"Ja, ich auch. Das war schon heftig damals, obwohl ich bei Lara war, lange bevor ich die Sirenen und den Hubschrauber gehört habe. Ich kann mir aber vorstellen, wie es euch gehen muss. Ihr hattet keine Ahnung, dass die Sirenen uns gelten."
"Wir sagten noch zueinander 'hoffentlich niemand von uns' - dann aber wussten wir es wenig später, dass es doch für uns galt." In diesem Moment fährt Morena der blanke Schauer ins Gebein. Tanya.
Stefan erschrickt. "Mori, du bist bleich! Was ist mit dir?"
"Sorry, ich muss kurz auf die Toilette", dann flitzt Morena weg, ins Schulhaus.
"Was war denn das? Hast du sie beleidigt?" Rebecca neckt ihren Partner und schlägt ihm die Faust an die Schulter.
"Autsch. Ich habe nichts dergleichen getan. Wir redeten von den Feuerwehrsirenen und von Laras Unfall damals im Wallis. Plötzlich wurde sie bleich und verschwand aufs Klo."
Rebecca starrt Stefan an, dann rennt auch sie los, Morena hinterher. Sie findet ihre Kollegin im Waschraum, sich Wasser ins Gesicht schaufelnd.
"Mori? Was ist los?", fragt Rebecca außer Atem.
"Hast du Tanya heute gesehen?", nuschelt Morena unter dem Wasserstrahl hervor.
"Nein, du weißt, sie ist seit etwa drei Tagen wieder krank. Oh mein Gott - du denkst doch nicht etwa ..."
"Doch, Rebi, genau das denke ich. Ich hoffe, ich liege falsch. Dio Mio! Noch nie in meinem Leben habe ich je dermassen gehofft, falsch zu liegen."
"Soll ich Gabi anrufen?"
"Ja, bitte tu das. Sie soll zu Frau Huber fahren, wenn sie Zeit hat." Morena trocknet sich das Gesicht.
Rebecca wählt Gabis Nummer. "Gabi? Hier Rebecca, du, wir hatten hier einen Feuerwehreinsatz und Mori ... was soll ich? Ah ..." Dann schweigt Rebecca. Sie lauscht Gabis Worten. Sie beendet das Gespräch. Dann umarmt sie Morena und beginnt zu weinen. "Gabi ist bei Frau Huber. Sie haben Tanya gefunden."
***
Stillstand
***
Sie haben Tanya gefunden. Das sind die einzigen Worte, die Morena hört. Sie sitzt mit ihren Kolleginnen und Kollegen im Lehrerzimmer, Frank Besenberger hält eine Rede. Sie hört ihn nicht; sieht ihn gestikulieren, aber hört ihn nicht, als sei er auf stumm geschaltet.
Polizistinnen und Polizisten stehen im Raum - offenbar eine Art Care-Team. Sie haben Tanya gefunden.
"Wir können die Feier nicht absagen; nicht so kurzfristig. Die Kolleginnen und Kollegen aus Niederwil und aus Reinhof, den beiden Partnerschulen, werden übernehmen, das habe ich mit meinen Kollegen aus der Leitung so abgemacht. Wer trotzdem dabei sein will, darf das, aber ich verstehe, wenn ihr das nicht könnt. - Wir werden die Schule schließen; verfrühte Weihnachtsferien. Bitte sorgt noch dafür, dass alle Schülerinnen und Schüler die Adressen des Care-Teams erhalten. Sie sollen sich bei Fragen, egal wann, sofort dort melden; das ist wichtig. Ich übergebe nun das Wort der Polizeipsychologin."
"Hallo zusammen; ich bin Barbara Zeltner. Erreicht ihr noch alle Schülerinnen und Schüler?"
Zustimmendes Nicken, begleitet von einigen Schluchzern.
"Gut. Erzählt ihnen, dass Tanya sich etwas angetan habt. Ihr dürft es ihnen auch sagen. Es werden Fragen auftauchen; diese können wir momentan noch nicht beantworten."
Frag Kägi, das Schwein, und Besenberger, denkt sich Morena. Rebeccas Hand liegt auf ihrer Schulter.
"Einige von euch werden Selbstzweifel haben. Ihr werdet euch fragen, ob ihr etwas hättet spüren können; ob ihr es hättet merken müssen. Das ist normal. Lasst es zu. Wir können in solchen Situationen nichts tun. Aber wir müssen lernen, das zu verstehen; zu akzeptieren. Bitte meldet euch bei mir oder bei eurer Kollegin Gabi, die mit mir zusammen studiert hat. Wir können euch helfen." Sie legt eine kurze Pause ein.
"Wir begrüßen den Entscheid der Schulleitung, die Feier heute Abend nicht abzusagen - für das Dorf und dessen Bevölkerung läuft der Tag in den gewohnten Bahnen. Wir finden es auch richtig, die Schule zu schließen und verfrüht in die Ferien zu gehen - es sind ja nur zwei Tage. Das hindert die Gerüchte an ihrer Entstehung. Die Kinder werden die Erkenntnisse aus der Zeitung lesen und nicht auf dem Pausenareal diskutieren. Denkt daran: Wir sind rund um die Uhr für euch und eure Schülerinnen und Schüler da."
***
Am Abend ist Morena nicht an der Einweihung des Adventsfensters. Sie sitzt mit Salvatore zuhause vor einem Kaminfeuer und trinkt ein Glas Rotwein.
"Weißt du, sie hat Andeutungen gemacht. Versteckt, aber doch verständlich. Gabi und ich, wir haben es gespürt. Wir wollten Handeln. Und wir waren zu spät. Die arme Mutter!"
