Prolog & Kapitel 1
Prolog
Charlie's Schritte hallen lautlos über den nebligen Waldboden, und erst jetzt fällt ihm auf, dass er sich von seiner Schulgruppe getrennt hatte. Verdammte Scheiße, denkt er sich. Ich bin sowas von ausgeliefert, wenn jetzt etwas passiert, ist niemand da, um mir zu helfen. Charlie läuft unbeirrt weiter in der Hoffnung, seiner Gruppe doch noch über den Weg zu laufen, doch leider hat er sie komplett aus den Augen verloren.
Er hört leises Rascheln in seiner Nähe und beschließt, stehen zu bleiben. Ängstlich sucht er nach seinem Handy in seiner Jackentasche. Nachdem er es gefunden hat, versucht er, einen seiner Mitschüler zu erreichen. „Ihr Gesprächspartner ist derzeit nicht erreichbar, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Piep." Verdammte Scheiße. Verzweifelt tritt er gegen einen Ast, sodass er kaputtbricht. Kurz darauf hört er ein zweites Knacken. Sein Herz rast vor Angst und er weiß nicht, was er tun soll, außer sich umzuschauen. „Stella? Frau Walker?" Jedoch kommt keine Antwort. „Wer auch immer mir einen Streich spielt, legt sich mit dem Falschen an!" Mutig geht er in Kampfposition, denn er ist nicht bereit aufzugeben, niemals. Er spürt eine kalte Hand auf seiner rechten Schulter und er dreht sich verschreckt um.
Stella Wittmann:
„Es wird alles gut werden, Stella, du brauchst dir nicht den Kopf darüber zu zerbrechen." Doch was, wenn ich nicht akzeptiert werde und was, wenn ich Heimweh bekomme? Ein ganzes Jahr werde ich weit weg von zu Hause sein.
Die Angst schnürt mir die Kehle zu. Ängstlich bleibe ich stehen und suche Halt in den Augen meiner Mami.
Sanft legt sie mir eine Hand auf die Schulter. „Es ist verständlich, dass du Angst vor der Reise hast, aber weißt du, eine gute Freundin von mir namens Avery Walker wird für dich da sein, während du in Kanada bist." Doch was ist, wenn diese Frau Walker eine gemeine Zicke ist und nur aus Höflichkeit mitkommt? Es könnte auch sein, dass wir uns überhaupt nicht verstehen.
Erschöpft senke ich meine schwergewordenen Augenlider. Wochenlang habe ich mich nur mit dem bevorstehenden Austauschjahr beschäftigt. Angespannt halte ich Ausschau nach der versprochenen Frau. Wo ist sie? Langsam verliere ich den Glauben daran, dass tatsächlich jemand aus Kanada am Flughafen auf mich wartet.
"Sie ist noch nicht hier, aber wir werden im Warteraum bald auf sie treffen." Wie schafft sie es, meine Gedanken zu lesen? Ja, du bist meine Mami, aber manchmal frage ich mich, wie du mich so mühelos verstehen kannst.
"Du schaffst das, Stella. Daran zweifle ich keine Sekunde. Zwar werde ich nicht rund um die Uhr bei dir sein, wenn du auf dem Internat bist, und dir über die Schulter schauen, aber ich bin nur einen Anruf von dir entfernt."
"Dank dir!" hauche ich zittrig. "Wofür?" "Na ja, dass du für mich da bist und mich unterstützt." "Ach, Liebes, dafür bin ich doch da!"
Vor einigen Monaten habe ich mich dazu bereit erklärt, einen Schüleraustausch zu machen. Dank meiner Klassenlehrerin habe ich schnell einen Platz auf einem Internat in Kanada bekommen, aber irgendwie bereue ich es jetzt. Am liebsten wäre ich in meinem Bett, mit einem spannenden Buch und einer Packung Schokolade auf meinem Schoß. Jetzt gibt es leider kein Zurück mehr.
„Können wir einen Blick in deine Reiseunterlagen werfen?" „Ja klar, warte kurz." Ich wühle in meinem Rucksack nach den Unterlagen, aber ich kann sie einfach nicht finden. Wo sind diese blöden Unterlagen? Es ist unmöglich, dass sie im letzten Moment verschwinden. Verzweifelt schaue ich hoch, und meine Stimme klingt beim Sprechen etwas panisch.
„Ich kann meine Unterlagen nicht finden, was soll ich bloß tun?" Panisch lasse ich meinen Rucksack fallen, der mit einem dumpfen Aufschlag zu Boden fällt. „Lass mich schauen, das kann nicht sein, dass der in deinem Rucksack nicht zu finden ist."
Meine Mami hebt seelenruhig den Rucksack vom Boden auf und durchsucht ihn sehr gründlich, viel gründlicher, als ich ihn gerade eben durchsucht habe.
„Na bitte, hier sind die Unterlagen." Staunend über ihre Aussage senke ich beschämt den Kopf. „Kopf hoch, Stella. Du hast ja deine Unterlagen nicht verloren." „Aber ich dachte, dass die darin nicht zu finden sind." Das ist nicht fair, warum sind Mütter immer besser darin.
„Es ist immer hilfreich, wenn jemand anders nach den Unterlagen schaut. Lass mich mal sehen, welches Flugzeug du nehmen musst. Hier steht groß: Abflug von Hamburg nach Kanada um 11:30."
