21. August
Während der großen Pause kommt Besenberger ins Lehrerzimmer. Sein Gesicht verrät, dass er etwas Erfreuliches zu berichten hat; seine Krawatte ist zu kurz geknotet und hängt schief.
"Meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen; ich darf euch den neuen Bibliothekaren vorstellen, Werner Kägi. Er hat zuvor schon an diversen anderen Schulen die Bibliotheken betreut und ausgezeichnete Ausweise vorlegen können. Bitte heißt ihn herzlich willkommen." Die Lehrerinnen und Lehrer murmeln durcheinander.
Ein großer, schlanker Mann, eher unsportlich wirkend und fade gekleidet betritt den Raum. Seine Haare sind bereits gelichtet, eine Stirnglatze macht sich breit, was ihn intelligent aussehen lässt. Der Rest an ihm wirkt jedoch eher leicht verwahrlost, doch sein Lächeln ist freundlich.
"Hallo zusammen. Ich bin Werner. Ihr werdet mich kaum jemals sehen, außer wenn ihr mit euren Klassen in die Bibliothek kommt."
"Das werde ich bestimmt tun. Hallo Werner. Ich bin Rebecca und unterrichte Sprachen. Ich bin oft in der Bibliothek."
Der Reihe nach stellen sich auch die anderen vor. Dominic flüstert zu Morena: "Der sieht auch aus wie ein Bücherwurm." Sie verkneift sich ein Lachen zu einem verhaltenen Schmunzeln und stupst ihren Tischnachbarn mit dem Ellenbogen an.
Dann darf nochmals Werner Kägi etwas sagen. "In der Kalenderwoche 36, also in zwei Wochen, werden wir an der Schule eine Literaturwoche veranstalten, wie ihr bereits wisst. Am Freitag in dieser Woche wird es Lesungen geben. Das Programm werden wir gemeinsam noch besprechen können. Für die Kleinen planen wir einen Vorlesenachmittag mit Märchenstunden. Heute möchte ich gerne allen Klassen die Bibliothek zeigen und erklären und mich gleichzeitig allen vorstellen. Ich bitte die Klassenlehrpersonen, sich in der Liste hier einzutragen. Vielen Dank."
***
Die Bibliothek liegt im Nachbardorf. Die Schülerinnen und Schüler fahren mit ihren Mofas oder Fahrrädern hin. Einige sind dabei zu zweit auf einem Fahrrad unterwegs oder lassen sich von einem Jungen mit Mofa ziehen. Einige wenige sind mit E-Scootern angefahren. Kreuz und quer liegen die Fahrzeuge auf dem Pausenplatz, unter einer mächtigen Buche.
Kägi bittet die Klasse herein, im Empfangsraum hat er einen Kreis aus Stühlen bereitgestellt. Die 2b setzt sich brav, ausnahmsweise ohne Streitereien; Morena ist erstaunt, freut sich jedoch darüber.
"Wer von euch kennt die Bibliothek bereits?" Kägi hat sich in den Kreis gesetzt und die Klasse willkommen geheißen. Auf seine Frage hin heben Lorenz und Tanya die Hand. "Dann könnt ihr beide mir etwas helfen; ich habe einen Parcours vorbereitet. Ihr bekommt ein Blatt mit Fragen, die ihr beantworten könnt, wenn ihr euch in der Bibliothek bewegt." Während er spricht, blickt er immer wieder zu Tanya, die genervt den Blick senkt.
Morena hat es sich in einer Lese-Ecke bequem gemacht und liest in einem Buch; einem Abenteuer-Roman, der in Süditalien spielt. Den Autor kennt sie nicht, doch die Geschichte über gestohlene Autos und entführte Frauen gefällt ihr. Sie beschließt, das Buch für ihren Mann auszuleihen.
Zwischen den Regalen drängen sich die Schülerinnen und Schüler auf der Suche nach den richtigen Antworten; die einen sind bemüht, die anderen etwas weniger. "Was hast du bei Frage vier?" - "Gib mir doch bitte deine Antwort für Frage neun." Das sind die Voten, die vorherrschen.