Salvatore legt etwas Holz nach. "Wenn jemand keinen anderen Ausweg mehr sieht, dann ist man immer zu spät."
"Ja, das stimmt. Doch ich frage mich schon, ob ich nicht hätte mehr tun können."
"Du hast doch schon so viel getan. Die Behörden und eure Schulleitung sind nun mal sehr langsam. Ich glaube, Gabi, Rebecca und du habt so viel versucht; ihr wolltet helfen."
"Und vor lauter Helfen haben wir Tanya übersehen. Sie schickte uns Zeichen; und wir haben sie nicht verstanden."
"Ich denke, Principessa, ihr werdet noch sehr viel tun, damit die Gerechtigkeit wieder einkehrt."
"Darauf kannst du Gift nehmen! Jetzt wird die Verwandtschaft mobilisiert. Wir werden sie erledigen, sie alle! Aber Tanya hilft das nicht mehr - und das macht mich so unglaublich traurig; und wütend. Warum muss immer zuerst so etwas Schreckliches geschehen, bis die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden? Was stimmt mit unserer Welt nicht?"
"Wir Menschen neigen dazu, den Schrecken, der sich anbahnt, auszublenden. Das zeigt die Geschichte, das zeigen die vielen schrecklichen Ereignisse im Laufe der Zeit. Ein Volk sieht, dass sein Herrscher Tod und Schrecken bringen wird, doch es schweigt in der Hoffnung, sich zu irren. Ein Ingenieur merkt, dass die Brücke instabil wird und hofft, sie möge noch einige Jahre halten. Menschen gelten als intelligente Wesen und doch erkennen sie nicht die Situation, in welcher sie sich befinden."
"Du bist schon ein seltsamer CEO, weißt du das?"
"Aber sicher! Welcher andere CEO heiratet schon eine Lehrerin?" Eines der Plätzchen, die Salvatore mit den Kindern gebacken hat, trifft ihn am Kopf. "Hey, die sind zum Essen gedacht, nicht zum Werfen!"
"Dann achte besser auf deine Worte!"
Einige Minuten verstreichen.
"Was machst du nun mit dem Silvester?"
Morena schüttelt den Kopf. "Zu früh für diese Frage. Ich denke, ich werde mich in den Ferien bei meinen stärksten Schülerinnen und Schülern melden und nachfragen, was wir tun wollen. Nach Weihnachten. Dann werden wir entscheiden, was wir tun wollen. Aber jetzt würde ich gerne zuerst Weihnachten feiern; mit unserer Familie. Können wir mit den Kindern spontan wegfahren?"
"Klar. Wohin zieht es dich?"
"Sizilien."
"Sie werden begeistert sein. Ich werde gleich etwas buchen."
"Du bist und bleibst ein Heiliger, Salva! Ich liebe dich."
***
"Würden Sie bitte hier übernachten? Könnten Sie bitte bei mir bleiben?" Frau Huber hat sich in ihrem Krankenhausbett aufrecht hingesetzt. Nachdem sie erwacht ist, hat sich Gabi zu ihr gesetzt.
"Aber sicher, Frau Huber. Das kann ich tun."
"Barbara."
"Wie bitte?"
"Bitte nennen Sie mich Barbara."
"Gabi, freut mich."
"Danke, dass du hier bist, Gabi."
Immer wieder verfällt Frau Huber in heftige Weinkrämpfe. Sie braucht starke Beruhigungsmittel, welche ihr über den Tropf verabreicht werden. Gabi lässt sich ein zweites Bett herrichten; sie kann die leidende Frau nicht allein lassen. Lange nach Frau Huber fallen auch ihr die Augen zu.
Es ist ein weites Feld voller Sonnenblumen. Seltsam niedere Sonnenblumen, denn Gabi schreitet durch sie hindurch und kann mit der Hand auf die Blüten hinunterfassen, streicht darüber. Bienen surren weg, keine einzige davon sticht sie. Nur wenige Schritte vor ihr hüpft Tanya, in einem langen, blauen Kleid. Sie jagt nach Schmetterlingen; sie kichert und lacht. Am Ende des Sonnenblumenfeldes steht eine hölzerne Bank; sie ist aus Wurzelholz geformt, knorrig krumm. Gabi und Tanya setzen sich auf die Bank; Tanya strahlt, im wahrsten Sinne.
"Du konntest es nicht sehen; obwohl du mich gesehen hast; sorry für die kleinen Lügen. Ich danke dir, dass du mich trotzdem begleitest. Siehst du mich hier? Es geht mir gut. Hier sind Schmetterlinge wie du! Bunt, friedlich und voller Leben. Bitte lies den Zettel! Finde den Zettel. Es geht mir gut!"
Dann ist Gabi plötzlich allein auf der Bank, doch die Bank ist aus Stein. Sie steht im Schulhof, neben den Klettergerüsten für die kleinen Kinder. Gabi greift unter die Sitzfläche und spürt einen Zettel, der dort mit Klebeband angebracht worden ist. Sie reißt daran, doch die Wolken und Schmetterlinge formen nur Buchstaben in den blauen Himmel. 'Es geht mir gut', steht in riesigen Lettern vor dem unendlichen Blau.
Schweißgebadet erwacht Gabi mitten in der Nacht aus ihrem Traum. Sie hat Durst und holt sich ein Glas Wasser. Neben ihr schläft Frau Huber in Ruhe. Gabi trinkt Wasser und weint.
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