Sie schaut von den Unterlagen herunter und wirft einen prüfenden Blick auf ihre Uhr. „Wir haben noch genügend Zeit, es ist erst 9:00 Uhr." Mein Blick huscht zu einem der vielen Monitore an der Wand. „Schau mal nach oben, da hängen die Monitore an der Wand. Meine Freundin Lia hat mir das erzählt, sie meinte, dass man darauf sehen kann, welches Flugzeug man braucht." Mit Lia bin ich seit dem Kindergarten befreundet, sie ist wirklich schlau für ihre elf Jahre.
„Da hat sich deine Freundin Lia ja für dich schlau gemacht. Auf den Unterlagen steht, dass wir das Flugzeug YVR nehmen müssen." Dass meine Mami ein großer Fan von Lia ist, ist mir schmerzhaft bewusst. Schwer atmend versuche ich, meinen verletzten Gesichtsausdruck zu verbergen. Glücklicherweise bin ich bald weit genug weg, um ihre Schwärmerei für Lia nicht mehr ertragen zu müssen. Konzentriert durchsuche ich die vielen aufgelisteten Flugzeuge, bis ich meins gefunden habe.
„Da ist mein Flugzeug aufgelistet, und es ist YVR. Der Abflug ist genau um 11:30 Uhr, wie es in meinen Unterlagen steht." „Kannst du mir auch sagen, welchen Check-in-Schalter wir brauchen?" Meine Augen richten sich auf den Buchstaben C, der direkt neben der Abfahrtszeit zu sehen ist.
„Wir müssen zum Check-in C, dort geben wir meinen Koffer ab, stimmt's?" Ich sehe ihr Lächeln, als sie fortfährt. „Das hast du richtig erkannt, Lia hat dir diese Information sicher auch gegeben, oder?" Lia, Lia, Lia und wieder Lia. Versteht sie denn nicht, wie sehr sie mich verletzt?
——————
„Ja, das hat sie. Gestern Abend haben wir noch stundenlang telefoniert, und sie hat mir alles haargenau erklärt, bis ich es gerafft habe." Antworte ich ihr mit einem gespielten Lächeln im Gesicht.
„Du hast so Glück, Lia als Freundin zu haben, Stella. Schau mal etwas weiter unten stehen die Check-in-Buchstaben einzeln in Blau orientiert aufgelistet. Gehen wir dahin, um dich einchecken zu lassen. Danach müssen wir zur Sicherheitskontrolle, damit sie dich abtasten können. Es soll ja niemand irgendwelche Drogen mit ins Flugzeug schmuggeln."
Eine Ewigkeit später, nach allem, was ich über mich ergehen lassen habe, werde ich ruhiger. Am unangenehmsten fand ich die Sicherheitskontrolle, wo sie mich abtasteten, um nach Verbotenem zu suchen. In dichter Nähe der Fremden fühlte ich mich verdächtig und begann, mir Gedanken darüber zu machen, ob ich tatsächlich eine Waffe und Pillen in meiner Jackentasche versteckt hielt.
„Du hast das wirklich gut gemacht, Stella. Ich bin sehr stolz auf dich. Viele in deinem Alter hätten schon die Geduld verloren. Setzen wir uns dort drüben zu den Sitzen im Wartebereich. Dort wirst du auch von meiner Freundin abgeholt, die dich nach Vancouver begleiten wird." Sei etwas großzügiger mit deiner Mami, Stella. Vielleicht merkt sie nicht, wie sehr sie von deiner Freundin schwärmt. Meine innere Stimme meldet sich, aber ich ignoriere sie kalt. Vielleicht fällt es ihr nicht auf? Das glaube ich nicht, denn ihr entgeht wenig. Wütend stapfe ich neben ihr her, bis wir im Warteraum ankommen.
Nach dem Hinsetzen spüre ich Hunger, da ich noch nicht gefrühstückt habe. Vati hat den Koffer ins Auto gepackt, und meine Mutter und ich sind ohne Frühstück ins Auto gestiegen. Ich bereue, nichts Essbares mitgenommen zu haben.
»Mami?«
»Ja?«
»Wir haben heute Morgen noch nichts gefrühstückt. Hast du vielleicht etwas zu essen dabei?«
Obwohl sie keinen Rucksack hat, kann ich mir vorstellen, dass sie etwas Essbares dabei hat. Sie verlässt das Haus selten ohne Proviant, wenn wir unterwegs sind. Um meine innere Wut zu zügeln, atme ich tief ein und aus.
Meine Mami zieht ihre dünne Herbstjacke aus, durchsucht kurz darauf ihre Jackentasche und zieht wenig später einen Energieriegel heraus. Sie drückt ihn mir in die Hand. Ja, essen! Darauf habe ich gewartet.
Ungeduldig reiße ich die Verpackung auf, beiße in den Riegel mit Vollmilchschokolade, und statt Süße erlebe ich Papier mit einem Hauch Erdnuss. Jeder Bissen wird zum Brei mit Papier-Nachgeschmack.
»Was hast du?«, fragend zieht sie eine Augenbraue in die Höhe.
»Dieser Riegel schmeckt nach Papier.«
»Stell dich nicht an. Iss den einfach. Die Kinder in Afrika haben nichts zu essen, und du beschwerst dich, dass der Riegel nach Papier schmeckt?«
Ungläubig schaut sie mich an, während ich mir ihre Wörter auf der Zunge zergehen lasse.
Irgendwie ist da etwas dran. Ohne ihr eine Antwort zu geben, würg ich den Rest meines Riegels in mich hinein.
»War doch nicht so schlimm, oder?«, fragt sie mich, nachdem ich ihn komplett aufgegessen habe. »Nein,« erwidere ich daraufhin.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro