26. Januar
In den drei Wochen zwischen den Ferien zu Weihnachten sowie Jahreswechsel und den Ferien für Wintersport haben die Schülerinnen und Schüler, zusammen mit den Lehrpersonen, die Ausstellung mit Tanyas Werken geplant. Frau Huber hat vor ihrer Therapie dafür gesorgt, dass Morena und Gabi die Werke abholen konnten.
Nun sieht die Aula der Schule Oberwil wie ein riesiges Atelier aus. Von der Decke baumeln Schmetterlinge in allen Größen, welche die kleinen Schülerinnen und Schüler gebastelt haben. Eine alte Werkbank, die man im Keller des Schulhauses entdeckt hat, steht mitten im kleinen Anbau. Sie dient als Ablage für die Farben und Lösungsmittel, daneben steht die Staffelei, auf welcher man ein hoffnungsvolles Gemälde platziert hat. Einige Bilder stehen an der Wand, andere sind sorgsam aufgehängt und werden von kleinen Spots beleuchtet.
Im Durchgang hängt ein Selbstporträt, das Tanya offenbar erst vor kurzer Zeit gemalt hat. Es zeigt sie fröhlich lachend, auf einer Bank am Waldrand.
Im geräumigeren vorderen Teil der Aula stehen Ausstellungswände auf filigranen Metallfüßen. Daran sind die Texte aufgehängt; teilweise handgeschrieben, teilweise gedruckt und vereinzelt mit computergenerierten Bildern versehen. Ein aktuelles Foto von Tanya und Petra, ein Selfie an der Wyna, hängt am Eingang zur Halle. Darunter ist eine Schiefertafel angebracht und es liegen Kreiden bereit, damit die Besucherinnen und Besucher Worte an Tanya oder Frau Huber darauf schreiben können. Überall am Rand stehen Kerzen bereit, welche abends angezündet werden sollen.
Morena steht mit den Schülerinnen und Schülern zufrieden mitten im Raum. "Meine Lieben! Wir haben hier etwas Einzigartiges geschaffen. Die Kollekte, welche wir von den Besucherinnen und Besuchern sammeln, wird je zur Hälfte an die Jugendfürsorge und an die regionale Bibliothek überwiesen. Danke, Petra, für diese Idee. Wir sind bereit. Hoffen wir, dass möglichst viele Besucherinnen und Besucher kommen werden. Ich weiß, heute ist der letzte Schultag. Doch ich wäre euch dankbar, wenn einige von euch am Sonntagabend Zeit fänden, mir beim Abbau der Ausstellung zu helfen." Sofort schießen viele Hände in die Höhe. Im Hintergrund lachen Stefan und Rebecca.
"Dann lasst uns mal in die Klassenzimmer gehen. Ihr kriegt noch eure Zwischenzeugnisse, dann sind Ferien. Alles, was ihr ab jetzt hier macht, geschieht freiwillig. Wir danken euch, doch wir zwingen euch nicht."
"Ach, Frau Durrer, das ist doch selbstverständlich. Es war auch unsere Idee." Nik spricht wohl im Namen aller, die hier sitzen. Die Jugendlichen stehen auf und folgen ihren Lehrpersonen in die Klassenzimmer.
Als Nik sein Zeugnis betrachtet, freut er sich sehr darüber. Die Noten reichen für einen Wechsel an die höhere Schule. Er hofft, Svenja kann ihm in der Pause ähnlich gute Resultate berichten.
In der Vormittagspause sitzen die Lehrpersonen bei Kaffee und Kuchen im Pausenraum, alle freuen sich auf die bevorstehenden zwei Wochen Ferien, welche das Ende des ersten Semesters anzeigen. Viele von ihnen sind sehr glücklich darüber, dass Kägi weg ist. Er wird nie wieder mit Jugendlichen arbeiten dürfen und die nächsten Jahre in Lenzburg hinter Gittern sitzen. Sein beschlagnahmtes Vermögen wurde Frau Huber überschrieben, als Wiedergutmachung und Schmerzensgeld.
Stefan führt den Gesamtschulleiter von Reinhof herein. "Leute, bitte seid mal ruhig; wir haben hohen Besuch!" Sofort verstummen die Gespräche.
"Ach, so hoch bin ich auch nicht. Hallo zusammen; ich bitte nur kurz um eure Aufmerksamkeit. Euer Schulleiter, Frank Besenberger, hat auf Ende Schuljahr gekündigt. Wir werden uns nun sorgfältig mit der Suche nach einer geeigneten Nachfolge beschäftigen. Falls es interne Interessentinnen oder Interessenten gibt, dürft ihr eure Bewerbung sehr gerne an mich senden. Ebenso bitte ich euch, alle Fragen diesbezüglich an mich zu richten. Frank wird bis zum Sommer euer Leiter bleiben, doch er möchte nicht über seine Gründe sprechen und hat mich beauftragt, die Kommunikation zu führen."