Kägi steht hinter Tanya, sie kann ihn riechen, was für sie heißt, dass er deutlich zu nahe steht. Sie weicht einen Schritt nach rechts und dreht sich um. "Was wollen Sie? Ich komme auch ohne Sie zurecht, wie Sie bestimmt gemerkt haben."
"Aber, aber, warum denn so feindselig? Du kennst dich gut aus hier?"
Besser als du, denkt Tanya, sagt aber nichts. Sie nickt nur. "Bin oft hier", erwähnt sie dann doch, weil das Schweigen peinlich ist.
"Und welches Genre bevorzugst du?" Kägi rückt ihr wieder etwas näher, sie weicht abermals zurück. Sein Aftershave riecht zu süß für ihren Geschmack.
"Fantasy - sonst würde ich wohl kaum hier vor diesem Regal stehen. Hier sind nämlich die Fantasygeschichten."
"Du könntest nachher etwas über den Aufbau der Bibliothek berichten; was meinst du dazu?"
Aus einer anderen Ecke ruft ein Schüler nach Kägi und er dreht sich ab. Tanya atmet auf; etwas weiter den Gang runter rollt eine ihrer Klassenkolleginnen mit den Augen. Tanya nickt nur. Der Typ ist ihr nicht geheuer; zu stark erinnert er sie an jene Nacht, welche sie seit langem aus ihrem Gedächtnis streichen möchte.
Tanya stellt sich zu anderen Mädchen, damit sie nicht mehr allein ist. Das gibt ihr etwas Sicherheit, obwohl sie die Mädchen nicht gut kennt. Sie beteiligt sich nicht an der Diskussion um die Katzenbücher, doch sie erfährt, dass Kägi auch anderen Mädchen unangenehm auffällt. Sie beschließt, von jetzt an weniger oft in die Bibliothek zu gehen und dafür mehr Bücher auf Wattpad zu lesen.
Die Klasse hat nach einer halben Stunde alle Aufgaben gelöst und die Jugendlichen setzen sich wieder in den Kreis. Morena setzt sich dazu. Gespannt lauscht sie den Ergebnissen, sie ist stolz auf ihre Klasse. Vor allem Tanya fällt ihr auf, sie scheint die Regale alle zu kennen und sehr gut über den Aufbau der Bibliothek Bescheid zu wissen. Morena nimmt sich vor, mit dem Mädchen darüber zu reden; über ihr Hobby, über das Lesen und das Schreiben.
***
Die letzte Lektion des Tages, Mathe mit ihrer 2b, ist vorüber. Nik Widmer macht extra langsam, damit er der letzte im Schulzimmer ist.
"Frau Di Agostino, haben Sie kurz Zeit?"
"Aber sicher, Nik, worum geht es denn?"
"Sie waren doch mit uns in der Bibliothek."
"Ja, obwohl das nicht zu meinem Fach gehört. Der neue Bibliothekar wollte sich vorstellen. Warum?"
"Ich habe ein schlechtes Gefühl bei dem Mann. Mit dem stimmt etwas nicht. Er hat etwas Unheimliches an sich."
"Nik, ich fühle mich geehrt, dass du damit zu mir kommst. Aber meinst du nicht, du steigerst dich in etwas hinein? Wir kennen den Mann erst seit heute."
"Ich habe ein gutes Gespür, wenn es um Menschen geht. Ich spüre sie und ich irre mich sehr selten."
Morena lässt diese Selbsteinschätzung unkommentiert stehen. "Was stört dich denn an dem Mann?"
"Haben Sie beobachtet, wie er die Mädchen ansieht? So blicken Erwachsene keine Jugendlichen an. Hier stimmt etwas nicht."
"Hoppla, jetzt müssen wir vorsichtig sein. Das geht in eine falsche Richtung und kann sehr schnell zu übler Nachrede werden. Eine solche Aussage könntest du niemals belegen."
"Das ist richtig. Aber nehmen wir zum Beispiel Sie, Frau Di Agostino, Sie sind auch neu an unserer Schule. Doch zu Ihnen haben alle Schüler und Schülerinnen Vertrauen. Sie sind witzig, klug und haben Humor. Mit Ihnen könnte man sich beim Beachvolley um einen Ball streiten und Sie würden trotzdem nicht die Kontrolle oder den Respekt verlieren. Bei dem Kerl aber, würde ich einen großen Bogen um ihn herum machen; vor allem als Mädchen."
Morena ist bei seinen Worten leicht verlegen geworden. Ihr gefällt die Richtung des Gesprächs nicht. "Nik, ist der Mann einem Mädchen der Klasse zu nahe gekommen?"
"Gesehen habe ich nichts; aber aus der Ersten haben sich einige darüber beschwert, dass er sehr nah bei ihnen stand, als er die Bücher erklärte. Und Tanya habe ich zurückweichen sehen."
"Tanya?" Nun läuten sämtliche Alarmglocken in Morenas Kopf.
"Sie wissen bestimmt, dass Tanya gemobbt wird. Sie ist einfach zu klug für die meisten hier. Sie liest sehr gerne und schreibt Geschichten." Nik blickt dabei zu Boden.
"Wurde sie schon immer gemobbt?"
"Seit ich denken kann. Früher war sie mollig, nicht wirklich dick, aber halt unsportlich. Mit der Brille und der Zahnspange haben dann die Sprüche angefangen."
"Und weil sie gerne liest, ist sie viel in der Bibliothek."
"Ja. Ihr hat der Kägi nichts erklären müssen. Sie wusste besser Bescheid, wo man welche Art Bücher findet als er. Da hat er sie doch zu einer Art 'Team-Teacher' gemacht. Da ist sie dann eben zurückgewichen."
"Du magst sie, habe ich recht?", fragt Morena.
"Ja, ich mag sie. Aber das habe ich ihr noch nie gesagt. Sie ist sehr intelligent und hat wunderschöne Augen, die sie hinter dieser hässlichen Brille versteckt."
"Ich danke dir für deine ehrlichen Worte. Ich werde mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen austauschen und ihnen von deinen Befürchtungen berichten."
"Aber bitte ohne Namen, wenn es geht. Ich möchte nicht als Petze und Weichei dastehen. Danke, dass Sie mir zugehört haben."
Nick nimmt seine Tasche und verlässt das Zimmer. Morena greift zur Akte, welche noch immer hinter ihrem Tisch liegt. Sie öffnet den Ordner und schaut sich die alten Bilder des spindeldürren Mädchens an. Tatsächlich war sie noch vor wenigen Jahren eher mollig.
"Ojeh, das arme Ding. Da habe ich etwas zu tun", flüstert sie zu sich selbst. Sie setzt sich an ihren Computer und schreibt Gabi eine Mail.
"Betreff: TH
Gabi, bitte kannst du sehr bald mal zu mir ins Klassenzimmer kommen und Tanya im Unterricht beobachten? Ich würde mich gern mit dir über sie austauschen. LG Mori"
Wenige Minuten nachdem die Mail gesendet wurde, klopft es am Türrahmen. Gabi.
"Du bist aber schnell, alle Achtung."
"Soll ich die Tür schließen?"
"Ja, das wäre wohl besser, denke ich."
"Tanya. Habe mich schon gewundert, wann du damit zu mir kommst. Ich wollte aber nicht proaktiv wirken, ihr eine Chance geben." Gabi setzt sich auf den Hocker, den sie zum Lehrerpult gezogen hat.
"Was kannst du mir sagen?", fragt Morena.
"Was wir in den Sitzungen besprochen haben, darf ich dir nicht sagen. Ich stehe unter Schweigepflicht. Ich kann dir jedoch sagen, dass ich ihrer Mutter strengstens empfohlen habe, für Tanya eine medizinische Betreuung zu organisieren. Ich habe Frau Huber gar angeboten, das für sie zu übernehmen. Die Kosten würden vom Kanton getragen. Frau Huber hat abgelehnt."
"Was ist das für eine Frau?"
"Starke Alkoholikerin. Sie hat den Job verloren und ihr Mann ist mit einem anderen Mann davon; ihrem Bruder, glaube ich. Die Frau kriegt nichts mehr auf die Reihe, lebt von der Sozialhilfe. Das ist eine ganz traurige Geschichte. Frau Huber müsste selbst eine Therapie machen, doch das will sie nicht."
"Wow. Und Tanya?"
"Wird seit dem Kindergarten gemobbt. Mal sind es die Kleider, mal die Frisur, mal die Brille. Bevor sie so stark abgenommen hat, wurde sie als Fettkugel beschimpft. Heute wissen wir, dass sie an Bulimie leidet, aber wir können nichts dagegen tun."
"Weil die Mutter es nicht will, richtig?"
"Genau deswegen. Frau Huber sagt, das Mädchen soll sich nicht so zieren. Sie habe selbst viel die größeren Probleme und das Kind sei alt genug, für sich selbst zu sorgen. - Hat sie die Anmeldung für den Ausflug abgegeben?"
"Nein, bisher nicht. Soll ich sie darauf ansprechen?"
"Sie wird nicht mitkommen wollen. Wir können gerne versuchen, dass ich sie wieder regelmäßig zu mir nehme."
Morena schaut Gabi fragend an. "Du bist nicht bloß Soz-Päd, habe ich recht?"
"Promovierte Psychologin mit eidgenössischem Doktorat, spezialisiert auf Jugendpsychologie, Anrecht auf einen Doktortitel, den ich jedoch nie erwähne - schuldig." Sie grinst ihre Gesprächspartnerin an.
Morena sitzt mit offenem Mund da. "Was machst du in diesem Bauerndorf?"
"Mich um die Jugendlichen sorgen, wie du auch."
"Aber du könntest eine eigene Praxis führen und das in Aarau oder Bern."
"Und dabei was werden? Reich? Das Geld ist nicht wichtig - das Leben zählt, meine Liebe. Und wenn wir schon davon reden: Du hast den Doktortitel in Angewandter Mathematik. Also erzähle mir hier nichts von Überqualifikation, okay?"
Morena lacht. "Niemand weiß das."
"Und niemand wird es erfahren - Schweigepflicht, schon vergessen?" Gabi zeigt auf sich wie Maui im Animationsfilm "Vaiana", als er sich Sharkhead nennt.
Morena muss schallend lachen, weil sie die Szene kennt. "Danke, dass du mir mit Tanya hilfst, Gabi."
"Wir helfen ihr beide. Hoffen wir, dass wir sie erreichen. Schön, dich im Boot zu haben, Mori."
Zum Abschied umarmen sie sich kurz. Morena geht deutlich ruhiger nachhause, als dass sie es nach dem Gespräch mit Nik getan hätte.
***
Ihre Finger fliegen über die Tastatur. Die Buchstaben reihen sich schnell und fehlerlos aneinander. Aus den Buchstaben formen sich Worte, die nach und nach zu einem Text zusammenfließen.
Tanya hört immer laute Musik, wenn sie schreibt. Je nach Stimmung ist die Musik härter oder ruhiger. Momentan schmettert Death-Metal aus den Boxen. Sie braucht das, es ist ihre Art, den Alltag zu verarbeiten.
Am Ende des Textes angelangt, überfliegt sie die Zeilen nochmals. Sie stellt sich ans offene Fenster und raucht eine Zigarette, das beruhigt sie. Dieser Typ in der Bibliothek hat sie bis nachhause verfolgt; nicht in Wirklichkeit, aber in Gedanken. Die Gedanken waren so real, sie konnte sein Eau de Cologne riechen. Deshalb der Text; abwaschen, löschen.
Nach der Zigarette drückt Tanya auf "Veröffentlichen". Sie rechnet nicht mit vielen Kommentaren, denn sie hat sich mit ihrem Zweitaccount eingeloggt. Dem Account für alles Schwarze; dem Ort, wo sie die Dinge sagen kann, die niemanden etwas angehen und dennoch raus müssen. Nicht einmal Pitsch kennt diesen Account. Blacksugarbaby, nennt sie sich, in Anspielung an ihre verkohlte Seele und ihr zuckersüßes Aussehen.
Ihre Texte tragen Titel, die nur aus einem Wort bestehen. Trauer, Hoffnung, Zerstörung, Erlösung, Abschied, Idioten, Warum, Darum. Alle Texte sind in einem einzigen Buch gesammelt. Der Deckel ist schwarz und in grauen Lettern steht "Black Stories" auf dem Cover. Ihr Pseudonym steht in hübschem Pink darunter, klein und dennoch leuchtend, darauf hoffend, dass vielleicht doch irgendwer das Buch findet und liest.
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