Morena, Rebecca und Gabi tauschen vielsagende Blicke aus; in vielen anderen Gesichtern ist Unverständnis lesbar, Silas nickt gleichgültig und nimmt sich ein Stück Torte.
"Ich erwarte", fährt der Schulleiter fort, "dass ihr Frank weiterhin unterstützt und respektiert. Alle größeren Entscheide, die im kommenden Semester anfallen, muss er mit mir absprechen. Es kann deshalb sein, dass ich ab und zu an euren Sitzungen dabei sein werde - wobei, wenn ich mir das hier so anschaue, kann ich mich darauf freuen."
Nun lachen viele. "Das ist noch gar nichts. Du müsstest einmal hier sein, wenn es Käseplatten, Fleischtafeln, frisches Brot und Wein gibt", ruft eine junge Lehrerin der Unterstufe.
"Und wann ist das?" Der Schulleiter schmunzelt.
"Immer, wenn wir einen Geburtstag, einen Zwischenerfolg oder einfach nur tausend Jahre Dienstag feiern", erklärt Alissia lachend. "Wir unterstützen das lokale Gewerbe: die Metzgerei und die Käserei."
In der Folge stellt niemand Fragen zu Besenbergers Kündigung, wofür der Schulleiter im Stillen dankbar ist. Er lässt sich einen Kaffee bringen und genießt ein Stück Kuchen. Morena, Gabi und Rebecca kennen als einzige die wahren Gründe für Besenbergers Entscheid. Emir und Kristijan haben sie gleich nach den Weihnachtsferien über die Mail informiert, welche sie ihm gesendet haben. Die Frauen sind froh, dass diese Angelegenheit nun zu einem versöhnlichen Ende kommt.
"Tom, wirst du an die Ausstellung zu Ehren Tanyas kommen?", fragt Rebecca den Gesamtschulleiter.
"Ihr habt eine Ausstellung geplant? Davon weiß ich ja gar nichts."
"Nicht nur geplant, wir haben sie realisiert. Es stand in der regionalen Zeitung ..." Morena wirkt leicht irritiert.
"Entschuldige, Morena, das habe ich überlesen. Aber selbstverständlich werde ich da sein. Wenn ihr wollt, werde ich auch gerne etwas sagen."
"Das wird nicht nötig sein, aber danke. Tanyas Freundin Petra wird die Ausstellung eröffnen, Svenja und Mina werden Texte lesen. Aber es ist schön, wenn du dein Gesicht zeigst. Ich denke, viele Menschen werden das schätzen. Frau Kyburz wird auch kommen, wie auch der gesamte Gemeinderat von Oberwil."
"Die regionale und die kantonale Presse haben ihr Interesse bekundet. Das ist eine wichtige Sache", ergänzt Rebecca Morenas Erklärungen.
Der Schulleiter lächelt zufrieden. "Ich werde auf jeden Fall vorbeischauen. Danke, dass ihr mich darauf aufmerksam gemacht habt. Frank hat wohl vergessen, es mir mitzuteilen. Hört mir kurz zu, ihr zwei." Er spricht etwas leiser, Morena und Rebecca lehnen sich näher. "Irgendwann müsst ihr mir erzählen, was hier alles abgelaufen ist. Ich will wissen, was ihr gefunden habt und vor allem wie ihr an diese Informationen herangekommen seid. Nur aus persönlichem Interesse, das verspreche ich euch. Dass Frank sich so entschieden hat, ist gut - ich hätte ihn sonst entlassen. Einfach, damit ihr wisst, dass wir uns verstehen."
"Wir werden dir berichten, aber wir werden keine Namen nennen. Stimmt das für dich?", erklärt Morena deutlich.
"Aber klar. Geht in Ordnung. Ich wünschte, ich hätte mehr Mitarbeiterinnen von eurer Sorte." Damit ist das leise Gespräch beendet. Der Schulleiter verabschiedet sich und verlässt den Pausenraum.
***
Der Schmetterling
Man sagt, man merke erst dann, wenn etwas nicht mehr da sei, wie sehr man es möge. Was für Sachen gilt, kann ebenso gut auf Menschen übertragen werden. Du bist mein Sonnenschein. Wie ein Schmetterling entfaltest du beim ersten Sonnenstrahl deine bunten Flügel, flatterst erst keck in den Morgen hinein und fliegst dann richtig los. Du drehst deine Runden, entdeckst hier eine neue Blüte, die verführerisch nach Nektar riecht oder dort einen Schmetterlingskollegen, welcher dich zu einem Wettfliegen überreden will. Du lebst sorglos und verbreitest gute Laune, wo immer du auch auftauchst. Dich zu kennen, dich täglich zu sehen, macht meinen Tag bunter und fröhlicher. Auf magische Weise überträgt sich deine Lebensfreude auf andere. Dadurch machst du das Leben leichter und gibst großen Sorgen keine Chance. Wann immer ich eine schwere Last zu tragen habe, denke ich an dich. Dein Bild in meinem Kopf hilft mir, die Last nicht so schwer zu nehmen und Belastungen zu ertragen.
Ich möchte mehr von deiner Leichtigkeit haben. Deine Fröhlichkeit ist ansteckend. Sie ist wie ein Parfüm, dessen Duft sich in einem ganzen Raum ausbreiten kann. Bloß, dass dein Duft weit mehr ist als ein simpler Reiz der Nase. Dein Duft ist Stimmung, dein Duft ist Gefühl, dein Duft ist Herz. In deiner Gegenwart kann ich unmöglich schlecht gelaunt oder traurig sein. Wie von einem Zaubertrank wird meine Lebensenergie geweckt und malt meine Seele bunt. So kann ich jeden Tag ganz einfach durchstehen und genießen. Die Tagesmelodie mit dir ist immer in Dur, es werden nur gute Töne verwendet. Die trüben und traurigen Töne der Moll-Welt haben in deiner Gegenwart ausgeklungen und sie verstummen. So tanzen wir durch den Tag, freuen uns an der Sonne, selbst wenn diese durch Wolken verdeckt erscheint, immer im Wissen, dass sie ja trotzdem da ist.
Mein Schmetterling, was betrübt dich? Du wirkst traurig, deine Flügel verlieren an Farbe und Leuchtkraft. Wo ist das kecke Flattern am Morgen? Riechst du den Nektar der Blüten nicht? Er ist immer noch da und wartet darauf, von dir aufgesogen zu werden. Spürst du nicht die Thermik, den schwachen Wind, der dich zu hohen Baumwipfeln trägt und dich mit in die Welt nimmt? Was immer dich dieser Energie beraubt hat, ich will es zerstören. Ich will es zertreten und werde zur Lawine; ich will es wegpusten und werde zum Orkan. Es soll weg von dir, damit du deine Energie wieder entfalten kannst. Erinnere dich an deine eigene Fröhlichkeit, an deinen Schalk. Sei wieder keck, frech und tanze mit dem Wind. Freue dich wieder über alles, was dir begegnet und weine den Scheußlichkeiten der Welt keine Tränen nach. Deine Flügel sind nicht mit Wasserfarbe bemalt, welche durch Tränen oder den Regen, in dem du stehst, weggewaschen werden kann. Du bist farbig, da wird gar nichts trüb werden. Du selbst bist die Farbe, welche andere bemalen darf. Drum denk immer, wenn es dir schlecht geht, an dich selbst. Sehe dich fliegen, sehe dich tanzen und höre dich lachen.
Ich mache das schon lange so - seit ich dich kennenlernen durfte. Durch dich ist meine Welt eine positivere geworden und das wird immer so sein. Du fehlst mir sehr. Aber auch wenn ich dich heute nicht mehr jeden Morgen sehen kann, hilft mir schon allein die Erinnerung an unsere gute Zeit durch meinen Alltag. So wie du mir Fröhlichkeit schenkst, so will ich dir eine Stütze sein, dich halten, dich tragen, wenn der Wind dich zu Boden schlägt. Mein kleiner bunter Schmetterling, entfalte deine gemusterten Flügel. Flieg hinaus in die Welt und verbreite die Fröhlichkeit, welche du in dir trägst.
Nach dem Vorlesen macht Petra eine kurze Pause. Man könnte eine Heftklammer zu Boden fallen hören.
"Diesen Text hat Tanya mir damals geschickt, als wir Freundinnen wurden. Heute weiß ich, dass sie der Schmetterling ist - auf vielen Bildern werden Sie, meine sehr verehrten Besucherinnen und Besucher, Schmetterlinge erkennen. Sie waren Tanyas Lieblingstiere. Ich danke Ihnen für Ihr Interesse an den Gedanken und Gefühlen einer lebensfrohen Jugendlichen, die in unserer Welt keinen Halt finden durfte. Die Bilder stehen nicht zum Verkauf und ich bitte Sie, auch keine Fotos davon zu machen; zeigen wir Respekt. Es ist Tanyas Welt, die Sie hier besuchen dürfen. Ich wünsche Ihnen dabei gute Gedanken und offene Augen. Vielen Dank - die Ausstellung ist somit eröffnet."
Die Ansprache von Petra, welche sie mit zittriger Stimme gemeistert hat, erhält respektvollen Applaus. Danach schlendern die Besucherinnen und Besucher durch die Aula. Im Atelier-Teil dröhnt Tanyas Musik aus Lautsprechern; leiser, als sie es immer aufgedreht hatte, doch für die älteren Besucherinnen und Besucher einen Tick zu laut, wie man an deren Gesichtern erahnen kann. Morena dreht die Musik noch etwas leiser.
Petra hat sehr viel damit zu tun, Bilder oder Texte zu erklären; sie erhält Hilfe von Svenja, Nik und Morena. Die Menschen wollen begreifen, sie wollen verstehen können, warum die Jugendliche sich das Leben genommen hat, auf so tragische Weise.
Dieses Ereignis hat die Menschen des ruhigen Dorfes aufgeschreckt. Plötzlich steht Oberwil im Zentrum der landesweiten Boulevardpresse; zusammen mit der Schule. Experten geben Erklärungen ab, Politiker rufen nach Maßnahmen und die Linke verlangt nach besseren Sozialdiensten. Ein bekanntes Medium erklärt sogar das Jenseits und widerlegt damit die Sichtweise der Landeskirche. Doch alle diese Stimmen werden spätestens dann verstummen, wenn ein neues Ereignis mehr Aufmerksamkeit und höhere Auflagen erreicht.
Prominenteste Abwesende ist Tanyas Mutter. Sie hatte nicht die Kraft, die Ausstellung zu besuchen und zudem hat sie unterdessen ihre Therapie angetreten. Per Videochat zeigt Morena ihr kurz einen Rundgang durch die Räumlichkeiten. "Du siehst, es sind viele Menschen hier, um sich zu verabschieden. - Wie geht es dir, Barbara?"
Unter Tränen bedankt sich Frau Huber für alles, was die Jugendlichen und die Lehrpersonen zusammengestellt haben. Sie bittet Morena darum, einige Aufnahmen zu machen, Momente als Filmchen festzuhalten und ihr später zu schicken.
"Gabi und ich werden dich besuchen, sobald wir das dürfen. Wir wünschen dir viel Kraft und Durchhaltevermögen. Du schaffst das!" Dann verabschiedet sich Morena von Tanyas Mutter und wendet sich wieder den Besucherinnen und Besuchern zu.
"Darf ich einige Aufnahmen machen, für die Zeitung?", fragt der regionale Reporter respektvoll.
"Ja, das darfst du, Michael. Einfach keine Detailaufnahmen von den Bildern, bitte. Wir möchten nicht, dass die Bilder im Internet herumgezeigt werden. Aber vom Raum und von den vielen Besuchern darfst du Fotos machen. Wirst du Rebecca deinen Bericht schicken, bevor du ihn druckst?"
"Aber klar, das mache ich. Danke, Morena. Was ihr hier macht, ist sehr wichtig. Die Ansprache von Petra ging unter die Haut. Ich denke, es ist wichtig für Oberwil, vor allem auch, weil es keine öffentliche Beerdigung gab."
"Vor der Scheune stehen hunderte von Kerzen, Bilder, Kränze und Blumen. Die Menschen nehmen Anteil. Der Besitzer der Scheune, der arme Bauer, pflegt die Blumen und schaut, dass die Kerzen immer brennen. Er will eine Tafel an der Scheune anbringen. Es hat ihn vollkommen aus der Bahn geworfen."
"Ich werde mich wohl auch mit ihm unterhalten, denke ich."
"Da musst du nicht weit - er steht da hinten im Atelier und betrachtet die Bilder. Dort, der Mann mit der Arbeitshose." Morena deutet auf einen älteren Mann in blauer Latzhose und einem karierten Hemd. Er trägt Gummistiefel, in der Hand hält er einen kleinen Blumenstrauß, den er sorgfältig auf der Werkbank arrangiert.
Der Reporter bedankt sich und trottet zum Bauern hin, der mit Tränen in den Augen vor einem Gemälde steht, das seine Scheune zeigt.
Stunden später sind die Menschen wieder gegangen. Die Schiefertafel am Ausgang ist vollgeschrieben. Morena macht einen letzten Rundgang und filmt, was sie sieht. Diesen Film will sie anschließend Tanyas Mutter schicken.
Für die Aufräumarbeiten ist es zu spät. Die Lehrerinnen verabreden mit den freiwilligen Jugendlichen, sich morgen dafür zu treffen. Die Ausstellung war ein gewaltiger Erfolg. Die Spendenschale musste zwischendurch einmal geleert werden. Als letzte verlassen Morena und Petra den Raum; Morena löscht das Licht und schließt das Gebäude ab. Als sie sich draußen kurz umarmen, bedankt sich Petra dafür, dass sie hat teilhaben dürfen.
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